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# taz.de -- „Hereroland“ am Thalia-Theater Hamburg: Eintauchen ins Drama
> „Hereroland“ schickt die Besucher_innen auf einem Parcours mit 19
> Stationen durchs Theater. Es geht um deutsche Kolonialvergangenheit.
Bild: Blick auf eine Station von „Hereroland“
Staubtrocken knirscht der Sand unter den Schuhen in der stockdunklen Hütte.
Aus den Kopfhörern dringt schweres Atmen. Unvermittelt blitzt ein Licht
auf, geführt von einer Person, die sich geisterhaft durch den kleinen Raum
bewegt. Nach exakt fünf Minuten ist der Spuk vorbei und die Zuschauer
werden aus der klaustrophobischen Umgebung entlassen.
Die dunkle Hütte, das ist „Waterberg Innen“, die zehnte Station auf meinem
persönlichen Parcours Nummer „030“ durch das Stück „Hereroland“. Die
Produktion schickt die Zuschauer auf einem vorgegebenen Weg durch den Saal
des Hamburger Thalia Theaters in der Gaußstraße.
Der Parcours besteht aus 19 verschiedenen Stationen und 116 Möglichkeiten,
diese abzulaufen. Am Eingang erhalten die Besucher ihre individuelle Karte,
die sie durch den Abend leiten wird. Niemand wird am Ende alle Stationen
gesehen haben. So ist das Erleben des Abends für alle Besucher ein anderes.
Mit dem Parcours sucht Gernot Grünewald als einer der beiden Regisseure
seine Wahrnehmung des Völkermords an den Herero und der namibisch-deutschen
Kolonialvergangenheit einzufangen. Im Jahr 1904 hatten deutsche
Kolonialtruppen unter General Lothar von Trotha nach den Gefechten am
namibischen Waterberg die fliehenden Herero in die Wüste getrieben und die
Wasserstellen abgeriegelt. Geschätzte 70 Prozent der Herero-Bevölkerung
sind dabei erschossen worden oder elendig verdurstet.
## Ganz verschiedene Perspektiven
Die Bewertung der historischen Ereignisse, die heute von den meisten
Historikern als Genozid bezeichnet werden, bleibt zumindest in Teilen der
deutschen und namibischen Bevölkerung umstritten. Grünewald, der in Namibia
auch den Kontakt zu den deutschsprachigen Nachfahren der Täter gesucht hat,
wollte auch deren Perspektive auf die Bühne bringen: „Die einzige
Möglichkeit, mit diesen verschiedenen Perspektiven umzugehen“, so
Grünewald, „war es für mich, sie alle zugleich auf die Bühne zu bringen.“
Als Vertreter des Dokumentartheaters gibt Grünewald den Zuschauern die
Möglichkeit, auf dem Weg durch den Theatersaal ihre jeweils eigene Wahrheit
zusammenzufügen. Dabei geht die kurze Verweildauer an den Stationen
manchmal auf Kosten der Figuren, die dann holzschnittartig und allzu
karikiert wirken. So wie der deutsche Farmer, an dessen Tisch sich die
Zuschauer versammeln, um sich von den „Großtaten“ der Deutschen erzählen …
lassen, die Namibia erst entwickelt hätten.
Einen anderen Zugang wählt der zweite Regisseur des Abends, David Ndjavera.
Der mehrfach ausgezeichnete namibische Schauspieler und Regisseur ist seit
dreißig Jahren im Geschäft. Ndjavera hatte Grünewald 2016 kennengelernt,
als dieser für seine Produktion „Oshi-Deutsch“ nach Namibia gekommen war.
Ndjavera stellt ein linear erzähltes Stück im Stück in die Mitte des
Raumes. Die in sechs Episoden aufgeteilte Erzählung gibt dem Abend Struktur
und den Besuchern immer wieder die Möglichkeit, sich von den einzelnen
Stationen zu lösen und gemeinsam dem zentralen Geschehen beizuwohnen.
Gezeigt wird das namibisch-deutsche Ensemble hier beim Einüben einer
Gerichtsverhandlung, in der den Deutschen der Prozess gemacht wird.
## Zentrale Forderung nach Land
Dabei ist eine zentrale Forderung, die im Laufe des Abends immer wieder zu
hören sein wird, die nach dem Zugang zu Land. Eben jenem Farmland im
historischen Kerngebiet der Herero, das heute von weißen, oft
deutschstämmigen Farmern bewirtschaftet wird. Ndjavera selbst formuliert
das gemäßigt: „Wir haben keinen Krieg mit den Deutschen. Wir haben nur dort
ein Problem, wo wir nicht unsere normale Lebensweise weiter führen können.
Denn wir leben vom Vieh und das Vieh lebt vom Land.“
Trotz der Verhandlung des Völkermords und der in Namibia brodelnden
Landfrage ist „Hereroland“ kein anklagendes Stück. So setzt es sich
wohltuend von Nuran David Calis’ 2019er-Produktion „Herero_Nama“ am
Schauspiel Köln ab. Statt auf schmerzvolle Selbstbefragung der Deutschen
als Täternachfahren setzt „Hereroland“ auf intime Begegnungen und formal
abwechslungsreiche Zugänge, die den zweistündigen Abend im Flug vergehen
lassen.
Wer etwa in der Station „Kindergarten“ zusammen mit lediglich sechs anderen
Zuschauern den Erzählungen der namibischen Erzieherin im leuchtenden
Hererokleid gelauscht hat, wird das so schnell nicht wieder vergessen.
23 Jan 2020
## AUTOREN
Fabian Lehmann
## TAGS
Thalia-Theater
Deutscher Kolonialismus
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Tanz im August
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