| # taz.de -- Berliner Festival „Tanz im August“: Mehr geistige Gymnastik | |
| > In Berlin ist das Festival „Tanz im August“ zu Ende gegangen. Es war | |
| > virtuos und kulinarisch, aber es genügt sich und seinen Konsument*innen | |
| > selbst. | |
| Bild: Besinnung auf repräsentative und kulinarische Theaterformen: Das kommt g… | |
| Ein Kollege, der für eine andere Zeitung schreibt, kam Ende Juli ziemlich | |
| enttäuscht vom Festival d’Avignon zurück. Er fühlte sich abgeschafft. Die | |
| Stücke seien alle partizipativ gewesen. Schließlich gilt das | |
| journalistische Ethos: beobachten, nicht eingreifen. Wenn nun aber das | |
| Theaterstück nur funktioniert, wenn wir mitmachen, lässt sich das so nicht | |
| aufrecht erhalten. Diese Feststellung ist zwar nicht neu, und die Kritik | |
| hat sich bislang ganz gut damit arrangiert, wenn sie ohne vierte Wand | |
| agieren musste. Aber dass überhaupt mal ein Kollege die Konventionen, die | |
| er als Arbeitshypothese gebraucht, zum Thema macht, kommt selten genug vor. | |
| Offenbar gab es dafür, über die Ästhetik des Festivals d’Avignon hinaus, | |
| einen weiteren Anlass: das Erscheinen des Buchs „Postcritique“ (2019), | |
| herausgegeben von Laurent de Sutter, das in Frankreich jetzt alle lesen | |
| würden. Die Schlussfolgerung, die der Kollege daraus – zumindest aus der | |
| einseitigen „Ouverture“, die er zitiert – zieht, erstaunt: Das „immersi… | |
| Mitmachtheater“ ist schuld daran, dass er als Kritiker sich nicht neu | |
| erfinden könne, denn das scheint nur mit einem „Theater des zuschauenden | |
| Mitfühlens und Mitdenkens“ zu gehen. | |
| Aus Anlass der jüngsten Ausgabe des internationalen Berliner Festivals Tanz | |
| im August möchte ich das Gegenteil behaupten: Das postdramatische, | |
| immersive, partizipative Theater ist eine wichtige Bedingung, um ein | |
| postkritisches (Selbst-)Verständnis überhaupt zu entwickeln. Das ist | |
| notwendig, auch für den Journalismus. | |
| Dabei ist erst einmal zu klären, was mit Postkritik überhaupt gemeint ist. | |
| Zunächst: Die Kritik abzuschaffen ist weder eine formulierte | |
| Absichtserklärung des Theaters noch der genannten Essaysammlung – und so | |
| unwahrscheinlich wie die Abschaffung des Internets durch eine | |
| Post-Internet-Ästhetik. Vielmehr geht es um die Notwendigkeit einer Kritik | |
| der Kritik. Um, wie de Sutter es nennt, eine Kritik am „Triumph des | |
| Gedankens über das, was er denkt“ . Es geht um ein bisschen geistige | |
| Gymnastik, darum, zwischen verschiedenen Rezeptionszuständen wechseln zu | |
| können. Um Ausschlusskriterien, um postkoloniale Sichtweisen auf | |
| europäische Kritikgeschichte. | |
| Es geht außerdem darum, wie der Philosoph Tristan Garcia im abschließenden | |
| Beitrag kategorisiert, über „partikulare Bedingungen“ (Gender, sexuelle | |
| Orientierung, Klasse, race) im Verhältnis zu „singulären“ und „universe… | |
| Bedingungen“ nachzudenken, allerdings unter der Prämisse, in der Kritik | |
| eine „Möglichkeit des Geistes“ und nicht seine Bedingung zu sehen. All das | |
| sind Beispiele für Positionen, die andeuten: Angewandte Postkritik könnte | |
| für experimentellere, suchendere, vielstimmigere Texte stehen, nicht für | |
| ihr Ende. | |
| ## Sich im HipHop-Stil „f!cken“ lassen | |
| Mit der Sehnsucht nach einem „Theater des zuschauenden Mitfühlens“ wäre d… | |
| Kollege jedoch bei der diesjährigen Ausgabe des Berliner Festivals Tanz im | |
| August – etwa 20 Jahre nach dem Einzug von Tino Sehgals theaterkritischer | |
| Choreografie ins Museum – genau richtig gewesen. Erstaunlich, wie sich ein | |
| Festival, das sich immer noch für Deutschlands wichtigstes zeitgenössisches | |
| Tanzfestival hält, so stark auf repräsentative und kulinarische | |
| Theaterformen besinnt. Und erstaunlich, wie gut das ankommt. Virtuosität in | |
| der Tanz- und Körpersprache, und schon findet das bürgerliche Publikum, | |
| dass sich der Ausflug ins Theater gelohnt hat. | |
| Dass dieses Kuratieren von Virve Sutinen durchaus im vollen Bewusstsein für | |
| das andere Spektrum der Kunstlandschaft geschieht, vom Kollegen „immersives | |
| Mitmachtheater“ genannt, zeigt sich jedoch an der Setzung einer scheinbar | |
| deutlichen Gegenposition: Nora Chipaumires [1][„#PUNK 100% POP *N!GGA“.] | |
| Orientierungslosigkeit ist in dieser von DJ-Sets und Boxentürmen | |
| installativ eingefassten Punk-Reggae-African-Folk-Soundlandschaft | |
| programmiert, schon allein in Bezug auf den eigenen Standpunkt: | |
| Wir werden gleichzeitig zum Mittanzen animiert und als „mehrheitlich weißes | |
| Publikum“ verhöhnt – sei es durch Slangs und Bässe abgemixte | |
| Unverständlichkeit der Ansagen oder durch die Messages, die dann doch hier | |
| und dort herausfilterbar sind, zumindest mithilfe Besserverstehender: „You | |
| got to write the books, you intelligent people.“ Exklusion und Inklusion | |
| scheinen hier gleichzeitige Möglichkeiten; sich auszuliefern an | |
| Erniedrigungsgesten, sich im HipHop-Stil „f!cken“ zu lassen genauso wie mit | |
| der coolsten Variante von „clap your hands“ zu trumpfen oder sich | |
| spielverderbermäßig ganz zu verschließen und als Klischee des weißen | |
| Europäers steif an den Rand zu verdrücken. | |
| „You got to write the books, you intelligent people“, heißt natürlich: | |
| Lasst es! Wir pfeifen auf eure Deutungshoheit! Und so ist die zur Show | |
| gestellte Haltung des hier ausnahmsweise größtenteils diskursiv und queer | |
| orientierten Mitmachpublikums: Solidarität. Empathie. Lachen übers | |
| Verlachtwerden. Oder Mitläufertum? Die Reue über die koloniale | |
| Vergangenheit am Beugen vor „afrikanischem“ Zynismus abarbeiten? | |
| ## Die Zukunft war schon mal näher | |
| In den Pausen kommen Gespräche auf: Will ich diejenige sein, zu der das | |
| Stück/die Menge mich macht? Und wie sind die unterschiedlichen Zustände, | |
| der empathische und der kritische, in ein Verhältnis zu bringen, ohne sich | |
| für einen zu entscheiden? Die Choreografin Lea Pischke, deren Erfahrungen | |
| und Formulierungen ich hier teilweise einbeziehe, tanzt letztlich mit, ich | |
| steige aus, weil ich im dritten Teil nicht weiß, wie ich zu den | |
| N*****-Ansagen stehen soll – nicht ohne Bedauern, die Tanzlust zu opfern. | |
| Die Kritiker*in (als Figur) kann eben auch nur eine Version ihrer | |
| Möglichkeiten verkörpern, nicht objektiv, sondern subjektiv, nicht | |
| unabhängig, sondern schon immer hochgradig abhängig. Selbstbeobachtung oder | |
| ein Offenlegen der Bewertungsmaßstäbe sind Strategien, die daher in den | |
| letzten Jahren notwendig in den journalistischen Stil eingeflossen sind. | |
| Ein restauratives Theater wie in diesem Jahr bei Tanz im August, in dem es | |
| hauptsächlich darum geht, sich im Zwangskollektiv sozialer Kontrolle davon | |
| zu vergewissern, dass die bürgerlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts | |
| noch funktionieren, die Machtverhältnisse manifestiert werden, ist kein | |
| Theater, das Rezeptionshaltungen herausfordert. Während Nora Chipaumire | |
| diesen Theaterbegriff letztlich vorführt, zeigte das Festival 29 (von 31) | |
| Produktionen, die ihn zelebrieren und aus Ländern kommen, in denen das | |
| bürgerlich-europäische Theaterverständnis andere Formen | |
| künstlerisch-ritualisierter Teilhabe weitgehend ersetzt hat: aus Europa, | |
| Australien, den USA, Korea, Japan. | |
| Es ist nicht verwerflich, einen schön auf halber Spitze getanzten Abend zum | |
| 100. Geburtstag von Merce Cunningham zu feiern, nichts falsch daran, das | |
| ätherische Pathos der Bewegungen [2][Isadora Duncans] zu reimaginieren. Nur | |
| genügt dieses Theater sich und seinen Konsument*innen selbst. Es mit einer | |
| einzigen Gegenposition zu flankieren, wirkt fast nach Ablasshandel. Der | |
| Tanz war Form- und Stilexperimenten schon einmal näher, die Herausforderung | |
| schon einmal größer, die Zukunft schon einmal näher. | |
| 3 Sep 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://vimeo.com/257087773 | |
| [2] /Festival-Tanz-im-August/!5616200 | |
| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
| ## TAGS | |
| Tanz im August | |
| Tanz | |
| HipHop | |
| interaktiv | |
| Thalia-Theater | |
| Dokumentarfilm | |
| Tanz | |
| Tanz im August | |
| Pina Bausch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Hereroland“ am Thalia-Theater Hamburg: Eintauchen ins Drama | |
| „Hereroland“ schickt die Besucher_innen auf einem Parcours mit 19 Stationen | |
| durchs Theater. Es geht um deutsche Kolonialvergangenheit. | |
| Dokumentarfilm „Cunningham“ im Kino: Tanzen in grünen Parks | |
| Seine Stücke waren oft Modelle sozialer Prozesse. Der Film „Cunningham“ von | |
| Alla Kovgan über den Choreografen ist ein virtuoses Bildwerk. | |
| Choreograf über Antarktis-Expedition: „Was auf See geschieht“ | |
| Der Choreograf James Batchelor begleitete eine Expedition in der | |
| antarktischen See. Ein Gespräch über Künstler als Seefahrer, Klima und die | |
| Suche nach Unberührtem. | |
| Festival Tanz im August: Die Botschaft war Befreiung | |
| Eine Lektion in Einfachheit: Der französische Choreograf Jérôme Bel lässt | |
| das Leben von Isadora Duncan tänzerisch erzählen. | |
| Tanztheater Wuppertal: Verbaute Zukunft | |
| Gerichtstermin in Wuppertal: Die Kündigung der Intendantin Adolphe Binder | |
| ist unwirksam, das Renommee des Tanztheaters beschädigt. |