| # taz.de -- Zwei Journalist:innen über Deutschland: „Wo ist deine Wut geblie… | |
| > Die Journalistin Özlem Topçu und ihr Kollege Richard C. Schneider haben | |
| > sich Briefe geschrieben zur Frage, was ihren Blick auf Deutschland prägt. | |
| > Ein Gespräch. | |
| Bild: Essen 1982: Türk*innen vor der Abfahrt in den jährlichen Urlaub in die … | |
| Ein Jahr lang haben sich Özlem Topçu und Richard Chaim Schneider Briefe | |
| geschrieben: über politische Entwicklungen und gesellschaftliche Debatten | |
| in Deutschland, Israel und der Türkei, über ihre eigenen Biografien, | |
| Selbstbilder und den Blick von außen auf sie als „Andere“ inmitten der | |
| hiesigen Gesellschaft. Ihr „Briefwechsel zur deutschen Realität“ umfasst | |
| die Zeitspanne von November 2020 bis 2021 und erschien kürzlich als Buch | |
| („Wie hättet ihr uns denn gerne?“ DroemerKnaur, 272 Seiten, 18 Euro). Zum | |
| Gespräch mit der taz hat sich [1][Özlem Topçu] aus Hamburg zugeschaltet, | |
| [2][Richard Schneider] aus einem Straßencafé in Tel Aviv-Yaffo, von wo er | |
| bald nach Deutschland aufbrechen wird. | |
| taz: Frau Topçu, Herr Schneider, Ihr Briefwechsel ist geprägt von einem | |
| herzlichen Ton, von gegenseitigem Interesse und von Empathie. An einer | |
| Stelle zitieren Sie, Özlem Topçu, den Migrationsforscher Aladin | |
| El-Mafaalani mit den Worten: „Wenn sich aneinander gerieben wird, dann geht | |
| es voran.“ Woran haben Sie sich am jeweils Anderen mit Erkenntnisgewinn | |
| gerieben? | |
| Özlem Topçu: Richard findet, dass ich bei der Bewertung von Debatten zum | |
| Thema Identität und Zugehörigkeit häufig sehr verständnisvoll und sachlich | |
| bin. Er hat mich immer wieder gefragt: Wo ist denn deine Wut geblieben? | |
| Erst durch unsere Korrespondenz habe ich festgestellt, wie sehr ich diese | |
| Wut über die Jahre heruntergefahren habe, und das ist ja auch nicht immer | |
| schlecht. Richard dagegen erlaubt sich öfter, zornig zu sein – zu Recht. | |
| Richard Schneider: Ich muss gestehen: Özlem, deine Formulierung, dass ich | |
| mir „den Zorn erlaube“, halte ich für problematisch. In meinem Alter winke | |
| ich zwar bei vielen Dingen, die vor allem jüngere Juden aufregen, nur noch | |
| müde ab. Gleichzeitig hat mir der Briefwechsel vor Augen geführt, wie | |
| zornig ich noch immer bin. Sogar auf mich selbst. Ähnlich wie Özlem bin ich | |
| damit aufgewachsen, dass man viel dafür tun muss, um akzeptiert zu werden | |
| und bloß nicht negativ aufzufallen. Diese Unterwürfigkeit gegenüber der | |
| Mehrheitsgesellschaft, das Sichwegducken, sitzt ganz tief drinnen. Weil man | |
| es 2.000 Jahre lang in der Diaspora verinnerlicht hat. | |
| Was, denken Sie, prägt den Blick des jeweils anderen auf Deutschland? | |
| Topçu: Bei Richard wird stets zentral bleiben, dass die Deutschen einen | |
| Großteil seiner Familie ermordet haben. Für die deutsche Gesellschaft ist | |
| es wichtig, dass Menschen wie er immer wieder darauf hinweisen und deutlich | |
| machen: Für mich wird es nie wieder gut – und damit müsst ihr nun einmal | |
| leben. Diese betroffenen Gesichter, die ihr einmal jährlich aufsetzt, um an | |
| den Holocaust zu erinnern, reichen mir nicht. Für mich ist dieser Tag jeder | |
| Tag. | |
| Schneider: Bei Özlem sehe ich ein großes Bestreben, deutsch sein zu wollen, | |
| und das meine ich nicht negativ. Es scheint ihr darum zu gehen, dieses | |
| Land, diese Gesellschaft als die ihrige zu sehen und dabei auch tatsächlich | |
| akzeptiert zu werden. Vielleicht trägt dazu auch ihr Beruf als deutsche | |
| Journalistin in deutschen Redaktionen bei, wo man sich als Teil der vierten | |
| Gewalt begreift. Ich selbst bin in einem anderen Deutschland aufgewachsen: | |
| Meine gesamte Jugend war davon geprägt, dass die Nazitäter, die Mörder noch | |
| alle um mich herum lebten. Allein deswegen konnte ich nicht so sehr | |
| hineinwachsen in die deutsche Gesellschaft wie Özlem. Nach einem Jahr | |
| Korrespondenz frage ich mich, ob sie in Zukunft türkischer wird oder noch | |
| deutscher? Wie wird bei ihr diese Gewichtung dessen, womit wir beide | |
| ohnehin schon ständig jonglieren, verlaufen? | |
| Topçu: Ich würde nicht sagen, dass ich danach strebe, „deutsch“ sein zu | |
| wollen. Denn was sollte das eigentlich genau sein? Mir geht es eher darum, | |
| nicht als so „anders“ wahrgenommen, zur „anderen“ gemacht zu werden. Ge… | |
| das aber hat sich auch durch meine Sichtbarkeit als Journalistin verstärkt. | |
| In Leserbriefen etwa wurde mir das immer wieder gespiegelt. Auf der anderen | |
| Seite: Je älter ich werde, desto „türkischer“ werde ich. So habe ich mein | |
| Türkisch verbessert und mich mehr mit dem Land beschäftigt, beruflich wie | |
| privat. Als Jugendliche konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, jemals | |
| in der Türkei zu leben. Damals gehörte es zum Schlimmsten, wenn Eltern | |
| drohten: Wenn du jetzt nicht spurst, dann schicken wir dich in die Türkei! | |
| Es war ein fremdes Land. Heute ist das anders. Auch wenn die politische | |
| Lage dort alles andere als einfach ist. | |
| Während Ihres Briefwechsels fanden unter anderem die beiden Jubiläen „1.700 | |
| Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ und „60 Jahre Anwerbeabkommen“ sta… | |
| War das ein Grund zum Feiern? | |
| Schneider: Das 1.700-Jahre-Jubiläum ist der Versuch der nichtjüdischen | |
| Mehrheitsgesellschaft zu zeigen, dass man dann doch ganz toll ist. Die | |
| 1.700 Jahre werden dabei den berühmten 12 Jahren Nationalsozialismus | |
| gegenübergestellt, und es wird eine Kontinuität suggeriert, die aufgrund | |
| der Vertreibungen, Ermordungen, Pogrome, Verbrennungen und schließlich der | |
| Shoah in dieser Form einfach nicht existiert. Deutschland gibt es übrigens | |
| auch noch keine 1.700 Jahre. An diesem Jubiläum stimmt also einfach gar | |
| nichts. Aber es dient einem politischen Zweck. Und mit dem habe ich ein | |
| Problem. | |
| Topçu: Ich fand, Deutschland steht es gut zu Gesicht, das | |
| 1.700-Jahre-Jubiläum zu feiern mit Festivitäten, Austausch und | |
| Dialogprojekten. Gerade in Zeiten, in denen Leute mit gelben Sternen auf | |
| Coronademos gehen. Das heuchlerische Moment dieses Festjahres wurde mir | |
| tatsächlich erst durch den Austausch mit Richard bewusst. | |
| Schneider: Und durch Özlem wiederum wurde mir erst bewusst, dass | |
| tatsächlich schon 60 Jahre seit dem Anwerbeabkommen vergangen sind. | |
| Persönlich kann ich mich noch gut an die Ankunft und die ersten Jahre der | |
| „Gastarbeiter“ erinnern. Heute habe ich die Atmosphäre um den Münchner | |
| Hauptbahnhof (als wichtiger Ankunfts- und Transitort; d. Red.) vor Augen. | |
| Überall Menschen aus der Türkei. Dort hatte mein Vater damals sein | |
| Geschäft. Daher war ich als Kind oft vor Ort. Am Jubiläumsjahr fand ich | |
| auffällig, wie wenig davon in der Öffentlichkeit stattfand. | |
| Topçu: Das sehe ich auch so. Das Jubiläum wurde zwar offiziell gefeiert im | |
| Bundespräsidialamt. Aber es schien, als wollte man sich dabei nicht | |
| erwischen lassen. Dabei ist das Anwerbeabkommen ein so wichtiges deutsches | |
| Ereignis. 60 Jahre sind eigentlich gar keine lange Zeit, und ich finde: So | |
| schlecht ist es nicht gelaufen. Es ist zwar bitter, wie das Zusammenwachsen | |
| von türkischstämmigen und deutschstämmigen Deutschen in den letzten Jahren | |
| in den Hintergrund getreten ist und praktisch nur noch durch eine | |
| Erdoğan-Brille betrachtet wird. Diese Brille sollte den Blick aber nicht | |
| allzu sehr trüben, denn ohne die Zuwanderung der Generation unserer Eltern | |
| wäre Deutschland ein anderer Ort und unserer aller Leben anders verlaufen. | |
| Und das ist ein Grund zu feiern. Man sollte den „Gastarbeiterinnen“ ein | |
| Denkmal setzen. | |
| Frau Topçu, Sie haben mit Richard Schneider auch im Mai 2021 Briefe | |
| ausgetauscht, als Israel unter massivem Raketenbeschuss stand, vor Ort | |
| Unruhen ausbrachen und sich gleichzeitig hierzulande die typischen Debatten | |
| und der Antisemitismus in ihrer ganzen Wucht Bahn brachen. Wie haben Sie | |
| das wahrgenommen? | |
| Topçu: Wie zu erwarten, ging in der Debatte in Deutschland alles sehr | |
| durcheinander. Ich erinnere mich an ein auf vielen Ebenen problematisches | |
| Bild: Eine junge deutsche Demonstrantin mit Hidschab hielt ein Plakat hoch, | |
| auf dem, an die deutsche Gesellschaft gerichtet, stand: „Wegen eurer | |
| Verbrechen müssen wir zahlen.“ Dieses Bild steht für mich dafür, wie zu | |
| dieser Zeit das einzigartige deutsche Verbrechen bagatellisiert und mit | |
| einem komplexen Konflikt im Nahen Osten vermengt wird. Es ist möglich und | |
| notwendig, auf das Leid und die Ungleichbehandlung der Palästinenser | |
| hinzuweisen, ohne den Holocaust zu verharmlosen. Und es ist möglich und | |
| notwendig, über das Problem des Antisemitismus zu sprechen – | |
| selbstverständlich auch über den unter Menschen mit Migrationsgeschichte | |
| –, ohne wiederum Rassismus zu reproduzieren. | |
| Herr Schneider, im Briefwechsel äußern Sie sich mehrmals kritisch zu woker | |
| Identitätspolitik. Wo sehen Sie Parallelen zwischen dem Kampf gegen | |
| Antisemitismus und dem gegen die verschiedenen Rassismen? | |
| Schneider: Machen wir uns nichts vor: Die europäischen Gesellschaften sind | |
| im Kern antisemitisch und rassistisch. Wer nicht zur weißen | |
| Mehrheitsgesellschaft und -religion gehört, hat hier Probleme. Die stellen | |
| sich unterschiedlich dar, aber man hat den gleichen Kampf zu führen, um zu | |
| überleben, von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert und nicht auf seine | |
| Identität als Angehöriger einer Minderheit reduziert zu werden. Die Muslime | |
| werden sich auf Dauer besser in die Gesellschaft drängen können als Juden. | |
| Schlicht weil sie so viele mehr sind. Inzwischen gibt es immerhin einen | |
| deutschen Landwirtschaftsminister, der Cem Özdemir heißt. Einen Moishe | |
| Cohen gibt es nicht in der Regierung – und wird es auf einer so hohen Ebene | |
| auch nicht so schnell geben. | |
| 17 Apr 2022 | |
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