Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Buch von Dmitrij Kapitelman: Reise zurück nach vorn
> Um Deutscher werden zu können, muss Dmitrij Kapitelman zurück nach Kiew
> reisen. Sein Roman „Eine Formalie in Kiew“ ist ein sprachliches
> Feuerwerk.
Bild: Der Autor Dmitrij Kapitelman erzählt mit viel Selbstironie und sprachlic…
Nach 25 Jahren in Deutschland entschließt sich [1][Dmitrij Kapitelman,]
Deutscher zu werden. 1994, mit acht Jahren, war der heutige Journalist und
Autor mit seinen Eltern aus Kiew nach Leipzig immigriert. Schon lange hatte
er sich als Verfassungsdeutscher gefühlt. Warum aber hatte er so lange
gewartet? „Dem Dummdödel von damals“, schreibt er in seinem neuen Roman
„Eine Formalie in Kiew“, „war schlicht nicht klar, wie krass ein deutscher
Ausweis privilegiert, wie sehr er das Leben erleichtert. In fast alle
Länder der Welt reisen können, ohne Visaanträge!“
Aber nicht nur das ließ ihn so lange warten. Obwohl seine Eltern aufgrund
der Diskriminierung seines jüdischen Vaters die Ukraine verlassen hatten,
begannen sie im Laufe der Zeit, die Sowjetunion zu verklären. Und ihm
entgegenzuhalten: „Du bist ja sowieso schon einer von denen, ein Deutscher
… Vielleicht wollte ich allein deshalb all die Jahre lang niemals Deutscher
werden. Um meinen Eltern zu beweisen, dass ich doch ganz und gar zu ihnen
gehöre. Ganz egal, wo wir waren.“
Doch seine Eltern verändern sich weiter. Seine Mutter begann nicht nur
Putin zu preisen, sondern sich nur noch um ihre zahlreichen Katzen zu
kümmern, die nach und nach das ganze Haus seiner Eltern okkupierten. Und
sein Vater assistiert ihr dabei mit oblomowscher Lethargie. Kapitelman
entschließt sich, zu seinen Eltern auf Distanz zu gehen und auf dem
Leipziger Ausländeramt die Unterlagen für die deutsche Staatsbürgerschaft
abzugeben.
„‚Nuh, dös schaut doch ganz guht aus‘, lobte Frau Kunze meine migrantisc…
Money-Mappe, die gesammelten Werte“, schreibt er. „In Sachsen, wo immer
wieder Einzelfälle von nicht rechtsextremen Polizisten und
Justizvollzugsbeamten bekannt werden, ist Frau Kunze tendenziell eher eine
neutrale Freundin als eine neutrale Feindin.“
Alles für die Apostille
Was ihm jedoch nach 25 Jahren in Deutschland fehlt, ist eine amtliche
Bestätigung der beglaubigten Kopie seiner Geburtsurkunde. Ein Schriftstück,
das im internationalen Dokumentenverkehr den poetischen Titel „Apostille“
trägt. Und die gibt es nur persönlich in seiner Geburtsstadt Kiew.
Die Reise in die einerseits unbekannte, andererseits an die frühe Kindheit
erinnernde Stadt, erzählt Dmitrij Kapitelman mit viel Humor und
sprachlicher Fantasie. Dabei ist er immer wieder erfrischend
selbstironisch. Hier unterscheidet sich Kapitelman von ähnlicher
autobiografischer Literatur nach Deutschland Eingewanderter. Trotzdem
vermittelt er gleichzeitig auf eindrückliche Weise die prekäre Situation
des zwischen den Stühlen sitzenden Migranten, der dazu noch von den
ambivalenten Gefühlen gegenüber seinen Eltern gebeutelt wird.
Allerdings ermüdet das witzige und ironische sprachliche Feuerwerk auf die
Dauer auch. Die Form drängt sich an manchen Stellen so sehr in den
Vordergrund, dass der Inhalt, das, wovon Kapitelman erzählt, in den
Hintergrund gerät.
Vielleicht bleibt einem auch deshalb nicht das Lachen im Halse stecken, als
er von seiner Großmutter als der „glühendsten Antisemitin von ganz Soroki“
schreibt. Es erscheint nur als ein weiterer Witz. Andererseits dann wieder
die schöne Szene, in der sein jüdischer Vater das russisch-orthodoxe
Grabkreuz, das die Friedhofsverwaltung wegen nicht bezahlter Gebühren vom
Grab seiner Schwiegermutter in Leipzig entfernt hatte, mit viel Mühe wieder
anbringt und alle zu lachen anfangen.
Stilwechsel im zweiten Teil
Aber Ironie gerät irgendwann in Gefahr, zu Indifferenz zu werden. Das liegt
an der Distanz, die sie zwischen Leser und handelnden Personen aufbaut. Das
wird auch im Kontrast zum zweiten Teil des Buches spürbar, in dem sich die
Schreibweise Kapitelmans ändert und Witz und Ironie fast keine Rolle mehr
spielen.
Während er in Kiew auf die Apostille wartet, ruft überraschend seine Mutter
an. Es ist das erste Mal seit Längerem, dass Kapitelman mit ihr spricht.
Sie eröffnet ihm, dass sein Vater im Flugzeug nach Kiew sitzt. Nicht
wundern, sagt sie, er sei ein bisschen verwirrt. Da er in Deutschland keine
Krankenversicherung mehr habe, könnten sie sich dort keine Untersuchung
leisten. Er solle mit seinem Vater in der Ukraine zum Arzt gehen. Dort sei
es biliger.
Kapitelman ist wütend auf seine Mutter, die sich offenbar mehr um ihre
Katzen gekümmert hat als um ihren Mann. Er holt seinen verwirrten Vater,
der nicht nur „ein bisschen“ verwirrt ist, am Flughafen ab und geht mit ihm
auf eine Odyssee durch das postsowjetische Gesundheitssystem Kiews. Es
stellt sich heraus, dass er einen Schlaganfall hatte und sofort behandelt
werden muss. Sein geliebter Vater, dem er sein voriges Buch, „Mein
unsichtbarer Vater“, gewidmet hatte. Ein Buch, in dem er mit ihm nach
Israel reist und über Nationalismus und Judentum streitet.
Wie Kapitelman dann in „Eine Formalie in Kiew“ seine Überforderung, die
chaotischen, aber dann irgendwie doch funktionierenden Verhältnisse in der
Ukraine sowie die Zusammenführung der Familie beschreibt, entschädigt für
den überdrehten Witz im ersten Teil des Buches.
21 Feb 2021
## LINKS
[1] /Roman-ueber-juedisches-Leben/!5346968
## AUTOREN
Fokke Joel
## TAGS
Buch
Roman
Ukraine
Kyjiw
Buch
Literatur
Literatur
Halle
Jüdisches Leben
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zwei Journalist:innen über Deutschland: „Wo ist deine Wut geblieben?“
Die Journalistin Özlem Topçu und ihr Kollege Richard C. Schneider haben
sich Briefe geschrieben zur Frage, was ihren Blick auf Deutschland prägt.
Ein Gespräch.
Lebensgeschichte aus der Provinz: Auf dem Buchrücken
Wie wenig man manchmal für das eigene Leben kann: Monika Helfers
anrührende, autobiografische Spurensuche nach ihrem „Vati“.
Clarice Lispector, Autorin aus Brasilien: Die hässlichen Seiten des Lebens
Ein neuer Band mit Erzählungen von Clarice Lispector lässt ihre Modernität
erkennen. Am 10. Dezember vor 100 Jahren wurde sie geboren.
Antisemitischer Terror: Hässliche Worte, hässliche Taten
Angesichts von Halle kann unser Autor keinen Schock vorspielen: Längst sei
es wieder normal, dass Nazis in Deutschland Menschen umbringen.
Roman über jüdisches Leben: Heimat ist ein strapaziertes Wort
Ein Selbstzweifler sucht den Ort, an den er gehört: Dmitrij Kapitelmans
rotzig-lässiger Roman „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.