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# taz.de -- Roman über jüdisches Leben: Heimat ist ein strapaziertes Wort
> Ein Selbstzweifler sucht den Ort, an den er gehört: Dmitrij Kapitelmans
> rotzig-lässiger Roman „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“.
Bild: „Herkunft, Familie, Heimat – was soll das bitte sein?“ – Ein Pass…
Folgende Sätze schrieb Dmitrij Kapitelman vor drei Jahren in der taz: „Es
ist recht unterhaltsam, einen jüdischen Nachnamen in Deutschland zu haben.
Als Einziger im Raum Judenwitze reißen dürfen, während die anderen neidisch
sabbern – herrlich.“ Er war 26 Jahre alt und machte gerade eine Ausbildung
an der Deutschen Journalistenschule. Eine seiner Praktikumsstationen war
die tazzwei-Redaktion, Kreuzberg, Rudi-Dutschke-Straße, vierter Stock.
[1][Sein Text „Kapitelmans Kind“] war sehr vieles auf einmal: interessant,
unterhaltend, gut geschrieben natürlich. Gehalten in diesem raren Sound,
den eigentlich nur ganz wenige Autoren (an guten Tagen!) hinbekommen.
Rotzig und berührend. Verächtlich und witzig. Nicht gefällig, das schon gar
nicht. Auf eine lässige Weise so ungestüm, dass sich wenig später eine
Literaturagentin bei Kapitelman meldete: ob er sich vorstellen könne, ein
Buch zu schreiben.
Nun ist das Buch erschienen. Es trägt zwar den irreführend seichten Titel
„Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“. Aber drin ist immer noch alles
roh und traurig und berührend.
Kapitelman hieß damals noch Romashkan wie seine Mutter. In dem Text
„Kapitelmans Kind“ ging es um die Frage, warum sein Vater, Leonid
Kapitelman, sich wünschte, dass sein Sohn seinen jüdischen Nachnamen
annimmt. („Es geht um die Fortführung des Familienbaums.“) Und darum, warum
es in diesem Deutschland immer noch so verdammt schwer ist, die deutsche
Staatsbürgerschaft anzunehmen. Selbst für einen wie Dima, den
„Kontingentflüchtling“ der Neunziger, den „Wiedergutmachungsjuden“, wi…
sich selbst beschreibt.
## Keine Arbeit – kein Pass
Als Dima Kapitelman seinen taz-Text schrieb, lebte er seit 17 Jahren in
Deutschland. „Kein fester Arbeitsplatz, kein Pass. So sieht es das
Ausländeramt“, schrieb er. „Siebzehn Jahre hier gelebt? Kein Argument. Auch
egal, dass der Staat seit sechs Jahren Bafög in mich investiert.
Irrelevant, dass ich das Deutschlandstipendium erhalte. Die haben so viel
Geld in mich reingebuttert, die müssten mir den deutschen Pass eigentlich
an die Stirn tackern! Und zwar gratis. Aber nein: Für das
Bildungsministerium bin ich die Elite von morgen, für das Ausländeramt der
Hartz-IV-Empfänger von draußen.“
Aus diesem Spannungsfeld heraus, aus dieser Projektionsfläche von
Zuwanderung, Dazugehörigkeit und Abstoßung hat „Kapitelmans Kind“ sich
aufgemacht. Er ist mit seinem Vater nach Israel gereist und hat über diese
Reise ein wunderbares Buch geschrieben. Er hat sich emanzipiert. Von seinem
Geburtsland Ukraine, von seiner Adresse Deutschland, von seinem
Sehnsuchtsort Israel. Hat seinen Vater aus dessen Leipziger Lädchen, dem
Magasin, gelockt und sich mit ihm auf die Suche nach einer gemeinsamen
Identität begeben.
Stellt man Kapitelman die Identitätsfrage, korrigiert er umgehend jede
Gefühlsduseligkeit, jedes Pathos. „Ich habe ein Buch über Emanzipation
geschrieben“, sagt er am Telefon. Um sich überhaupt emanzipieren zu können,
müsse man schließlich wissen, wovon. Herkunft, Familie, das dieser Tage
wieder mal stark strapazierte Wort Heimat. Was soll das bitte sein? Bleibt
nur, es rauszukriegen. Konkret. Also in seinem Fall: zusammen mit Papa nach
Israel zu reisen.
## Sehr politischer Roman
Der jüdische Staat macht es dem „Falschjuden“ Dima Kapitelman erst einmal
leicht. Er, der nie irgendwo richtig hinzugehören schien, wird hier einer
unter vielen. Ein Jude unter Juden. In seinem Geburtsland Ukraine wurde
seine Familie als jüdisch diskriminiert. In Deutschland war er ein von
Nazis umstellter „Asylant“ in Leipzig-Grünau. Und weil nur sein Vater,
nicht aber seine Mutter jüdisch ist, sah er sich stets als „Falschjude“ an.
Nun macht ihm Israel ein Angebot. „Sie gehören hierher. Sie könnten sofort
Bürger dieses Landes werden“, sagt ihm jemand.
Dieser Satz wirft Kapitelman um. Es ist das erste Mal, dass ihm das Gefühl
gegeben wird, irgendwo dazugehören zu können. Einfach Israeli werden. „Das
wäre ein Freispruch vor dem inneren Gericht!“
Es ist dies der Punkt, an dem Dima Kapitelmans Roman ganz aktuell und sehr
politisch ist. Seinen inneren Jubel beschreibt er so eindrücklich, dass es
nicht schwerfällt, von diesem jüdischen Selbstzweifler auf andere zu
schließen. Auf Muslime in Deutschland, auf Flüchtlinge in ihren
Unterkünften, auf People of colour, auf Transgender-Personen, auf
Ostdeutsche, auf Kinder an ihrem ersten Schultag. Auf jeden, der zu etwas
dazugehören möchte, aber doch nur eine tiefe Einsamkeit zu spüren bekommt.
Man kann das lächerlich finden. Kapitelman selbst schickt seine Identität
wieder und wieder durch eine Selbstprüfungsmühle. Aber es bleibt diese
Erkenntnis: Der Mensch will angenommen sein. Er braucht eine Identität –
und sei es, um sich von ihr zu emanzipieren.
In Israel wandeln Vater und Sohn die eingetretenen touristischen Pfade
entlang. Papa Leonid lässt seinem Rassismus gegen die Araber die Zügel
schießen, Sohn Dima hält (meistens) tapfer dagegen. Papa erkundet den Markt
für koscheren Lebensmittelhandel, Sohn reist in die palästinensischen
Gebiete. Neben einer klassischen Königskinder-Lovestory mit der
Kopftuchmaid Dina erfährt er auch, was es dort bedeutet, Jude zu sein:
nämlich das Letzte. Es sind Tage im Ausnahmezustand, umgekehrte
Retraumatisierung. Es ist Kapitelmans politische Bildungsreise in die
komplette Alleinigkeit.
## Wunderbar traurig
Und Papa? Papa wird immer munterer. Aus dem Leipziger Kontingentflüchtling
wird ein stolzer Jude. Aus dem Atheisten ein Mann, den an der Klagemauer
die Gefühle übermannen. Aus dem unauffälligen Mann in der grauen Jacke ein
Feierbiest. Dimas Vater, der sich nie erklären wollte und konnte – schon
gar nicht seine Gefühle –, wird redselig und liebevoll. Er zeigt seinem
Sohn sein Lächeln. Es ist anrührend, dabei sein zu dürfen. Papas gewundenen
Gedankengängen zu lauschen, seinen obskuren Argumentationsketten zu folgen.
Dieser Mann war mutlos, auf der Reise wird er fast übermütig.
Zurück in Deutschland, hat sein Sohn über ihn dieses wunderbar traurige
Buch geschrieben. Kurz nach dem Erscheinen hat er es seinen Eltern gegeben.
Sie haben es nicht gelesen. Keine Zeit. Und ihr Deutsch – immer noch nicht
gut genug. Aber dann sind sie doch zur Lesung in Leipzig gekommen, vom
Magasin ins Haus des Buchs.
„Meine schwerste Lesung“, sagt Kapitelman am Telefon. „Als ich unterwegs
dorthin war, bekam ich es mit der Angst zu tun. Angst, dass ich meine
Eltern verletze, dass ich sie mit dieser Exponiertheit überfordere.“ Aber
erst mal kamen sie zwanzig Minuten zu spät, „sie hatten also den großen
Auftritt“. Und „relativ bald“ hörte er ihr Lachen aus dem Publikum.
Der Rest der Lesung sei dann ziemlich gut gelaufen. „Ich hoffe immer noch
auf eine russische Ausgabe.“
20 Oct 2016
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## AUTOREN
Anja Maier
## TAGS
Jüdisches Leben
Literatur
Roman
Buch
Schwerpunkt taz Leipzig
antimuslimischer Rassismus
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Judentum
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