# taz.de -- Antisemitischer Terror: Hässliche Worte, hässliche Taten | |
> Angesichts von Halle kann unser Autor keinen Schock vorspielen: Längst | |
> sei es wieder normal, dass Nazis in Deutschland Menschen umbringen. | |
Bild: Polizisten sichern den Bereich vor der Synagoge in Halle nach dem Anschla… | |
Vergangenen Mittwoch rief mein verreister Vater an, gratulierte zum Fest | |
und bat mich, neue Kippot zu besorgen. Wenn schon nicht an Rosch ha-Schana | |
und nicht den Tagen der Einkehr, sollten wir zumindest kurz nach Jom Kippur | |
unsere Toten, Rachel und David Kapitelman, auf dem Friedhof aufsuchen. Mit | |
neuen Kippot (Plural von Kippa) auf unseren neu ausgekehrten Köpfen im | |
neuen Jahr 5780. Ich versprach also, für frische Kopfbedeckung zu sorgen, | |
und legte mein Handy weg. Weil ich internetsüchtig bin, nahm ich es zwei | |
Minuten später wieder in die Hand und erfuhr auf Twitter, [1][dass | |
mindestens zwei Einzeltäter die Jüdische Gemeinde von Halle an der Saale | |
abschlachten wollten]. Auf einen Schlag, live gestreamt, damit sich die | |
anderen Einzeltäter da draußen nicht zu einsam fühlen. | |
## Besorgte Freunde | |
Halle ist direkt vor meiner Tür, einen Hakenkreuzwurf von Leipzig entfernt, | |
wo ich wohne. Wahrscheinlich hörte mein Telefon deshalb den ganzen Abend | |
nicht mehr auf zu klingeln. Besorgte Freunde wollten trösten, solidarisch | |
sein, über den Schock sprechen. Allerdings scheine ich sie enttäuscht zu | |
haben. Zumindest wirkten sie irritiert von meiner allzu zurückgenommenen | |
Gefasstheit. | |
Ich danke jeder und jedem für die Anteilnahme. Aber kann keinen Schock | |
vorspielen, wo keiner ist. Ich kann nicht völlig überrascht fragen, | |
wie-konnte-das-nur-geschehen? Es konnte und musste geschehen, weil es | |
inzwischen normal ist, dass Nazis in Deutschland Menschen umbringen. | |
Weil es schon vor mehr als zwanzig Jahren in ostdeutschen Asylheimen | |
geschah, weil es jahrelang durch den NSU geschah, weil es erst vor wenigen | |
Wochen geschah, als ein Mann aus [2][Eritrea] auf offener Straße | |
angeschossen wurde. Von einem weiteren Einzeltäter, der vorher in seiner | |
Stammkneipe seine Einzeltat ankündigte – wogegen kein einziger dort etwas | |
tat. Von der Polizei oder dem Verfassungsschutz wurden sie auch nur sehr | |
vereinzelt gestört. | |
Also trauten sich die Nazis an privilegiertere, fettere Beute und holten | |
sich Walter Lübcke, der sich für Asylsuchende einsetzte. Wenn nicht mal ein | |
verdienter deutscher Christdemokrat (der das Christ in Demokrat verdient) | |
entschieden vom deutschen Staat gegen rechten Terror verteidigt wurde – | |
welcher Jude, welcher Muslim, welcher türkische Gemüseverkäufer, welche | |
Anwältin der NSU-Opfer soll dann schockiert sein, wenn sie Zielscheibe | |
werden? | |
## Gemeinsam Geschichte schreiben | |
Aber der deutsche Staat, das ist inzwischen auch die AfD. Wenn Hass auf | |
Minderheiten in Deutschland wählbar ist und auch massiv gewählt wird, kann | |
es nicht schockierend sein, dass Minderheiten diesen Hass zu spüren | |
bekommen. Täglich. Welche Diskursverschiebung sollen wir erwarten, wenn | |
Gauland im öffentlich-rechtlichen Fernsehen den Holocaust mit einem | |
Fliegenschiss der Geschichte gleichsetzt und nächste Woche gleich wieder | |
eingeladen wird? Irgendwo treffen sich hässliche Worte und hässliche Taten | |
immer, wenn sie Raum kriegen, dann schreiben sie gemeinsam Geschichte. | |
Wie es die göttliche Gegenwart so wollte, ist auch die Frau, die ich liebe, | |
Jüdin. Ihre Mutter wimmerte am Abend der Tat, dass sie uns jetzt alle holen | |
wollen. Angstaugen hatte sie. Noch vor wenigen Jahren hätten Anna und ich | |
sie für ihre Judenpanik verlacht. Doch nicht in dieser unserer | |
demokratischen, offenen, seelisch vernünftigen Bundesrepublik. Niemand | |
packt hier den Koffer nach Israel. Wir können mal an die Isar, wenn du | |
willst, Julia, du Angsthase. | |
Irgendwann zwischen 5776 und der Gegenwart kamen aber auch unsere Schocks. | |
Vielleicht als ertrinkende Menschen zu retten plötzlich als links galt. | |
Vielleicht als der Chef des Verfassungsschutzes haargenau wie ein rechter | |
[3][Verschwörungstheoretiker] klang. „Ich bin vor dreißig Jahren nicht in | |
die CDU eingetreten, damit 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen“, | |
grölte Hans-Georg Maaßen einem CDU-Ortsverein in Weinheim entgegen. Die | |
Jagd nach rassistischer Legitimität in Chemnitz letztes Jahr. Die | |
unzähligen Hetzkampagnen der AfD. Schock um Schock schlug uns, bis wir taub | |
wurden, und als kein neuer Unglaube mehr zu holen war, zogen die Schocks | |
weiter. Die völlige Vorstellbarkeit, die neue Normalität von genau dem, was | |
in Halle passiert ist, ließen sie uns zurück. | |
## Solider Schock | |
Und trotzdem fällt Bundespräsident Walter Steinmeier unmittelbar nach dem | |
Anschlag nichts Besseres ein, als schockiert zu sein. Bis vor Kurzem sei es | |
unvorstellbar gewesen, dass Synagogen in Deutschland angegriffen werden. | |
Das muss ein Witz sein!? Na ja, vielleicht nur unglücklich formuliert. | |
Solide schockierte Statements gibt auch die CDU von sich, wenn Nazis töten. | |
Annegret Kramp-Karrenbauer nannte den Anschlag ein Alarmzeichen. | |
Herausgebrochene Stolpersteine waren ein Alarmzeichen. Das hier ist der | |
Notfall, das ist die Katastrophe, nicht der Alarm davor. Und im Notfall | |
weiter schockiert dazustehen, anstatt zu handeln, ist tödlich. Als würden | |
wir mit dem Horror nach Halle bei null beginnen. Als wäre das jetzt eine | |
neue Phase des Hasses auf Juden, ein vereinzelt zu diskutierendes Ereignis | |
– während die Gewalt gegen alle möglichen als anders und fremd | |
ausgegrenzten Menschen längst Hochkonjunktur hat. | |
Seit dreißig Jahren regiert die CDU Sachsen, seit dreißig Jahren wird das | |
riesige gesellschaftliche Problem Rassismus geleugnet, ebenso wie | |
organisierter rechter Terror. Ja, Halle ist Sachsen-Anhalt, doch es ist die | |
gleiche, vierzig Minuten entfernte politische Welt. Lieber vor linker | |
Gewalt warnen und relativieren. | |
## „Keine akute Bedrohung“ | |
So viele Menschen im Osten, die wirklich für eine freie Gesellschaft | |
einstehen, die von Nazis dafür bedroht werden, fühlen sich alleingelassen | |
und verhöhnt von dieser „Räson“. Genauso alleingelassen, wie die Gemeinde | |
in Halle sich gefühlt haben muss. Eine Polizeistreife hat die Synagoge | |
nicht bewacht, obwohl die Gemeinde mehrmals darum bat. Es liege keine akute | |
Bedrohung vor. Der Security-Mann der Synagoge war selbst ein | |
Gemeindemitglied, ein Laie. Gegen einen hauptberuflich Wahnsinnigen mit | |
Gewehr, vier Kilogramm Sprengstoff, einer Schussweste und einen Helm (mit | |
Kamera). | |
Leugnen. Leugnen, Schock. Leugnen, Leugnen, Blut. Wen soll diese redundante | |
Rhetorik noch aufrütteln. Wen erschüttern? | |
Meine Schwiegermutter vielleicht. Zittrig an ihrer Avocado puhlend, | |
erzählte Julia am besagten Abend, dass die Mörder von Halle Juden in ihren | |
Posts die Schuld am Feminismus (und natürlich noch vielem mehr) | |
zuschreiben. „Na ja, zumindest halten sie die Juden also nicht für | |
Sexisten“, habe ich geantwortet. „Du redest wie ein Jude“, entgegnete sie | |
halb lachend, halb weinend und holte spielerisch nach mir aus. | |
Was soll ich denn anderes tun als über diese Irren spotten? Wer nicht | |
länger schockiert sein kann, geht über zu Humor. Der Jude immer, mit seinen | |
listigen Um-die-Ecke-Witzchen. Woher sollen sie denn sonst kommen, wenn man | |
Jahrhundert um Jahrhundert in die Ecke gedrängt wird? | |
„Wenn wir wollen, schlagen wir euch tot“, haben Nazis letzte Woche auf | |
ihrer Kundgebung in Berlin skandiert. Stellen wir ganz nüchtern fest: Sie | |
wollen, und sie werden es versuchen. Das ist so vorhersehbar wie | |
Koalitionen der CDU mit der AfD. Wie viel Toleranz nach rechts ist genug, | |
Herr Joachim Gauck? Sollen wir uns für die zu feste, ausschließende Tür der | |
Synagoge in Halle entschuldigen? War das ausgrenzend? | |
## Und seine Lösung? | |
Dürfen wir jetzt nicht mal mehr entsetzt sein?, fragen Sie sich vielleicht | |
beim Lesen. Und was ist denn seine Lösung? Ich habe keine. Ehrliches | |
menschliches Mitgefühl ist wundervoll. Aber ohne Taten, konsequente | |
Ermittlungen, glaubhafte Ächtung der Verbrecher und ihrer politischen | |
Wegbereiter in der AfD ist das leider zu wenig. | |
Wo ist die große, konsequente gesellschaftliche Erhebung, die fordert, dass | |
rechtsextreme Strukturen in Polizei, Verfassungsschutz, Justiz und | |
Bundeswehr endlich bekämpft werden? Ich kann keine sehen. Einen Tag lang | |
solidarisch Kippot anziehen und schockiert sein ist einfach nicht genug. | |
Ich habe Anna nach unserem bedrückenden Gespräch mit ihrer Mutter | |
vorgeschlagen, gemeinsam einen Tee zu trinken und Kniffel zu spielen. | |
Natürlich wollte ich eigentlich weinen, schreien und um mich schlagen. | |
Deprimiert, nicht schockiert. Aber Juden, die kichernd Kniffel spielen, | |
obwohl man sie umbringen will, erschienen mir an diesem düsteren | |
Jom-Kippur-Abend des Jahres 2019 als die stählernste Gegenwehr. | |
12 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Das-Attentat-von-Halle/!5628896 | |
[2] /Attentat-auf-Eritreer/!5612995/ | |
[3] /Ex-Verfassungsschutzchef-Maassen/!5618506/ | |
## AUTOREN | |
Dmitrij Kapitelmann | |
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Jörg Meuthen | |
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