| # taz.de -- Das Attentat von Halle: Die Tür hielt stand | |
| > Niemand schützte das Gotteshaus: Nur eine Tür trennte am Mittwoch die | |
| > Besucher der Synagoge von Halle von dem antisemitischen Attentäter | |
| > Stephan B. | |
| Bild: Die Tür, die standhielt, am Tag nach dem Attentat | |
| Halle taz | Die Tür, die vielleicht 80 Leben gerettet hat, wirkt ganz | |
| unscheinbar. Ganz links in die Mauer eingelassen, sieht sie mehr aus wie | |
| ein etwas größerer Fensterladen. Daneben ein kleines Schild mit der | |
| Aufschrift: „Jüdische Gemeinde zu Halle (Saale)“, darunter zwischen zwei | |
| Davidsternen „Synagoge“. Links über der Tür ist eine Überwachungskamera | |
| angebracht. Durch sie hat der Sicherheitsdienst im Inneren den Täter | |
| gesehen, hat beobachten können, wie er sich mit einer Maschinenpistole | |
| Zutritt zu verschaffen suchte. An drei Stellen hat er versucht, die Tür | |
| aufzuschießen, über dem Schloss, über dem keine Türklinke ist. | |
| Acht Einschusslöcher, dicht beieinander, klaffen über dem Schloss, vier | |
| Löcher daneben, fünf Löcher darunter. Die unscheinbare Tür hat unerwartet | |
| standgehalten. Als eine 40-jährige Frau vorbeikommt, eine Hallenserin, die | |
| im Viertel vielen Leuten bekannt ist, sagt sie: „Muss das sein, wenn ich | |
| hier langgehe?“ Der Täter richtet seine Waffe auf sie und schießt. Die Frau | |
| ist das erste Mordopfer an diesem Tag. Beim Mord erwischt es auch einen | |
| Reifen seines Fluchtautos. | |
| 24 Stunden später liegt an dieser Stelle wie vor der Tür mit dem | |
| zerschossenen Schloss ein Meer aus Blumen und Kerzen: zum Gedenken an die | |
| Ermordete und wie zum schockierten Dank an eine Tür, die Zugang zu einem | |
| Massenmord hätte werden können. Am Tag nach dem Anschlag ist das | |
| Paulusviertel in Halle weit entfernt davon, zur Normalität zurückzukehren: | |
| Schwarze Limousinen blockieren ein Stück weiter unten die Humboldtstraße. | |
| Pressevertreter drängeln sich auf dem schmalen Bürgersteig gegenüber der | |
| Friedhofsmauer auf dem Gelände, wo auch die Synagoge steht. Trauernde | |
| werden von der Polizei durchgelassen. Bis tief in die Nacht war der Tatort | |
| abgesperrt, um die Spuren des Attentats zu sichern. | |
| Am Mittag ist hier großer Staatsbesuch vorgesehen, Bundespräsident Walter | |
| Steinmeier, Bundesinnenminister Horst Seehofer, Sachsen-Anhalts | |
| christdemokratischer Ministerpräsident Reiner Haseloff, der jüdische | |
| Zentralratspräsident Josef Schuster. Zur Sicherheit der hochrangigen | |
| Vertreter, erklärt ein Polizeibeamter, sei die Mahnwache der Anwohner an | |
| die nächste Straßenecke verlegt worden, weg von dem eigentlichen Ort der | |
| Trauer. | |
| ## „Zusammenstehen gegen die Gewalt“ | |
| Das Bild ist bei den Besuchen das gleiche: Steinmeier geht in Begleitung | |
| des Gemeindevorsitzenden, Max Privorozki, zur Tür. Er dreht sich zu | |
| Privorozki, zeigt darauf, der nickt. Ein Gesteck mit schwarz-rot-goldener | |
| Schleife wird niedergelegt, Schweigen. Dann zieht die Prozession weiter, | |
| Gewusel der Presse, man sieht die eine oder andere Kippa, davor unzählige | |
| Kameras. Kranzniederlegung an der Gedenkstelle der erschossenen | |
| Hallenserin. Dann verschwindet die Gruppe durch das kleine Tor neben den | |
| Blumen. Später wird der Bundespräsident sagen, dass jüdisches Leben | |
| geschützt werden müsse: „Es muss klar sein, dass der Staat Verantwortung | |
| übernimmt für jüdisches Leben, für die Sicherheit jüdischen Lebens in | |
| Deutschland.“ Und weiter: Wir müssen dauerhaft zusammenstehen gegen Gewalt, | |
| wie sie gestern hier erlebt haben.“ | |
| Eine Forderung, die bei vielen Jüdinnen und Juden der Gemeinde und im | |
| ganzen Land auf Bitterkeit stößt. Denn es war ja am Donnerstag, als rund 80 | |
| Gottesdienstbesucher in der Synagoge den höchsten jüdischen Feiertag Jom | |
| Kippur begingen, so: Kein einziger Polizist stand vor dem Gotteshaus, um | |
| die Menschen vor einem möglichen Attentat zu beschützen. | |
| Nur diese eine Tür trennte die Synagoge vor dem Attentäter. Eine Frau, die | |
| dabei war, berichtete gegenüber der Jüdischen Allgemeinen vom Ablauf: | |
| Demnach habe der Sicherheitsmann von den Schüssen berichtet, woraufhin die | |
| Beter ins obere Geschoss gelaufen und sich in der Küche versteckt hätten. | |
| Der Sicherheitsmann habe sie auf dem Laufenden gehalten, er beobachtete die | |
| Tat über die Sicherheitskamera. Die Eingangstür wurde dann von | |
| Gemeindeangehörigen mit Möbeln verrammelt, falls der Täter die erste | |
| Eingangstür in der Mauer durchbrechen sollte. | |
| Jetzt werden Fragen laut: Warum war der Ort, wie sonst bei Synagogen | |
| besonders an hohen Feiertagen üblich, nicht geschützt worden? „Skandalös“ | |
| nennt es Zentralratspräsident Josef Schuster, dass es keinen Polizeischutz | |
| gab, wie durch ein Wunder sei nicht noch mehr Unheil geschehen. „Diese | |
| Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt.“ Ein Satz, der vielen, die | |
| sich am Tag nach der Tat noch zu orientieren versuchen, aus der Seele | |
| sprechen muss. Jetzt sind die Gemeindemitglieder abgeschirmt, Die Polizei | |
| trennt sie von der Pressemeute. | |
| „Es ist leider zu erwarten gewesen“, sagt eine Frau, die früher hier einmal | |
| zu Hause war. Annett Schwarzer ist mit ihren drei Söhnen aus Berlin nach | |
| Halle an der Saale gekommen, in ihre Heimatstadt. Die Synagoge sei über | |
| ihre Kindheit und Jugend hinweg ihr Zufluchtsort gewesen, bis sie nach | |
| Berlin zog. „Ich bin hier aus Solidarität“, sagt sie, „um meinen Kindern… | |
| zeigen, dass ich hier aufgewachsen bin, und auch um zu zeigen, in welcher | |
| Gefahr wir schweben. Es ist nicht leicht, so etwas Kindern zu erklären.“ In | |
| Berlin schütze sie ihre Kinder mit israelischen Security-Männern. „In der | |
| S-Bahn ziehen sie Baseballcaps auf“, sagt sie. Niemand soll ihre Kippa | |
| sehen. Das soll sie vor Anfeindungen bewahren. | |
| ## Nur glückliche Umstände verhinderten ein Blutbad | |
| Doch eine Synagoge oder eine jüdische Gemeinde kann sich nicht tarnen. Die | |
| Tür, die der Täter beschädigte, ist nicht auf den ersten Blick als | |
| Eingangstür zur Synagoge erkennbar. Und nur wenige Kilometer weiter | |
| nördlich hatte auch die liberale jüdische Gemeinde noch keinen Schutz, als | |
| die Stadt schon eine „Amoklage“ erklärt hatte. Ihr Vorsitzender Karl | |
| Sommer, 80 Jahre ist er alt, erzählt, wie er am Mittwoch von der Tat | |
| erfahren hat: durch den Anruf eines britischen Journalisten. Es war ja Jom | |
| Kippur, der höchste jüdische Feiertag, alle Medien bleiben an diesem Tag | |
| von gläubigen Juden unbeachtet. | |
| „Ich habe zu dem Journalisten erst gesagt, da sei doch ein Besoffener | |
| unterwegs gewesen“, erinnert er sich an seine erste Reaktion. „Weder die | |
| Stadt Halle noch die Polizei noch das Land hat uns darüber ins Bilde | |
| gesetzt, dass gerade die Synagoge angegriffen worden war. Unsere Türen | |
| standen weit offen“, berichtet er. Er ist hörbar wütend. „Wäre der bei u… | |
| gelandet, hätte es ein Blutbad gegeben.“ | |
| Am Tag nach der Tat diskutiert das Land über Sicherheitsvorkehrungen für | |
| Gotteshäuser. Doch so sinnvoll ein Streifenwagen vor der Synagoge gewesen | |
| wäre, so wenig hilft diese Maßnahme denen, die zu der zweiten angegriffenen | |
| Gruppe gehören: den Besitzern, Angestellten und Besuchern von Imbissen und | |
| Restaurants, die keine gutbürgerliche deutsche Küche servieren. | |
| ## Der Tatort am Döner-Imbiss | |
| Vor dem Kiez-Döner zeugen Markierungen am Boden noch von der Szenerie, die | |
| sich hier ereignet hat. Frustriert von dem gescheiterten Versuch, in die | |
| Synagoge einzudringen, war der Täter die Schillerstraße hinuntergerast, | |
| direkt auf die breite Ludwig-Wucherer-Straße zu, auf den kleinen Dönerladen | |
| mit seiner grünen Schaufensterbeklebung. Der Täter hat hier zunächst eine | |
| Granate geworfen, die am Türrahmen abprallte. Das Video von Stephan B.s | |
| Helmkamera zeigt, wie die Granate vor einer älteren Dame auf der Straße | |
| detoniert. | |
| Als er in den Imbiss schießt, suchen die Gäste im Laden nach Schutz in der | |
| Toilette und im oberen Ladenbereich zwischen zwei Kühlschränken. Einer von | |
| ihnen wird nach mehreren Ladehemmungen von einem Schuss getroffen. Nach | |
| Medienberichten soll er aus Merseburg kommen, zwanzig Jahre alt sein. | |
| Anwohner und Zeugen sagen, er sei Bauarbeiter gewesen. | |
| Das Werbeschild des Ladens blinkt noch, der Bereich direkt vor dem Laden | |
| ist abgesperrt. Daneben wieder ein Meer aus Blumen. Vor der improvisierten | |
| Gedenkstelle steht eine junge Frau mit einem Fahrrad und weint. | |
| Um sie herum legen Leute Blumen und Kerzen ab. Jemand hat ein paar Worte | |
| auf Druckerpapier geschrieben und in eine Klarsichtfolie gesteckt, der | |
| Zettel hängt an einer Baustellenbefestigung im Blumenmeer: „Ich lasse mir | |
| von keiner auf Hass beruhenden Ideologie die Vielfalt der Stadt zerstören, | |
| die wir alle lieben!“ Und weiter: „Denken wir an die Opfer und ihre | |
| Liebsten, nicht aber an Angst oder Täter.“ | |
| ## „Warum macht jemand so etwas?“ | |
| Die weinende junge Frau heißt Arife Yalniz. Sie ist 28 Jahre alt und | |
| studiert an der Uni Halle Deutsch auf Lehramt, will Deutschlehrerin werden. | |
| Den jungen Mann aus Merseburg, der im Dönerladen erschossen wurde, kannte | |
| sie nicht. „Ich bin einfach sensibel“, entschuldigt sie sich. „Ich kann | |
| einfach nicht verstehen, wieso jemand so etwas macht. Wenn ich die Blumen | |
| sehe und mir vorstelle, dass er eine Familie hat, die jetzt um ihn weint – | |
| wie kann man da nicht weinen?“ Sie war auf dem Weg von der Uni zur Arbeit, | |
| als es passierte. „Ich hatte sofort Angst um meine Freunde, um meine WG. In | |
| so einem Dönerladen mitten in Halle, das hätte ich sein können.“ | |
| Yalniz wünscht sich, dass die Gesellschaft endlich weniger gegeneinander | |
| arbeitet, die Politik etwas gegen den Rechtsextremismus tut, und sie | |
| versucht, ihre Wünsche möglichst positiv zu formulieren. „Mich hat die Tat | |
| dazu gebracht, mehr für demokratische Bildung und Zuneigung unter den | |
| Menschen tun zu wollen.“ | |
| Der Mann, dem der vietnamesische Sushi-Laden gegenüber dem Döner in Halle | |
| gehört, will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er ist von schmaler | |
| Gestalt, trägt eine Trainingsjacke und eine eckige Brille. Vor seinem | |
| Restaurant befindet sich eine Treppe, auf der saßen die Brüder vom | |
| Döner-Imbiss gegenüber nach der Tat. Er sagt, er habe in Halle bisher | |
| keine Angst gehabt. | |
| Am Mittwoch aber wurde direkt auf der anderen Straßenseite im „Kiez-Döner“ | |
| ein zwanzigjähriger Mann aus Merseburg erschossen, einfach weil er sich in | |
| dem Restaurant aufhielt. „Es hätte auch uns treffen können. Kurz bevor der | |
| Täter eintraf, bin ich für ein paar Minuten weggefahren. Stellen Sie sich | |
| vor, ich wäre zurückgekommen und meinen Mitarbeitern wäre etwas passiert.“ | |
| Einer seiner Kollegen sei dann rüber zur Dönerbude gelaufen und habe die | |
| Tatwaffe fotografiert, als der Täter aus dem Laden heraus war. „Dann kam | |
| der Täter zurück. Da sind meine Mitarbeiter schnell in mein Restaurant | |
| gelaufen und haben sich verbarrikadiert“, erzählt er. „Es hat so lange | |
| gedauert, bis die Polizei eingetroffen ist. Das hat mich schon gewundert. | |
| Und dann haben sie sich so unerfahren verhalten.“ Ismet Tekin hat mit so | |
| etwas nicht gerechnet. Bis gestern hat er im Kiez-Döner gearbeitet, er und | |
| sein Bruder waren es, die nach der Tat noch beim Sushi-Imbiss auf der | |
| Treppe saßen. Später standen sie vor der Straßensperrung in der | |
| Schillerstraße, von der aus sie ihren Laden sehen konnten, mit der | |
| Spurensicherung drinnen. Er war nur kurz fortgegangen, um etwas zu | |
| besorgen, erzählt er, „fünf, sechs Minuten nur“. Dann habe sein Bruder | |
| angerufen, dass etwas passiert sei. Tekin sei zurückgelaufen; als er an der | |
| Straßenecke ankam, drehte er sich um. „Der Täter war da. Er hat auf die | |
| Polizei geschossen. Die hat zurückgeschossen. Es war nicht real.“ Sein | |
| Bruder, der hinter der Theke stand, als der Täter hineinkam, habe sich bei | |
| dessen Anblick sofort auf den Boden geworfen. | |
| Tekin sagt: „Ich habe keine Angst. Ich habe nichts Böses gemacht, dann will | |
| ich auch keine Angst haben müssen.“ Klar habe er die Bilder noch vor Augen. | |
| „Gestern bin ich nach Hause gegangen, habe noch Nachrichten angemacht und | |
| habe die Augen zugemacht. Da waren die Bilder da. Augen auf, waren sie weg. | |
| Augen zu, wieder da.“ | |
| ## Es hätte jeden treffen können | |
| Es wird dauern, bis in Halle an der Saale wieder Ruhe einkehrt. Wie frisch | |
| alles noch ist, merkt man auch an der Antwort, mit der der | |
| Gemeindevorsitzende der Synagoge, Max Privorozki, auf die Reporterfragen | |
| antwortet. „Wir werden erst einmal verarbeiten, was passiert ist.“ | |
| „Ich hoffe, dass das ein Signal ist an Menschen, die hier Frust haben und | |
| rechte Parteien gut finden“, sagt der Mann vom Sushi-Restaurant. „Dieser | |
| Mann gestern hätte genauso gut einen von ihnen töten können. Die Frau, die | |
| er erschossen hat, die war hier im Viertel bekannt, einer meiner | |
| Mitarbeiter kennt sie. Sie war früher viel bei künstlerischen | |
| Veranstaltungen und Konzerten unterwegs. Wenn er sie getötet hat, hätte er | |
| auch jeden anderen töten können. Und dann hat er auf Bauarbeiter | |
| geschossen, die hier gearbeitet haben. Das hätte auch jeder hier sein | |
| können. Ich hoffe, die Menschen, die Frust haben, wachen jetzt auf.“ | |
| Mitarbeit: Daniel Schulz | |
| 10 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Helke Ellersiek | |
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