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# taz.de -- Terror und die Mitte der Gesellschaft: Kollektiver Einzeltäter
> Der antisemitische Anschlag in Halle kam nicht von ungefähr. Das
> Schweigen der Mehrheitsgesellschaft ermutigt rechtsextreme Gewalttäter.
Bild: Ermutigung für Einzeltäter – nationalistischer Aufmarsch 2018 in Berl…
Als die Polizei [1][am Mittwoch nach dem antisemitischen Terroranschlag in
Halle] ermittelte, fahndete sie zunächst nach mehreren Tatbeteiligten.
Lange nachdem der Täter Stephan Balliet gefasst war, kamen dann die
Meldungen über den Ermittlungsstand: Es sei doch ein Einzeltäter gewesen.
Das bedeutet in der Sprache von Ermittlern zunächst lediglich, dass man
davon ausgeht, dass es einen einzelnen Tatbeteiligten gegeben hat. Auch
jetzt ist das noch der Stand der Ermittlungen.
Der zunächst auch als Einzeltäter geltende Stephan Ernst, der im Juni den
Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet haben soll, stellte
sich innerhalb von wenigen Wochen als ein in rechtsextremen Strukturen gut
eingebundener Neonazi heraus, [2][der nicht nur Demonstrationen der AfD
besuchte], sondern auch mindestens einen ganz konkreten Helfer bei seiner
Tat hatte. Auch von der lange als „NSU-Trio“ bezeichneten rechtsextremen
Terrorgruppe kennt man mittlerweile ein Unterstützerumfeld mit vielen
Dutzend Helfenden.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch bei dem rechtsextremen Täter von
Halle noch Unterstützer, Helfer oder Mitwisser ermittelt werden. Doch
selbst wenn er sich als Täter ohne ein entsprechendes Umfeld herausstellt,
war er nicht allein. Der Begriff Einzeltäter suggeriert immer genau das:
Ein Einzelner, der irgendwo in seinem stillen Kämmerlein durchdreht,
vermutlich verrückt ist, schreitet unabhängig vom Rest der Welt zu einer
grausamen, einzelnen Tat. Das klingt so wunderbar entlastend in unseren
Ohren. Es klingt, als hätten wir alle nichts mit dem Mörder zu tun, als
gäbe es kein größeres, strukturelles Problem. Und gerade deshalb ist es so
falsch.
In dem Livevideo, das der Täter Stephan Balliet von seiner Tat ins Internet
und damit an die internationale Rechtsterrorismus-Community übertrug, wird
seine Ideologie deutlich. Stephan Balliet ist ein Antisemit und
Verschwörungsideologe. Er glaubt, dass die Juden schuld an allen Übeln
dieser Welt sind. Für ihn sind diese Übel: Die Migration, der Feminismus,
die Geburtenraten. Er glaubt an eine Erzählung, die die rechtsextreme
Identitäre Bewegung den „großen Austausch“ nennt. Demnach würde die
Bevölkerung in Staaten des Westens planvoll ersetzt und ausgetauscht
werden, nach Balliets Lesart eben kontrolliert durch die Juden. Mit
dieser Erzählung ist er nicht allein, auch wenn nicht jeder so deutlich
sagt, wen er für verantwortlich hält.
Im Bundestag und allen Landtagen und so mancher Talkshow sitzt eine Partei,
deren Funktionäre auch schon vom „großen Austausch“ gesprochen haben.
Die Ideologen, Politiker und Anhänger der AfD sind gegen den Feminismus und
die Migration, viele glauben an Geheimpläne eines Bevölkerungsaustauschs.
Der ein oder andere AfD-Vertreter hat offen ausgesprochen, wer dahinter
vermutet wird: Mal soll es die jüdische Bankiersfamilie Rothschild, mal
der jüdische Investor Georg Soros sein. Die meisten Funktionäre der
rechtsextremen Partei verzichten darauf, „die Juden“ für alles
verantwortlich zu machen. Wer als bürgerlich und konservativ gelten will,
überlässt den offenen Antisemitismus lieber seinen radikalen Anhängern und
Bündnispartnern. Zum Beispiel einem Typen wie Stephan Balliet.
Der Begriff Einzeltäter verstellt den Blick auf die global vernetzte
rechtsextreme Szene, ihre Strukturen, ihre gemeinsamen Erzählungen und
Narrative, ihre Ideologie. In Internetforen versammeln sich unzählige
Anhänger der rechtsextremen Terroristen von Utøya, Charlottesville,
Christchurch, Pittsburgh, El Paso. Das, was der Terrorist aus Halle in
seinem Video sagt, ist in dieser Szene, die auch in Deutschland viele
Anhänger hat, mehrheitsfähig. Einzeltäter, das klingt wie: „Es gibt nichts
zu sehen, bitte gehen Sie weiter.“
Es gibt aber was zu sehen. Die Liste der Verfahren wegen Rechtsterrrorismus
beim Generalbundesanwalt wird immer länger. Alle paar Wochen werden
gigantische, illegale Waffenlager gefunden. In Chatgruppen tauschen sich
unzählige Terrorfans aus, jeder von ihnen ist eine potenzielle, tickende
Zeitbombe. Einige bereiten sich auf den „Tag X“ vor. Am 2. Oktober wurde
einer Jüdin im niederbayerischen Massing ein Stein an den Kopf geworfen, am
4. Oktober wurde ein Mann mit einem Messer vor einer Synagoge in Berlin
festgenommen, am 9. Oktober wurde die Synagoge in Halle angegriffen.
Und weil es so viel zu sehen gibt, hat das auch mit uns allen zu tun. In
einer Gesellschaft, in der Antisemitismus überall, wo er sich zeigt – sei
es im Ingame-Chat eines Computerspiels, in einer Zeitungsredaktion, in
einer Kneipe, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in sozialen Netzwerken,
auf der Fanmeile, in der Moschee oder am Familientisch— vehementen
Widerspruch und konsequente Ächtung erfahren würde, hätten es die viel
beschworenen „verwirrten Einzeltäter“ schwerer, sich zu verwirren.
Jede einzelne Tat belegt, wie oft in dieser Gesellschaft vorher weggeschaut
werden musste, damit der jeweilige Täter sich zur Tat ermutigt fühlen
konnte. Jede Tat zeigt, wie wenig diese Gesellschaft als Ganze noch immer,
trotz aller Sonntagsreden, gegen Antisemitismus tut. Mit unserem Schweigen,
unserem Nichtstun, unserem Wegschauen machen wir uns mitschuldig – als
kollektiver Einzeltäter.
10 Oct 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Alexander Nabert
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