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# taz.de -- Halle nach dem Anschlag: Rausgehen, gegen die Angst
> Nach dem rechtsextremen Anschlag in Halle ist die Stadt wie leer gefegt.
> Doch einige Hallenser wollen sich von der Angst nicht unterkriegen
> lassen.
Bild: Trauernde auf dem Marktplatz von Halle. Es ist komplett still auf dem son…
Halle taz | Es ist ausgerechnet die Straßenbahnlinie 1 Richtung „Frohe
Zukunft“, welche die Innenstadt von Halle nach Nordosten mit den Tatorten
verbindet. Hier auf dem Marktplatz, nur drei Stationen von der Synagoge und
dem nahe gelegenen Döner-Imbiss entfernt, [1][wo Mittwochmittag zwei
Menschen getötet wurden], stehen am Mittwochabend etwa 500 Menschen und
legen Kerzen vor der Marktplatzkirche ab. Die vielen, vorwiegend jungen
Leute bilden einen Kreis, sie schweigen. Es ist komplett still auf dem
sonst so belebten Platz, nur die Motoren der Polizeiautos am Rand der
Versammlung brummen. In der Mitte der Menge beleuchten Kerzen die
Gesichter, Redebeiträge gibt es keine: Das Bündnis „Halle gegen Rechts“,
das diese Versammlung angemeldet hat, fand es unpassend für diesen Abend.
Es ist ein friedliches Bild, das Hoffnung gibt in einer ansonsten leer
gefegten Innenstadt. Halle an der Saale hat ausgerechnet an Jom Kippur, dem
Fest der Versöhnung, dem höchsten jüdischen Feiertag, [2][einen
rechtsextremen Anschlag erlebt]. Gerade mal acht Stunden ist es da her.
Erst hört man Schüsse, dann folgt die Polizeimeldung: Es gab Tote, Täter
flüchtig, bitte zu Hause bleiben, Fenster und Türen schließen. Der
Bürgermeister ruft die Amoklage aus. Dazu kommen Gerüchte. Es soll noch
eine Geiselnahme in einer Edeka-Filiale in der Südstadt geben, hieß es, mit
70 Geiseln. Was stimmt nun, wo ist man sicher, wie kommt man nach Hause,
sind noch Täter auf der Flucht? Die Verunsicherung ist groß.
Rund sechs Stunden dauert es vom ersten Schuss an, bis die Entwarnung durch
die Polizei kommt, um 18.01 Uhr. Bis zum Abend kommen die Fakten zusammen:
Der mutmaßliche Täter heißt Stephan B., ist 29 Jahre alt, kommt aus
Sachsen-Anhalt. Zwei Menschen hat er getötet, einen Bauarbeiter im
Dönerladen, eine Frau vor dem jüdischen Friedhof nahe der Synagoge. Der
Täter streamte seine Tat live auf dem Videoportal Twitch und [3][hetzte
dabei gegen Juden, Feministen und „Kanaken“]. Er ist offensichtlich
Rechtsextremist. Und hätte er es durch die Tür in den Gemeindesaal der
Synagoge geschafft, hätte er allein dort bis zu 80 Menschen töten können.
Hätte er keine selbst gebastelten Waffen benutzt, wären weitere Passanten
gestorben.
Und so bleibt das Aufatmen auf den Straßen aus: Als die Gefahrenwarnung
aufgehoben wird, ist es noch hell, aber kaum ein Laden hat geöffnet, kaum
jemand ist auf der Straße, nur alle paar Straßenecken sieht man
erschreckend schwer ausgerüstete Polizisten mit Helmen, schweren Westen und
teils auch schweren Waffen. Die einzigen Passanten auf der Straße sind
Leute, die durch die Polizeisperrungen nicht in ihre Wohnungen können, oder
Anwohner, die ihre Hunde ausführen, die meisten gehen nur hastig zur
nächsten Grünfläche und wieder zurück ins Haus. Das sonst so laute, bunte
Paulusviertel mit seinen Kneipen, Cafés und Restaurants ist still.
Nur ein Café wenige Meter von den beiden Tatorten entfernt hat geöffnet. Es
war kurz nach der Tat vom SEK abgeriegelt worden, die Leute darin saßen
stundenlang fest. Am Abend ist es selbst dort ruhig, es sitzen darin nur
noch sich aufwärmende Journalisten, die Angestellten sind erschöpft und
wollen möglichst bald Feierabend machen. Es war ein langer Tag, und heute
kommt ohnehin niemand mehr, um einfach so einen Kaffee zu trinken.
## Ein Zeichen gegen die Angst vor dem Hinausgehen
Auch in der fünfzehn Gehminuten entfernten und zentraler gelegenen
Geiststraße haben die meisten Läden zu, nur zwei Dönerläden und ein Späti
haben geöffnet. Draußen rattert die erste Straßenbahn seit der
Totalsperrung vorbei, drinnen warten ein paar Gäste auf ihr Essen. Es läuft
keine Musik. Zweimal gibt es an der Schaufensterscheibe ein lautes
Geräusch, als ein Student sein Fahrrad dort parkt und mit dem Lenker
dagegenstößt. Die Gäste zucken zusammen, drehen sich um, am Mittag erst
waren schließlich auch Leute einfach nur einen Döner essen, jetzt ist einer
von ihnen tot, die Angestellten unter Schock. „Ich weiß, es ist gefährlich
eigentlich“, antwortet der Besitzer auf die Frage, ob er sich Sorgen macht.
„Aber was soll man machen? Es ist ja jetzt auch vorbei.“
Ein Gast meint, ihn hätten heute besonders die vielen Gerüchte nervös
gemacht. „Die Leute drehen durch bei so was, und dann kann man irgendwann
Fake News und die wirklichen Geschehnisse einfach nicht mehr
auseinanderhalten.“ Die erwähnte Geiselnahme hatte es nicht gegeben, die
Polizei dementierte das Gerücht am Mittag. Es hielt sich trotzdem
hartnäckig. Das Gefühl der Bedrohung verschwindet nicht so schnell.
Dennoch ist die spontane, abendliche Trauerveranstaltung auf dem Marktplatz
nur von drei Polizeiautos gesichert. Die Leute, die hier zusammengekommen
sind, haben die Angst überwunden und ihre Wohnung verlassen, sie geben kein
repräsentatives Bild der Stimmung in der Stadt ab. Aber sie setzen ein
Zeichen gegen die Angst vor dem Hinausgehen. „Ich bin allein schon hier, um
jetzt nicht allein zu sein, sondern mit anderen zusammen“, sagt eine
20-jährige Studentin, die mit ihren Freunden hergekommen ist. „Man sitzt
sonst zu Hause und wartet darauf, bis die Angst vorbeigeht. Es ist ein
dumpfes, lähmendes Gefühl, man fühlt sich einfach machtlos.“
Bis zur Nacht entscheiden sich dann einige wenige Kneipen doch noch, ihre
Türen zu öffnen. Wenige Meter entfernt vom Kiez-Döner, vor dem jetzt ein
Zelt der Spurensicherung steht, hat das „Evergreen“ geöffnet, darin viele
Anwohner, die schon am Tag vor den Straßensperrungen auf die Erlaubnis zur
Rückkehr in ihre Wohnung gewartet hatten. Vor der Kneipe diskutiert eine
Gruppe von Freunden, die sich regelmäßig per Whatsapp zum Kneipenabend
verabreden. Einer von ihnen hat das Tätervideo zugeschickt bekommen und in
die Chatgruppe weitergeleitet. Gibt das dem Täter ein unnötiges Forum?
Viele finden: Ja. Der Mann verteidigt sich: „Den ganzen Tag hab ich den
dicken Mann markieren müssen, im Büro eingesperrt mit lauter Frauen, die
ich beruhigen musste“, meint er. „Vielleicht musste ich das heute auch
einfach mal verarbeiten?“
Er war noch gestern im Kiez-Döner, erzählt er. Die Bestellung sei nicht
richtig gewesen, er habe sich beschwert und kein Trinkgeld gegeben. „Und am
nächsten Tag passiert so was, und der Mitarbeiter ist unter Schock im
Fernsehen. Da fragt man sich schon, wieso war man so …“ – er vollendet den
Satz nicht. Er muss es auch nicht. Die Menschen in der Nachbarschaft wurden
an diesem Tag aus ihrem Alltag gerissen, mussten plötzlich um ihre Familie
und Freunde bangen. Einige wollen jetzt am Abend in der Kneipe die
Geschehnisse sacken lassen, darüber reden. „Es muss wieder Normalität
einkehren“, sagt Michael, er steht mit in der Runde. „Was die wollen, ist
ja, dass man Angst hat, dass man sich dreimal überlegt, ob man heute Abend
noch rausgeht. Das ist doch deren Plan.“ Doch wie so vieles, was der Täter
für diesen Tag geplant hatte, ist auch das nicht vollständig aufgegangen.
10 Oct 2019
## LINKS
[1] /Rechtsextremer-Anschlag-in-Halle/!5632505
[2] /Schuesse-und-Tote-in-Halle-/!5628784
[3] /Antisemitischer-Anschlag-in-Halle/!5628649
## AUTOREN
Helke Ellersiek
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