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# taz.de -- Briefe an Brandanschlags-Opfer: Solidarität ausgebremst
> Nach dem Brandanschlag von Mölln schreiben viele Menschen den Familien
> der Opfer. Diese Briefe erreichten die Betroffenen erst Jahrzehnte
> später.
Bild: Zahlreiche Briefe sollten nach dem Brandanschlag von Mölln das Mitgefüh…
Nach dem [1][Brandanschlag in Mölln vor 30 Jahren] hatten viele das
Bedürfnis, den betroffenen Familien Yilmaz und Arslan ihr Mitgefühl
schriftlich auszudrücken. In der Nacht vom 23. November 1992 waren in dem
Haus in der Mühlenstraße der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Yeliz
Arslan, zehn Jahre alt, Ayşe Arslan, 13 Jahre alt, und Bahide Arslan, 51
Jahre alt, gestorben. Privatleute, Personen des öffentlichen Lebens,
Schulen und Vereine schickten Trauerkarten und Briefe. Diese
Solidaritätszeugnisse indes blieben Jahrzehnte lang liegen – die Stadt
leitete sie nicht weiter. Deshalb haben die Angehörigen sie nun einem
Archiv weit weg überlassen: in Köln.
Unter den 467 Beileidsbekundungen sind auch Kinderzeichnungen. Bunte Bilder
von einem brennenden Haus, Polizei- und Feuerwehrfahrzeugen, auf dem
Menschen Schilder hochhalten: „Wir wollen keinen Hass gegen Ausländer“,
„Nazis raus“ und „Wir wollen keinen Hass“ steht dort in Kinderschrift
geschrieben. Die Stadt Mölln hatte dazu aufgerufen, den Angehörigen der
Opfer ihre Anteilnahme auszudrücken.
In der Nacht des 23. November vor 30 Jahren hatten die Rechtsextremen
Michael Peters und Lars Christiansen um ein Uhr morgens mehrere
Molotowcocktails in das Haus geworfen, in dem zehn Menschen türkischer
Herkunft lebten. Als sie sahen, dass der Eingang des Gebäudes im alten
Stadtzentrum Feuer gefangen hatte, riefen sie um 1.08 Uhr die Feuerwehr an
und sagten: „In der Mühlenstraße brennt es! Heil Hitler!“. Bereits eine
halbe Stunde zuvor hatten sie schon einmal bei der Feuerwehr angerufen: „In
der Ratzeburger Straße brennt es, Heil Hitler!“ In der Ratzeburger Straße
konnten sich, anders als in der Mühlenstraße, alle Bewohner retten.
Die an sie gerichteten Briefe, Zeichnungen und Trauerkarten [2][erhielten
die Familien damals nicht]. „Keinen einzigen Brief hat die Stadt damals an
meine Familie weitergeleitet“, sagt Ibrahim Arslan, der als Siebenjähriger
den Anschlag überlebt hat. Dreieinhalb Stunden nach dem Brand in der
Mühlenstraße fand die Feuerwehr den Jungen völlig verrußt und gänzlich vom
Löschwasser unterkühlt. „Der überwiegende Teil der Briefe ist seinerzeit in
der Teestube in der Möllner Seestraße eingegangen und von dort später an
die Stadt weitergeleitet worden“, [3][erklärte der Möllner Bürgermeister
Jan Wiegels 2020] der taz.
## Briefe als Zufallsfund
Vor zwei Jahren fasste Arslan wegen der Briefe nach. Erst durch einen
Zufall hatte er 2019 von ihnen erfahren, durch eine Studentin, die im
Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit durch einen Archivar auf die Ordner
aufmerksam gemacht worden war. Die Briefe seien damals zunächst in das
Ordnungs- und Sozialamt gelangt und später in das Stadtarchiv überführt
worden, sagte Wiegels dazu. Aus den zahlreichen Beileids- und
Solidaritätsbekundungen machte die Verwaltung 1993 eine Zusammenstellung,
die auch der Presse zugänglich war.
Als Arslan nachfragte, erhielt er die Originalschreiben und Kopien der
allgemeinen Kondolenzschreiben „umgehend“, so der Bürgermeister. Der
Betroffene erinnert die Übergabe etwas anders. „Bei der Stadt musste ich
ziemlichen Druck aufbauen und betonen, dass die Briefe, die an uns
adressiert sind, uns auch gehören“, sagt Arslan. „Für mich ist nicht
nachvollziehbar, warum meine Familie die Schreiben nicht sofort erhalten
hat.“ Mit Lichterketten und Demonstrationen sei ihnen damals
deutschlandweit Solidarität ausgedrückt worden. Um so bedauerlicher, dass
die Anteilnahme, die die Möllnerinnen und Möllner ausdrücken wollten, die
Betroffenen gar nicht erreichte.
„In diesen persönlichen Briefen spürt man eine tiefe Solidarität. Es hätte
uns damals geholfen zu lesen, dass wir nicht alleine sind“, sagt Arslan,
der seit Jahren mit weiteren Opfern rechter Gewalt in Kontakt steht. „Wir
denken, dass die Opfer des historischen Nationalsozialismus enger mit den
Opfern des aktuellen Rechtsextremismus zusammenarbeiten sollten“ – auch um
politischen Druck aufzubauen. Der Stadt wirft er vor, durch das
Zurückhalten der Briefe auch eine Vernetzung mit Shoah-Überlebenden
verhindert zu haben, etwa der „[4][Lagergemeinschaft Ravensbrück]“.
Die Briefe an die beiden Möllner Familien hat das [5][Dokumentationszentrum
und Museum über Migration in Deutschland] e. V. (Domid) jetzt vollständig
digitalisiert. In den Archivräumen in Köln-Ehrenfeld ist das Briefkonvolut
für Forschende nach Voranmeldung zugänglich. Nach Köln ist es 2021
gekommen. Durch das „Vertrauensverhältnis“ zwischen dem Institut und den
Familien sei es ihnen leicht gefallen, sie dem Zentrum anzuvertrauen, sagt
Domid-Sprecher Timo Glatz. Dort verwendet man für die Materialsammlung den
Begriff, den auch die Familien selbst benutzen: die „Möllner Briefe'“
Dass sie die Briefe gerade dem Kölner Zentrum überließen, hat für Ibrahim
Arslan mit dessen Forschungsansatz zu tun: „Domid ist der Ort, wo
Migrationsgeschichte erzählt, aufgearbeitet und studiert wird“, sagt er.
„Für unsere Familien war klar, dass diese Briefe auch dort aufbewahrt
werden sollen, wo nicht nur weiße Dominanzgesellschaft erzählt, sondern
dort, wo auch die Geschichten unserer Familien erzählt werden.“
17 Nov 2022
## LINKS
[1] /30-Jahre-Moelln-Anschlag/!5891887
[2] /Stadt-haelt-Beileidsschreiben-zurueck/!5729128
[3] /Stadt-haelt-Beileidsschreiben-zurueck/!5729128
[4] https://lg-ravensbrueck.vvn-bda.de/
[5] https://domid.org/news/domid-bewahrt-moellner-briefe-auf/
## AUTOREN
Andreas Speit
## TAGS
Anschlag
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