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# taz.de -- Justizdrama „Naomis Reise“: Abgründiger Sog
> „Naomis Reise“ erzählt vom Prozess um den Mord an einer Migrantin in
> Deutschland. Er zeigt, wie die Justiz Machtverhältnisse
> institutionalisiert.
Bild: Protagonistin Naomi (Scarlett Jaimes) ist Nebenklägerin im Prozess
Viel wird derzeit gesprochen über legale Wege der Einwanderung. Für
mittellose, nichteuropäische Personen gilt nach wie vor: Der einzig sichere
Weg nach Deutschland ist der sogenannte Ehegattennachzug. Welchen Gefahren
und Stigmata insbesondere Frauen ausgesetzt sind, deren Aufenthaltsrecht an
einen bestimmten Mann gebunden ist, thematisiert Frieder Schlaichs Film
„Naomis Reise“.
Schlicht und unaufgeregt zeichnet das Justizdrama (koproduziert vom Kleinen
Fernsehspiel des ZDF, das sich in den letzten Jahren häufiger mit
interessantem Nachwuchskino hervorgetan hat) die Aufklärung eines
tragischen Mordfalls nach.
Der geht so: Eine junge Peruanerin lernt einen Deutschen kennen, der gerade
Urlaub in ihrer Heimat macht. Die beiden heiraten, ohne sich lange zu
kennen. Die Frau zieht nach Deutschland, der Mann missbraucht sie
regelmäßig. Nach fünf Jahren Ehe und der Geburt eines gemeinsamen Sohnes
will sie sich scheiden lassen. Doch bevor sie sich ein eigenes Leben
aufbauen kann, erschlägt ihr deutscher Noch-Ehemann sie eines Nachts mit
dem Hammer, steckt die Leiche in eine Kiste und versenkt diese im Berliner
Landwehrkanal.
Dargestellt wird diese Szene im Film nicht – was das Ganze nicht weniger
brutal macht. Wir hören die Geschichte nämlich immer wieder in
unterschiedlichen Versionen, mit neuen Details angereichert, im Saal des
Amtsgerichts Berlin-Moabit, den der Film selten verlässt. Im Prozess gegen
den Witwer, an dessen Ende entschieden werden soll, ob es sich um
heimtückischen Mord oder Totschlag gehandelt hat, wird die verstorbene
Mariella in kalter Amtssprache „die Geschädigte“ genannt.
## Echte Justizbeamte im Cast
Sie bliebe komplett anonym und gesichtslos, hätten die Freundinnen der
Verstorbenen nicht Geld zusammengekratzt, um ihre Mutter (Liliana Trujillo)
sowie Schwester Naomi (Scarlett Jaimes) als Nebenklägerinnen aus Lima
einzufliegen.
Es ist Naomis mal stoisches, mal wütendes Gesicht, auf dem sich neben dem
Gerichtsprozess ein zweiter abspielt, der Trauerprozess. Naomis Perspektive
ins Zentrum des Films zu rücken ist eine kluge Entscheidung. Die junge Frau
lernt Deutschland auf die grausamste Weise kennen: in der betont
nüchternsten aller Institutionen, in der jeder Diskriminierungsvorwurf als
haltlos niedergeschmettert wird, während der Verteidiger die bedürftigen
Familienangehörigen von lateinamerikanischen Frauen mit hungrigen Ameisen
vergleicht. Willkommen in der deutschen Realität.
Dass der Film, der anfangs wie ein nettes Melodrama anmutet, einen
abgründigen Sog entfaltet, dafür sorgen die naturalistischen
Gerichtsszenen. Die Justizbeamten im Film wurden mit echten Justizbeamten
besetzt. Das ist spätestens in Minute zehn klar, wenn der Richter
mechanisch Sätze herunterrattert ohne die theatralischen Gebärden, die
deutsche Filme in diesem Setting normalerweise so unerträglich machen.
Auch das Drehbuch von Claudia Schäfer basiert auf den Beobachtungen
ähnlicher Prozesse in Berlin. Die Verschränkung von Sexismus und Rassismus
in der Tat selbst wie vor Gericht wirkt so gewöhnlich und alltäglich, dass
es beim Zusehen förmlich schmerzt. „Die gemeinsame Vorliebe für
ausländische Frauen“, so beschreibt etwa ein Zeuge seine Freundschaft zum
Angeklagten.
## Rassistische Motivation
Als Sextouristen leben sie ganz selbstverständlich ihren Latinafetisch auf
Reisen aus. Die Frauen wiederum, die auch in Gestalt von Mariellas
Freundinnen auf der Zeugenbank auftauchen, werden im männlich dominierten
Gerichtssaal als gierige Eindringlinge gezeichnet, die gekommen sind, um
Deutschland etwas wegzunehmen.
Der Film bildet ab, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse von der Justiz
nicht nur reproduziert werden, sondern vor allem institutionalisiert. So
geht die Strategie der Nebenklageanwältin, die rassistische Motivation des
Angeklagten als niedrigen Beweggrund anerkennen zu lassen, gründlich
schief. Denn um dies zu erwirken, so stellt der Verteidiger fest, muss die
Gesinnung des Angeklagten erheblich vom „deutschen gesellschaftlichen
Wertesystem“ abweichen – eine Formulierung, die gerade neben den aktuellen
Diskussionen rund um Chemnitz und „die Mitte der Gesellschaft“ katastrophal
klingt.
Und um das Motiv der Habgier abzustreiten (Scheidungskosten, Unterhalt),
werden immer wieder der Reichtum des Angeklagten und die ärmlichen
Verhältnisse des Opfers in den Fokus der Verteidigung gerückt.
Glücklicherweise inszeniert Regisseur Schlaich aber als Gegengewicht zur
Schwere des Prozesses die Entwicklung der Protagonistin Naomi. Die junge
Nebenklägerin, die anfangs nur auf Druck ihrer Mutter den Prozess besucht
und immer wieder ihre Tränen und Ohnmacht vor Gericht unterdrücken muss,
gewinnt eine Stärke, die sie davor bewahrt, als einseitige Opferfigur zu
enden.
Nach einem Kollaps ihrer Mutter muss Naomi fortan den Prozess allein
verfolgen. Ihre Haltung wird aufrechter. Sie lernt ein paar Brocken
Deutsch, beginnt eigene Fragen zu formulieren und erweitert ihren Blick auf
Berlin bei Radtouren durch Kreuzberg. Am Ende steht die Frage, ob es für
die junge Frau trotz der traumatisierenden Bedingungen ihrer Ankunft eine
Zukunft in Deutschland geben kann. Sie bleibt unbeantwortet.
12 Sep 2018
## AUTOREN
Fatma Aydemir
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Sexismus
Justiz
Deutscher Film
Kleines Fernsehspiel
Migration
#Unteilbar
taz.gazete
Schwerpunkt Flucht
Pogrom
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