# taz.de -- Thriller aus Nahost: Das Leiden am Kollektiv | |
> Der Spielfilm "Ajami" von Yaron Shani und Scandar Copti arbeitet bewusst | |
> mit bruchstückhaften Informationen. Das soll den Erkenntnisprozess beim | |
> Publikum provozieren. | |
Bild: Szene aus "Ajami". | |
Samstagabend vor ein paar Wochen: In Ajami, einem Viertel der israelischen | |
Küstenstadt Jaffa, entdeckt eine Polizeistreife verdächtige Jugendliche. | |
Die Polizisten nehmen an, dass die Jungs Drogen verstecken. Die jungen | |
Männer aber sagen, sie hätten nur einen toten Hund beerdigt. Es kommt zu | |
einem Handgemenge zwischen Polizisten und Anwohnern. Zwei der jungen Männer | |
werden verhaftet und zur weiteren Befragung aufs Revier gebracht. Einer von | |
ihnen ist Tony Copti. Tony ist Nebendarsteller in dem Spielfilm "Ajami"; | |
sein Bruder Scandar Copti ist Koregisseur und spielt selbst die Rolle des | |
Binj, dessen Bruder verdächtigt wird, einen Mann erstochen zu haben. | |
Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass "Ajami" nah am Leben ist, dann | |
war die Realität des Viertels so freundlich, ihn zu liefern. Sieben Jahre | |
haben Yaron Shani und Scandar Copti, ein jüdischer und ein arabischer | |
Israeli, an "Ajami" gearbeitet. Sie haben lange am Buch geschrieben, dann | |
Laiendarsteller gesucht und mit ihnen Workshops gemacht. Gedreht wurde nur | |
23 Tage lang, wobei die Schauspieler das Script nicht kannten. Sie bekamen | |
Anweisungen für die jeweils zu drehende Szene, die es zu improvisieren | |
galt. Sie durchlebten so chronologisch ihre jeweiligen Plots. Dann | |
schnitten Shani und Copti eineinhalb Jahre lang, um ihre Geschichte auf | |
eine Art und Weise zu erzählen, die eine multiperspektivische Sicht auf die | |
Welt repräsentiert: Jeder der Charaktere erlebt die gemeinsame Welt Ajamis | |
anders. | |
Das nördliche Tel Aviv - die "weiße" Bauhaus-Stadt - ist reich und | |
gepflegt. Der Süden Tel Avivs und das alte Jaffa aber - die "schwarze" | |
Stadt der Immigranten und Araber - ist arm, heruntergekommen und schmutzig. | |
Zumindest war es bis vor wenigen Jahren so. Im Süden der Metropole Tel | |
Aviv-Jaffa ist ein heftiger Gentrifizierungsprozess im Gang, der auch Ajami | |
erfasst hat. Die Hafenstadt Jaffa bietet schöne Altbauten aus dem 19. | |
Jahrhundert, wobei die Preise in den letzten vier Jahren schon um bis zu 80 | |
Prozent gestiegen sind. Heute leben gut 40.000 Menschen in Jaffa, 22.000 | |
Juden und 18.000 Araber. Von Letzteren sind 12.000 Moslems und 6.000 | |
Christen. | |
In jüngster Zeit wird in Ajami heftig um das Bauprojekt einer Gated | |
Community für nationalreligiöse Juden der Upperclass gestritten. Die | |
politische Idee hinter der Ansiedlung besteht darin, die Zielgruppe aus | |
Siedlungen im palästinensischen Westjordanland herauszuholen und innerhalb | |
der Grenzen Israels anzusiedeln. Eine lokale Initiative und eine | |
israelische Bürgerrechtsorganisation versuchen das zu verhindern. Die | |
Grenze verläuft aber auch in Ajami nicht nur zwischen den Völkern, sondern | |
vielleicht noch deutlicher zwischen oben und unten: reichen und armen | |
Juden, Juden mit einem Auskommen und mittellosen Arabern, eher wohlhabenden | |
christlichen und ökonomisch eher schwachen muslimischen Arabern. | |
Das sorgt für Konflikte. In "Ajami" kreuzen sich dementsprechend die Wege | |
einer Vielzahl von Protagonisten - und zwar nicht selten auf | |
verhängnisvolle Weise. Die ersten beiden Kapitel handeln von Omar (Shahir | |
Kabaha) aus Ajami und Malek (Ibrahim Frege) aus einem Dorf bei Nablus. | |
Beide sind Muslime. Der siebzehnjährige Omar versucht verzweifelt Geld zu | |
beschaffen, um seine Familie vor der mörderischen Fehde eines Beduinenclans | |
zu schützen. Der noch jüngere Malek arbeitet im Restaurant Babai mit Blick | |
aufs Meer (neben dem im echten Leben der Regisseur Scandar Copti wohnt). Er | |
versucht Geld für die Operation seiner todkranken Mutter zu sammeln. Ein | |
Drogendeal scheint die einzige Hoffnung zu sein. | |
Das kann nicht gutgehen. Der Geschäftsabschluss scheitert in einem | |
Parkhaus. Die filmische Narration kippt nun aus einer chronologischen | |
Erzählung in ein komplexes Netz von Parallelgeschichten, die als | |
Rückblenden erzählt werden. In ihr spielen Omars kleiner Bruder Nasri | |
(Fouad Habash), Maleks christlicher Chef (Youssef Sahwani) und seine | |
Tochter Hadir (Ranin Karim) sowie ein jüdischer Polizist (Eran Naim) | |
wichtige Rollen. | |
Mehr noch als sonst bei Filmbesprechungen verbietet es sich, zu viel über | |
den Fortgang der Geschichte von "Ajami" zu verraten. Denn die Regisseure | |
haben den Film als kognitive Falle angelegt, in die der Betrachter tappen | |
muss. Der Zuschauer kann sich bei einem Erkenntnisprozess beobachten, den | |
die erzählerische Architektur provoziert. Wer "Ajami" sieht, erfährt quasi | |
am eigenen Leib, wie schnell unsere Gehirne nur fragmentarisch vorhandenen | |
Informationen über eine Situation interpretieren und ihnen eine | |
vermeintlich passende Geschichte zuordnen. | |
Denn in der Mitte des Films, am Umschlagpunkt, sind Bilder zu sehen, die | |
eine bestimmte Lesart der Geschichte nahelegen. Ein bekanntes Motiv des | |
Polizeifilms drängt sich dem Zuschauer auf, aber auch das Klischee der | |
sprichwörtlichen nahöstlichen Rachsucht. Das übliche Codewort für den | |
angeblich rachsüchtigen Charakter von Juden und Arabern gleichermaßen, den | |
dieses in Deutschland besonders beliebte Stereotyp beschreibt, lautet "Auge | |
um Auge". Die Hälfte auch der seriösen Nahostberichterstattung erzählt | |
dieses Klischee immer wieder von neuem, und sogar im Presseheft zum Film | |
taucht absurderweise diese Lesart auf, was nur beweist, dass Klischees auch | |
dort angewandt werden, wo sie absolut nicht passen. | |
Denn erstens stellt sich später im Film heraus, dass alles ganz anders war, | |
als es schien. Zweitens aber zeigt eine erhellende Szene das | |
Gerichtsverfahren vor einem islamischen Khadi. Der Richter urteilt über den | |
Konflikt zwischen dem mafiösen Beduinenclan und Omars Familie. Hier wird | |
deutlich, dass es sich bei der Logik des "Auge um Auge" keinesfalls um das | |
Prinzip blinder Rache handelt, sondern um eine ausgeklügelte Ökonomie, die | |
gleichermaßen zivilisiert wie archaisch ist. | |
Dass ein kollektiver Druck auf den einzelnen Akteuren lastet, wird in | |
"Ajami" aber nie geleugnet. Im Gegenteil: Das eigentliche Thema dieses | |
Films ist die Unterdrückung der Chancen des Einzelnen auf ein glückliches | |
Leben durch die Kollektive. Die Einzelnen gehören diesen Kollektiven | |
manchmal gerne an, weil sie in ihnen Schutz finden. "Ajami" zeigt aber | |
auch, dass die Festlegung des Gegenübers als Teil des eigenen oder des | |
anderen Kollektivs für sich genommen schon ein gewaltsamer Akt ist. | |
Der Vater von Hadir hat etwas gegen ihre Liebe zu Omar, weil Hadir Christin | |
ist und Omar Muslim. Die Freunde von Binj strafen ihn mit Verachtung, weil | |
er vorhat, zu seiner jüdischen Freundin nach Tel Aviv zu ziehen. Omar muss | |
in Todesangst leben, weil seine ganze Familie kollektiv für die | |
Selbstverteidigung seines Onkels bestraft werden soll. Binjs Familie wird | |
von jüdischen Polizisten drangsaliert, weil sein Bruder eines Verbrechens | |
verdächtig ist. Die Araber aus den Palästinensergebieten halten die | |
israelischen Araber für Schlimmeres als nur Spione. Die Liste der | |
potenziell auch physische Gewalt nach sich ziehenden Kollektivierungen im | |
Film und in der Realität ist lang und hier nur unvollständig wiedergegeben. | |
Die beiden Regisseure nennen ihre Methode "absoluten Realismus", ihr Ziel | |
ist ein "Kino des menschlichen Dramas". Und tatsächlich wirft ihr Film | |
einen überaus realistischen Blick auf die Lebenswelten von Menschen aus dem | |
Nahen Osten. Er unterhält dabei auf höchstem erzählerischen und filmischen | |
Niveau. Ganz unrealistisch ist dabei die Menge der Todesfälle, die sich in | |
kurzer Zeit ereignen. Sie sind dem Umstand geschuldet, dass es sich bei | |
"Ajami" trotz der Laienschauspieler, die mit einer quasidokumentarischen | |
Kameraführung aufgenommen werden, doch um einen Krimi, wenn nicht gar einen | |
Thriller handelt. | |
Es ist aber eben nicht nur das Genre, das die Toten verlangt. Obwohl die | |
beiden Regisseure sich dezidiert gegen Metaphorik im Film aussprechen, ist | |
der Tod in "Ajami" ein Symbol. Er steht für das Scheitern eines | |
individuellen Lebens an Umständen, die ihm feindlich sind. | |
11 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
Ulrich Gutmair | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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