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# taz.de -- Autobiografie von Angela Marquardt: Meine Familie, die Stasi
> In ihrem Buch „Vater, Mutter, Stasi“ berichtet die frühere
> PDS-Politikerin Angela Marquardt von ihrer DDR-Zeit und sexuellem
> Missbrauch.
Bild: Die Stasi entwarf ihr Leben, Millimeter für Millimeter, so wie Architekt…
Da ist diese Geschichte mit dem Bus. Die Schülerin Angela Marquardt ist mit
ihrer Mutter unterwegs in Greifswald, wo die Familie wohnt. Es ist Mitte
der Achtziger Jahre. Ein paar Sitzreihen vor ihnen erkennt das Mädchen
einen Mann, den es schon oft bei seinen Eltern zu Hause gesehen hat. Das
Mädchen begrüßt ihn freudestrahlend, doch der Mann reagiert nicht. An der
nächsten Haltestelle zerrt die Mutter die Tochter aus dem Bus und sagt
heftig: „Das darfst du nie wieder machen.“
Angela Marquardt ist 13 oder 14, als sich dieser Vorfall ereignet. Sie weiß
nicht, warum sie den Mann nicht erkennen darf. Sie weiß auch nicht, dass
der Mann und ihre Mutter nicht nur Freunde sind, wie sie es glaubt, sondern
dass beide als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) für die Staatssicherheit der
DDR arbeiten.
Ebenso wenig weiß sie, dass sie selbst, Angela Marquardt, längst mitten
drin ist in ihrer eigenen Stasibiografie. Am 3. April 1987 unterschreibt
die Schülerin mit ungelenker Handschrift und ohne die nötigen Kommata eine
Verpflichtungserklärung: „Ich Angela Marquardt verpflichte mich freiwillig
das MfS in seiner Arbeit zu unterstützen.“ Sie ist 15 Jahre alt.
Diesen Teil ihres Lebens hatte Angela Marquardt, die mit ihrer burschikosen
Art und ihrer Punkfrisur nach der Wende rasch zum Jungstar der
Linken-Vorläuferpartei PDS avancierte, ausgeblendet. Vergessen, wie sie
sagt. Doch dann fand sich 2002 das Stasi-Verpflichtungspapier. Und die
damalige Bundestagsabgeordnete musste sich erklären. Das konnte sie nicht.
Sie erinnerte sich einfach nicht. Sie wusste nicht, was mit ihr in ihrer
Kindheit und Jugend im Zusammenhang mit der Stasi passiert war. Dafür wurde
sie kritisiert: Mit 15 sei man alt genug, zu wissen, was für einen Pakt mit
dem Teufel sie da eingegangen sei. Auch wenn ihre Mutter, IM „Barbara“,
dafür den Weg ebnete.
Es folgte eine Hetzjagd auf die Politikerin und ein persönlicher
Nervenkrieg. 2003 fliegt sie aus der Partei, weil sie keine Beiträge mehr
bezahlt. Erst ab 2006 ging es wieder aufwärts, seitdem ist sie
Mitarbeiterin der SPD-Politikerin und heutigen Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles, und seit 2008 Mitglied der SPD.
## Ein Mensch, der hadert und zweifelt
Die Zeit bis heute hat Marquardt gebraucht, um ihr Leben zu sortieren, für
sich selbst zu erklären. Jetzt erklärt sie es öffentlich. Am Donnerstag
erscheint ihr Buch „Mutter, Vater, Stasi“, 233 Seiten, Untertitel „Mein
Leben im Netz des Überwachungsstaates“.
Angela Marquardt hängt auf dem Küchenstuhl, klein und schmal, ganz in
Schwarz gekleidet, so als wolle sie in der Dunkelheit verschwinden. Sie
tippt häufig etwas in ihr Handy. Wer sie von früher kennt, nach der Wende,
aus ihrer Zeit bei der PDS, erinnert sich an eine junge blonde Frau, die so
tat, als könne ihr niemand etwas anhaben. Die Politik nicht, die Medien
nicht und auch nicht die Öffentlichkeit. Wer Marquardt heute trifft,
begegnet einem Menschen, der erfahren hat, dass das nicht stimmt. Der
hadert, zweifelt, zugibt, auch Angst zu haben. Und versucht, pragmatisch
rüberzukommen.
Monatelang hat Marquardt Akten durchforstet, hat mit Menschen von früher
gesprochen, mit Leuten von der Stasiunterlagenbehörde, mit Freunden, mit
Parteikollegen. Dann hat sie mit der Springer-Journalistin Miriam Hollstein
dieses Buch geschrieben.
## Die Stasi gehörte zum Alltag
Es beschreibt die tiefe Verstrickung ihrer Familie zur Stasi: IMs gingen
bei den Marquardts ein und aus, die Stasi gehörte zum Alltag der Familie.
Neben ihren Eltern war schon Marquardts Großvater, ein strammer Genosse,
Stasizuträger. Deckname: IM „Jugendfreund“. Das ist noch nicht alles,
vielmehr geht es ans „Eingemachte“.
Marquardt erzählt vom brutalen leiblichen Vater („ein Sadist“), der seine
Frau geschlagen und die Tochter gequält hat. Einmal drückte er die Hand des
Kindes auf die heiße Metallplatte der Waschmaschine. Ihr Stiefvater, der
zweite Mann ihrer Mutter, ist nicht besser als der erste. Auch er ein
Schläger und Säufer. Dazu einer, der seine Stieftochter Angela über Jahre
sexuell missbraucht.
Es fing an, als sie ungefähr 9 Jahre alt war, in einer Ferienpension auf
der Insel Rügen. Später vergriff er sich regelmäßig an dem Mädchen, in
ihrem Kinderzimmer, in anderen Räumen der Wohnung. Angela Marquardt weinte
nicht, sondern erstarrte innerlich. Der Mutter sagte das Mädchen nichts.
Marquardt ahnte, dass diese ihr nicht helfen würde. Schon als der leibliche
Vater das Kind einmal über ein Geländer hoch oben auf einem Kirchturm
gehalten hatte, habe die Mutter dabeigestanden und zugesehen.
## „Nach außen hin ließ ich mir nichts anmerken“
Marquardt rutscht tiefer auf dem Stuhl, sie schaut in die Luft,
irgendwohin. Bis tief in die Nacht wird sie Geschichten hervorholen, die
immer verstörender klingen. Geschichten, die über das Buch weit
hinausgehen.
„In der Familie funktionierte ich“, sagt Angela Marquardt: „Nach außen h…
ließ ich mir nichts anmerken.“ Im Gegenzug dafür durfte sie mehr als
gewöhnlich am Leben der Erwachsenen teilhaben, also am Leben der Stasi. Die
Männer, die regelmäßig zu Besuch kamen, die „Freunde“, behandelten die
Minderjährige wie eine gleichberechtigte Erwachsene. Das fand das Mädchen
gut, denn diese Männer bedrängten sie nicht. Sie waren die ersten
„männlichen Bezugspersonen, die mir nichts antaten“, sagt Marquardt. „Da…
schleuderte ich ihnen mein Herz entgegen.“
Gewalt, Missbrauch, Alkohol, Stasi. Stoff, den man Drehbuchautoren als
„erfunden“ um die Ohren hauen würde. Aber hier ist der Stoff real. Die
Gewalt und der Missbrauch scheinen ein Schlüssel dafür zu sein, dass die
Stasi mit Angela Marquardt leichtes Spiel hatte. Doch das
„Missbrauchs“-Kapitel ist eines der kürzesten im Buch. Und die Frage, ob
die Mutter und die Stasi-Leute, die von den Marquardts wie
Familienangehörige behandelt wurden, von den Übergriffen des Stiefvaters
wussten, wischt Marquardt vom Tisch wie lästige Krümel. Sie sagt: „Alles,
was ich dazu zu sagen habe, steht in dem Buch.“
## Erinnerung ist keine Akte
Mit 16 kam Angela Marquardt in Greifswald ins Internat, weil die Eltern und
ihre Geschwister nach Frankfurt an der Oder zogen, sie aber zu Hause Abitur
machen wollte. Das rettete sie vor weiterer Gewalt des Stiefvaters. Für die
Stasi eine willkommene Situation. Denn der „Freund“ der Familie, der sich
in Greifswald fortan um die Jugendliche kümmerte, wurde ihr
Führungsoffizier. Sie mochte ihn, sagt sie. Die Stasi entwarf Marquardts
Leben, Millimeter für Millimeter, so wie Architekten ein Haus bauen. Sie,
die eine Sportlerlaufbahn bei der Nationalen Volksarmee anstrebte, sollte
Theologie studieren, um später die Kirchenkreise in Greifswald
auszuspionieren. Bis 1995 war Marquardts „Karriere“ durchgeplant.
Was davon hat sie bewusst mitgemacht? Hat sie das mit der
Verpflichtungserklärung tatsächlich vergessen, während sie sich an Abende,
an denen sie beispielsweise aus dem Zimmer geschickt worden ist, genau
erinnert? Aber das mit der Erinnerung ist immer so eine Sache. Sie kann
blass oder stark sein und trotzdem falsch. Erinnerung ist keine Akte.
Wo sieht Angela Marquardt die Schuld ihrer Eltern? Im Buch spricht
Marquardt nur von „meiner Mutter“. Im Gespräch nennt Angela Marquardt ihre
Mutter bei deren Vor- und Nachnamen. Das offenbart eine Distanz, die die
Autorin im Buch so nicht zulässt.
## Die Deutungshoheit zurückholen
Ihre eigene Verantwortung sieht Marquardt „in der Naivität, die ich damals
an den Tag gelegt habe. Da war zum Beispiel ihre Mitschülerin Sylke, deren
Familie von der Stasi verhört worden war. Marquardt legt Wert darauf, dass
sie mit ihrem Buch das perfide System der Stasi beschreiben und eine
„Erklärung“ liefern will, warum die Frage nach Schuld, vor allem wenn
Kinder mit im Spiel sind, nicht in jedem Fall so einfach zu beantworten
ist. Der Politologe und Stasiforscher Helmut Müller-Enbergs spricht von
rund 1.300 minderjährigen IMs allein 1989. Der jüngste soll 12 Jahre alt
gewesen sein.
Marquardt will sich aber auch die Deutungshoheit über ihre eigene Biografie
zurückholen. So etwas wie 2002, als ihr nach ihrer Enttarnung das Leben
entglitt, will sie nicht noch einmal erleben.
Wenn in der Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl 2017 öfter vom Versuch
einer ersten Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei auf Bundesebene die
Rede ist, fehlt eine nicht: Angela Marquardt. Rot-Rot-Grün ist ihr Thema.
Sie hat einen Hinweis darauf, dass die Stasigeschichte dann wieder
rausgeholt werden könnte. Dem will sie zuvorkommen.
28 Feb 2015
## AUTOREN
Simone Schmollack
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