# taz.de -- Journalist über DDR-Geschichte: Der beharrliche Miesmacher | |
> Roman Grafe tourt mit Vorträgen durch Schulen und Gemeinden. Viele Ältere | |
> mögen es nicht, wenn er ihnen die DDR madig macht. | |
Bild: Alltag in der DDR | |
WEIMAR taz | Mit dem Plattenspieler unterm Arm betrat der Lehrer das | |
Klassenzimmer. Sein Fach war Staatsbürgerkunde, die Schüler sollten die | |
Grundlagen des Marxismus-Leninismus erlernen und wie die DDR funktioniert. | |
Manchmal hörten sie auch gemeinsam sozialistische Kampflieder. Roman Grafe, | |
damals 14 Jahre alt, fand das eher öde und rief einem Klassenkamerad zu: | |
„Heute hören wir wieder Kommunisten-Beat!“ | |
Der Lehrer brachte ihn daraufhin zur Direktorin und forderte: „Wiederhole, | |
was du eben gesagt hast!“ Roman Grafe bekam Angst. Bei ihm zu Hause | |
schimpften sie zwar häufig über die DDR, aber seine Familie hatte ihm auch | |
eingeschärft, dass kritische Aussagen außerhalb der eigenen vier Wände zu | |
Problemen führen. Deshalb korrigierte er sich: „Ich habe gesagt: ’Heute | |
hören wir wieder ein kommunistisches Lied!‘“ Die Sache ging glimpflich aus. | |
Mehr als 30 Jahre später hat Roman Grafe Ärger mit denen, die die DDR immer | |
noch mögen. Weil sie sich über ihn ärgern. Grafe, stämmig, braunes Haar, | |
weißes Hemd, ist Journalist und schreibt Bücher über den | |
„Arbeiter-und-Bauern-Staat“. Seit Jahren tourt der 46-Jährige regelmäßig | |
durch Ost- und Westdeutschland, liest aus seinen Werken, diskutiert mit | |
seinem Publikum. Er tritt in Schulen auf, in Gemeindesälen, | |
Kultureinrichtungen. | |
Besonders ältere Ostdeutsche mögen es nicht, wenn er ihnen ihre DDR madig | |
macht. „Man müsste Ihnen Ihr Buch um die Ohren hauen“, fauchte ihn vor | |
einigen Monaten in Mühlhausen eine ältere Frau an. In Sondershausen, das | |
ebenfalls in Thüringen liegt, sprach er vor einer Schulklasse. Anschließend | |
rannte ihm ein Jugendlicher auf dem Schulhof hinterher. „Warum machen Sie | |
die DDR so schlecht?“ Ein Jugendlicher öffnete das Fenster und brüllte | |
seinem Klassenkameraden nach: „Mach ihn fertig!“ | |
## „Mach ihn fertig!“ | |
Stolz schwingt in Roman Grafes Stimme mit, wenn er von diesen Begegnungen | |
erzählt. Sie scheinen ihn eher anzuspornen als einzuschüchtern. Auch andere | |
Referenten der politischen Bildung berichten von ähnlichen Erlebnissen. 25 | |
Jahre nach dem Ende der DDR tobt ein Kampf, wie sie zu bewerten sei: War | |
sie eher harmlos, ein Land mit putzigen Ampelmännchen, komischen Autos und | |
einer greisen Regierung, die ohnehin niemand ernst nahm? Oder ist es | |
richtig, die DDR auf Mauer und Tristesse zu reduzieren, ohne zu bedenken, | |
dass Menschen dort auch glücklich waren, und sei es nur im Privaten? Roman | |
Grafe hat die Menschenrechtsverletzungen im Blick. „In E-Mails bin ich als | |
’Nestbeschmutzer‘ beschimpft worden“, sagt er. | |
Er gibt seine Telefonnummer nicht gern heraus und verrät fast nichts über | |
sein Privatleben. Als er 1996 als Journalist über den Prozess gegen die | |
Chefs der DDR-Grenztruppen berichtete, habe er gelegentlich Stress mit | |
ehemaligen Militärs und Stasi-Offizieren gehabt. Der Schutz seiner | |
Privatsphäre ist Grafe auch aus einem weiteren Grund wichtig. Seit dem | |
Amoklauf an einer Schule in Winnenden 2009 setzt er sich gegen tödliche | |
Waffen im Schießsport ein. Der 17-jährige Täter hatte die Waffe seines | |
Vaters benutzt, der Sportschütze war. Wegen seines Engagements in dieser | |
Sache hat Grafe mehrfach anonyme Morddrohungen erhalten. Seine Lesereisen | |
setzt er dennoch fort. | |
## Schönere Möbel heute | |
Diesmal ist er in Thüringen unterwegs, wo sich Bodo Ramelow kürzlich von | |
den Linken zum Ministerpräsidenten hat wählen lassen. Im Gemeindesaal der | |
evangelischen Kreuzkirche in Weimar erwarten Roman Grafe etwa 20 Personen, | |
die meisten von ihnen so alt, dass sie die DDR als Erwachsene erlebt haben | |
dürften. Der Beamer wirft ein Schwarz-Weiß-Bild an die Wand: Grenzanlagen, | |
Todesstreifen. Die Berliner Mauer. Es stammt aus einem Buch, dass Roman | |
Grafe 2012 zusammen mit dem Fotografen Dietmar Riemann veröffentlicht hat. | |
Riemanns Aufnahmen aus den Jahren 1975 bis 1989, dazu ein paar kurze Texte | |
von Grafe. Beide hatten in der DDR einen Ausreiseantrag gestellt, | |
kennengelernt haben sie sich aber erst nach der Wende. Nun fahren sie | |
gemeinsam herum und stellen ihr Buch vor. Der bewusst irreführende Titel | |
„Schöne Grüße aus der DDR“ lockt auch Menschen an, die sich einen | |
nostalgischen, wohlwollenden Rückblick erhoffen. „Manche Zuhörer werden | |
richtig böse, dass das jetzt nicht so schön ist“, berichtet Grafe. | |
Heute erwartet den Autor jedoch Zustimmung. Kaum ein Zuhörer im | |
Gemeindesaal hat die DDR in guter Erinnerung. Das ist nicht verwunderlich, | |
da die evangelische Kirche ein anderes Menschenbild pflegte als die SED. | |
Deshalb war sie auch ein Ort, an dem sich Menschen mit anderen | |
Wertvorstellungen trafen. | |
Klick, das nächste Bild, wieder eine Mauer-Ansicht. Den „antifaschistischen | |
Schutzwall“ von der DDR-Seite zu fotografieren, war streng verboten, | |
erzählt Dietmar Riemann, Jahrgang 1950. Bei seiner Fototour durch Ostberlin | |
sei er nur knapp der Verhaftung entgangen. | |
Ein paar Fotos weiter, sozialistische Mitmach-Parolen an kahlen Orten. | |
Porträts von Menschen, die sich in der DDR eingerichtet hatten – oder auch | |
nicht. Heute hätten die Leute schönere Möbel und seien besser eingerichtet, | |
sagt eine Frau: Aber spüren wir die Leere, die die Bilder widerspiegeln, | |
nicht auch in unserem Alltag? Riemanns Aufnahmen von fast leeren | |
Schaufenstern bringen manche Zuhörer zum Lachen. Jawohl, daran erinnern sie | |
sich gut. Auch daran, dass der Rasen neben der Autobahn grün besprüht | |
wurde, als Staatsbesuch kam. Eine Frau klagt, dass sich die | |
„Enkelgeneration“ kaum für die DDR interessiere. | |
Dietmar Riemann erzählt von einer Schule nahe Waldheim, die er mit Roman | |
Grafe besucht hat: Im Gefängnis dieser sächsischen Stadt saßen in der DDR | |
politische Häftlinge ein. 1950 fanden die Waldheimer Prozesse statt, die | |
gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstießen. Todesurteile fielen – | |
nicht nur gegen Nazi-Mitläufer, auch gegen Kritiker des sozialistischen | |
Systems. „Die Schüler wussten davon nichts“, sagt Riemann empört. Obwohl … | |
für die Lehrer ein Leichtes sei, einen Ausflug nach Waldheim zu | |
organisieren. Eine Zuhörerin sieht Parallelen zur Nazizeit: „Danach wurde | |
die Vergangenheit auch jahrzehntelang geschönt, verschleiert, verdrängt.“ | |
## Diskussion über Ramelow | |
Sie reden noch lange im Gemeindesaal in Weimar. Auch über Bodo Ramelow von | |
den Linken. Der stammt zwar aus dem Westen, doch seine Partei sei | |
Nachfolger der SED. Hätte man sie nach der Wende kurzerhand verbieten | |
sollen? „Es war ein Grundfehler, dass damals kein Cut gemacht wurde“, sagt | |
eine Frau. „Ich möchte nicht von einer umbenannten SED regiert werden“, | |
sagt Roman Grafe dazu. | |
Als er vor einiger Zeit eine Schule im Stendal besuchte, äußerte eine | |
Lehrerin während der Diskussion: „Wenn man sich in Diktaturen an die Regeln | |
hält, passiert einem nichts.“ Roman Grafe findet den Satz unerträglich. Er | |
sieht Lehrer in der Pflicht, im Unterricht über die | |
Menschenrechtsverletzungen in der DDR aufzuklären. Viele Eltern würden mit | |
ihren Kindern kaum über die DDR reden. Oder sie würden ihnen nur Positives | |
erzählen, etwa, dass alle Menschen Arbeit hatten. Ein Buch, das Roman Grafe | |
herausgegeben hat, heißt „Die Schuld der Mitläufer“. Es ist eine | |
Abrechnung. | |
Termine mit der „Enkelgeneration“ sind ihm besonders wichtig. Deshalb steht | |
er am nächsten Morgen vor einer neunten Klasse des Goethe-Gymnasiums in | |
Weimar. Die Lehrerin entschuldigt sich dafür, dass die Schüler noch so | |
wenig über die DDR wüssten. Man habe diese Zeit im Unterricht noch nicht | |
ausführlich behandelt. „Aber es erschien mir wichtig, zum 25. Jahrestag der | |
Friedlichen Revolution über das Thema zu reden“, erklärt sie. | |
## So viele Titel? | |
Der Beamer wirft wieder Dietmar Riemanns Fotos an die Wand. Roman Grafe | |
fragt: „Was verbindet ihr mit der DDR?“ Die Schüler antworten rasch. „Die | |
Grenze, die quer durch Deutschland verlief.“ – „Türme, Wachmänner und d… | |
Mauer in Berlin.“ – „Kalter Krieg.“ – „Dass die Arbeiterklasse bevo… | |
wurde. Als Christ war man nicht so angesehen.“ Die Namen Walter Ulbricht | |
und Erich Honecker fallen. Roman Grafe sagt den vollständigen Titel auf: | |
„Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des | |
Staatsrates.“ Heiterkeit. Was ist denn das? Für die Weimarer Schüler ist | |
die DDR ein ferner grauer Planet, über den sie trotzdem erstaunlich viel | |
wissen. 45 Minuten sind zu kurz, um ihre Neugier zu befriedigen. | |
Das zeigt auch Roman Grafes Besuch in der nächsten Schule, dem | |
Friedrich-Schiller-Gymnasium. Dort wartet eine zehnte Klasse auf ihn. Grafe | |
erzählt von den Mitläufern in der DDR. Er deutet an, dass es ein Akt der | |
Rebellion war, bei Wahlen die Wahlkabine aufzusuchen und die Namen der | |
Kandidaten durchzustreichen. Wieso durchstreichen? Kreuzt man bei einer | |
Wahl nicht eine Partei an? „Sie müssen das Wahlsystem erklären“, sagt der | |
Referendar. | |
Wenig später ist Grafe unterwegs zum Bahnhof. Er ist zufrieden mit seinen | |
Auftritten, ebenso Dietmar Riemann. Am Morgen hat er parallel zu Roman | |
Grafe in der anderen Schule erzählt, wie er die DDR erlebt hat. Am | |
Nachmittag steht schon die nächste Lesung an. Trotz Kälte sind beide guten | |
Mutes. Sie haben viel zu tun. Im Kampf darum, wie die DDR zu bewerten ist, | |
stehen sie ihren Mann. Gerade jetzt, da Thüringen einen Ministerpräsidenten | |
von den Linken hat. Roman Grafe sagt: „Wenn man die Wahlbeteiligung und | |
Wahlberechtigung berücksichtigt, hat nur etwa jeder zehnte Thüringer die | |
Partei der Täter gewählt.“ | |
12 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Josefine Janert | |
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