| # taz.de -- Überbleibsel aus der DDR: Deutschland, deine Lenins | |
| > An Leninstatuen entladen sich ideologische Grabenkämpfe und persönliche | |
| > Schicksale. Ein Besuch bei den zwei letzten deutschen Denkmälern. | |
| Bild: Die Platte im Rücken: Lenin in Schwerin. | |
| SCHWERIN/RIESA taz | „Willst du einen Menschen kennen, schaue nicht auf | |
| seinen Mund, sondern auf seine Hände“, soll Wladimir Iljitsch Uljanow, | |
| besser bekannt als Lenin, einmal gesagt haben. Der estnische Künstler, der | |
| Lenins Abbild 1985 anfertigte, wollte wohl möglichst wenig verraten über | |
| ihn: Die Schweriner Leninstatue hat die Hände in den Manteltaschen | |
| vergraben. | |
| Mit gut drei Meter Höhe steht er da, hart, aber lässig, Türsteher-Typ. Den | |
| Blick starr auf den Parkplatz des internationalen Feuerwehrmuseums | |
| gerichtet, im Rücken die Plattenbausiedlung Hoher Dreesch. Wofür er hier | |
| steht, ob er hier stehen soll, daran scheiden sich in Schwerin die Geister. | |
| Das Schweriner Denkmal sollte zur Zeit seiner Entstehung an die Bodenreform | |
| und die Enteignung der Großgrundbesitzer erinnern, Lenin steht auf einer | |
| großen Scholle. Breitbeinig, Schuhgröße, geschätzt: 60. Das kann einem | |
| Angst einflößen, zumindest aus der Hundeperspektive. „Mein Puschel, der | |
| bellt immer recht dolle, wenn wir hier vorbeikommen. Der hat richtig Schiss | |
| vor dem!“, sagt ein Gassigänger, dessen weißer Terrier an der Leine reißt. | |
| Seinem Herrchen aber ist der Lenin „ziemlich schnuppe“. Die Farbbeutel habe | |
| er zumindest nicht geworfen, meint er noch. | |
| Am Sockel der Statue zeugen weiße Farbschlieren von der letzten Attacke auf | |
| Lenin, die immer dann auftreten, wenn die Diskussion in Stadtrat und | |
| Lokalmedien wieder aufflammt. Aber nicht nur Leningegner üben sich in | |
| Vandalismus. Erzleninisten stören sich an der nachträglich angebrachten | |
| Infotafel, die auf die Menschenrechtsverletzungen unter Lenin hinweist. Die | |
| Folge: Säureverätzungen und Sticker, die den Text schwerer lesbar machen. | |
| Die ursprüngliche Tafel wurde nach ihrer Beschädigung 2008 durch eine | |
| angeblich unzerstörbare ersetzt. | |
| ## Ein erklärter Leningegner | |
| Der Text auf der Infotafel stammt von Christoph Priesemann, gebürtiger | |
| Schweriner und Mitglied der FDP-Stadtratsfraktion. Er hat zu sich nach | |
| Hause eingeladen, zehn Autominuten hinter Lenins Rücken, ein Häuschen auf | |
| der Paulshöhe am Faulen See. | |
| Bei selbstgemachten Kartoffelpuffern erzählt der pensionierte Lehrer seine | |
| Geschichte, die ihn zu einem erklärten Gegner jeglicher | |
| DDR-Geschichtsklitterung gemacht hat: 1950 wird Priesemanns Vater von der | |
| Stasi festgenommen und nach Moskau verschleppt. Staatsfeindliche Spionage | |
| und Agitation, so der Vorwurf. „Sie haben ihn einfach auf dem Weg zur | |
| Arbeit einkassiert“, sagt er. Der damals 9-jährige Priesemann, seine | |
| Geschwister und die Mutter erfahren erst lange Zeit später, dass der Vater | |
| 1951 in Moskau erschossen wurde. „Dass ich deswegen nicht unbedingt ein | |
| Freund von Stalin, Lenin und Konsorten bin, ist damit wohl klar“, sagt er. | |
| Erklärter Leningegner ist er aber erst seit Kurzem. Im Jahr 2005, bei einer | |
| Gedenkveranstaltung in Moskau, erläutert ihm ein Historiker die Verbrechen | |
| unter Lenins Herrschaft. Er fasst sich an die runzelige Stirn: „Der hat mir | |
| richtig den Kopf gewaschen. Dass Lenin fast die ganze Geistlichkeit und | |
| ganze Berufsgruppen an die Wand gestellt hat, das wusste ich bis dahin | |
| nicht.“ | |
| ## Infotafel statt Abriss | |
| Zurück in Deutschland studiert er Lenins gesammelte Werke und | |
| Geschichtsbücher aus der Landesbibliothek. Ihm wird klar: Das Lenindenkmal | |
| muss weg. Im Folgejahr formuliert er seinen Antrag für einen Abriss, die | |
| Abstimmung scheitert knapp: „Zwei Leute in der CDU haben dann mit | |
| irgendwelchen dummen Ausreden gegen den Abriss gestimmt.“ Das Denkmal sei | |
| Teil der Stadtgeschichte, solche Sachen. Zumindest beschließt die Stadt das | |
| Anbringen der Infotafel. | |
| Ein akzeptabler Kompromiss? „Nö, nicht für mich. Solche Skulpturen haben | |
| kein Anrecht auf öffentlichen Raum“, sagt Priesemann. Neue Anträge will er | |
| nicht mehr formulieren, aber natürlich weiter Schritte in diese Richtung | |
| unterstützen. Zum Beispiel im vergangenen Jahr, als ein DDR-Opferverband | |
| eine Verhüllung des Denkmals am 17. Juni durchsetzen konnte. | |
| Die nächste Gelegenheit: Der 25. Jahrestag der Wiedervereinigung. Sieht er | |
| noch Chancen für einen Abriss? „Hier sind einfach noch sehr viele von den | |
| Ewiggestrigen vertreten, vor allem die Linkspartei. Lenin, das ist deren | |
| Leitfigur.“ Er pausiert kurz, während die Wanduhr zur vollen Stunde das | |
| Zwitschern eines Rotkehlchens abspielt. „Die Linken aus der DDR, da bin ich | |
| mir nicht so sicher, ob die nicht auch über Leichen gehen würden. Die hätte | |
| man damals nach der Wende mit Stiel und Stamm ausrotten sollen.“ | |
| Das klingt dann doch zu drastisch, er korrigiert: „Ich meine, man hätte die | |
| SED-Strukturen zerschlagen sollen. Das An-die-Wand-Stellen, das ist ja eher | |
| eine Sache von Diktaturen.“ | |
| ## Kein Denkmal, sondern Kunstgegenstand | |
| Einen halbstündigen Spaziergang weiter, vorbei am Schlossgarten und | |
| Burgsee, sitzt die linke Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow im alten | |
| Ratssaal des Schweriner Rathauses. Gerade waren portugiesische Botschafter | |
| da, eine Mitarbeiterin räumt die halbleeren Sektgläser ab und bringt | |
| frischen Kaffee. Sie, die einzige linke Oberbürgermeisterin einer | |
| Landeshauptstadt – für Leute wie Priesemann eine Ewiggestrige. | |
| „Die Partei ist längst darüber hinweg, Lenin zu glorifizieren. Aber das | |
| nimmt man uns leider nicht ab“, sagt Gramkow, wenn man sie auf die Thematik | |
| anspricht. Die Lenin-Skulptur will sie nicht als Denkmal verstanden wissen, | |
| sondern als Kunstgegenstand. Eine pluralistische Gesellschaft müsse | |
| politische Kunst in der Öffentlichkeit aushalten. Priesemanns Geschichte | |
| macht sie aber dennoch betroffen: „Dieses Mitgefühl mit Opfern der DDR ist | |
| aber nicht nur dann vollkommen, wenn der Lenin wegkommt. Ich will ihn da | |
| belassen, wo er ist. Ich will ihn nicht wegsperren.“ | |
| Sie verweist auf ihren persönlichen Bezug zum Denkmal: Ihr Großvater bekam | |
| als Neuankömmling in der DDR ein Stück Bodenreformland. „Die Macher der | |
| Skulptur haben die Bodenreform mit dem Namen Lenin verbunden, ohne die | |
| Gräueltaten zu reflektieren“, sagt sie. Mit der Infotafel wäre nun | |
| ausreichend Reflexion gegeben, ein Ende der Diskussion sieht sie aber | |
| trotzdem nicht. Im Gegenteil: Der Schweriner Lenin rostet. Eine Sanierung | |
| aus öffentlicher Hand könnte wieder für Ärger sorgen, neuer Zündstoff für | |
| die Abriss-Befürworter. „Das wird nie aufhören“, sagt Gramkow. | |
| ## Versetzt auf eine Wiese | |
| Im 400 Kilometer entfernten Riesa, der einstigen Stahlstadt, die heute | |
| versucht, sich über Sport und Teigwarenherstellung zu profilieren, steht | |
| der zweite öffentliche Lenin. Die 3,50 Meter hohe Skulptur war ein Geschenk | |
| von Stahlwerkern aus dem ukrainischen Nikopol. Anstatt ihn abzureißen, | |
| versetzte man ihn nach der Wende auf einen Wiese am Stadtrand, gegenüber | |
| einem russischen Ehrenfriedhof. | |
| Kaum Passanten, wieder ein Hund, diesmal mit Frauchen. „Pfui, nicht hier“, | |
| schimpft sie, als der Dackel sich an einem der Grabsteine erleichtern will. | |
| Zur Statue fällt ihr nicht viel ein, von einer Debatte hat sie nichts | |
| mitbekommen: „Der Lenin steht gut hier, der gehört dazu. Und hier ist es | |
| abends immer so schön ruhig.“ | |
| In Riesa kochte die Abriss-Diskussion im Jahr 2012 hoch, angeführt | |
| hauptsächlich vom NPD-Stadtrat Jürgen Gänsel. Da die von außerhalb | |
| angereisten Journalisten sich nur ungern den Forderungen des sächsischen | |
| NPD-Chefideologen anschließen wollten, musste ein neutralerer | |
| Ansprechpartner gefunden werden. In nahezu jedem Artikel zitierte man | |
| deswegen Jens Nagel, Leiter der Stiftung Sächsische Gedenkstätten. | |
| „Einen Abriss habe ich aber nie gefordert“, sagt der heute. „Jede Debatte | |
| ist erst einmal gut. Wir müssen uns daran abarbeiten, wofür Lenin steht und | |
| stand, aber stehen bleiben wird er sowieso.“ Auch der frisch gewählte | |
| CDU-Bürgermeister Marco Müller sieht keinen weiteren Diskussionsbedarf. | |
| Über seinen Pressesprecher lässt er verlauten: „Eine wirkliche Debatte gibt | |
| es hier nicht mehr. Die Leute sehen das Denkmal als Teil der | |
| Stadtgeschichte.“ | |
| ## Russland müsste Abriss zustimmen | |
| Nichts ganz unwichtig für den gelassenen Umgang mit dem Riesaer Lenin | |
| dürfte sein besonderer Standort sein: Schließlich steht Lenin auf dem | |
| Gelände des Ehrenfriedhofs. Ein Abriss müsste mit den russischen Behörden | |
| abgestimmt werden, so will es ein nach der Wende gefälltes Abkommen zur | |
| Kriegsgräberfürsorge. „Mit der Umsetzung hat sich die Stadt damals ein | |
| schönes Ei gelegt“, sagt Jens Nagel mit einem Glucksen in der Stimme, „die | |
| hatten wohl Angst, den Lenin direkt vor den Augen der stationierten | |
| Sowjetsoldaten zu verschrotten. Jetzt bleibt er uns wohl für alle Zeiten.“ | |
| Wer genau die Umsetzung damals beschlossen hat, weiß niemand, Jens Nagel | |
| nicht, der Bürgermeister auch nicht. Wahrscheinlich war es der Stadtrat, | |
| meint Nagel. Die Infotafel markiert mit einem Fragezeichen die | |
| ungesicherten Hintergründe: „Daher erfolgte im Jahr 1991 auf Beschluss des | |
| Stadtrates (?) die Umsetzung der Statue auf das Terrain des Friedhofes.“ | |
| Wer auch immer Lenin auf den Ehrenfriedhof versetzt hat – er hat damit | |
| Fakten geschaffen, die heute in Riesa einen anderen Umgang mit | |
| DDR-Vergangenheit und Erinnerungskultur ermöglichen. | |
| Ein ewiggestriges „Lenin muss weg!“ oder „Lenin muss bleiben!“ steht hi… | |
| nicht mehr zur Diskussion. „Es gibt kein anderes Mittel, den Schwankenden | |
| zu helfen, als das man aufhört, selbst zu schwanken“, soll er einmal gesagt | |
| haben. Der Lenin von Riesa schwankt nicht mehr. | |
| 13 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Quentin Lichtblau | |
| ## TAGS | |
| DDR | |
| Denkmal | |
| Schwerin | |
| Lenin | |
| Pazifismus | |
| Lenin | |
| DDR | |
| DDR | |
| Sowjetunion | |
| Lenin | |
| Slavoj Zizek | |
| DDR | |
| Kyjiw | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Volkstrauertag und Kriegsgräber: „Graadselääd – jetzt erst recht!“ | |
| Jedes Jahr um diese Zeit zieht der Bund für Kriegsgräberfürsorge durch die | |
| Straßen und sammelt. Ein Dorf in der Pfalz schert aus. | |
| Das war die Woche in Berlin II: Was Lenin uns lehrt | |
| Ein Denkmal ist zurück – der Hype darum spricht Bände. | |
| Ausgebuddeltes Denkmal in Berlin: Hello, Lenin! | |
| Fast ein Vierteljahrhundert war er unter dem Waldboden vergraben. Am | |
| Donnerstag ist der Kopf der Lenin-Statue nun auferstanden. | |
| Politische Gefangene in der DDR: „Arbeitsscheu“ gleich illegal | |
| Wer keinen Beruf lernte, galt in der DDR als asozial und wurde inhaftiert. | |
| Heute kämpfen die Verurteilten um Anerkennung als politisch Verfolgte. | |
| Geschichte der Sowjetunion: Warum Lenin? Warum Stalin? | |
| Orlando Figes bietet in „Hundert Jahre Revolution“ einen Überblick über d… | |
| Geschichte der Sowjetunion, lässt aber viele Fragen offen. | |
| Vergrabener Leninkopf in Berlin: Der Dickschädel muss warten | |
| Für eine Ausstellung soll der Kopf eines 1991 abgerissenen Lenindenkmals | |
| ausgegraben werden. Doch ein paar Zauneidechsen verhindern dies - noch. | |
| Kolumne Bestellen und Versenden: Leninistisch aufpimpen | |
| Linke Intellektuelle auf Rettungsmission: Slavoj Zizek und Co. wollen den | |
| Liberalismus besser machen – durch mehr linke Disziplin. | |
| Journalist über DDR-Geschichte: Der beharrliche Miesmacher | |
| Roman Grafe tourt mit Vorträgen durch Schulen und Gemeinden. Viele Ältere | |
| mögen es nicht, wenn er ihnen die DDR madig macht. | |
| Ausstellung über Helden in Kiew: Eingemauerter Lenin befreit | |
| Das Nationale Kunstmuseum in Kiew zeigt „Helden. Eine Inventur“. Angesichts | |
| der Umbrüche in der Ukraine ist es eine politisch brisante Ausstellung. |