# taz.de -- Ausstellung über Helden in Kiew: Eingemauerter Lenin befreit | |
> Das Nationale Kunstmuseum in Kiew zeigt „Helden. Eine Inventur“. | |
> Angesichts der Umbrüche in der Ukraine ist es eine politisch brisante | |
> Ausstellung. | |
Bild: „Helden. Eine Inventur“: Lenin guckt auf Lenin. | |
Als vor einem Jahr in Kiew die Auseinandersetzungen zwischen | |
Maidan-Demonstranten und Polizei eskalierten, dachte Mariia Zadorozhna | |
nicht lange nach und sperrte sich im Museum ein. Die Generaldirektorin des | |
Nationalen Kunstmuseums der Ukraine (Namu) fürchtete um dessen Bestand, | |
falls das 1899 errichtete Gebäude von der Staatsmacht oder den Protestlern | |
besetzt würde: Die Frontlinie hatte sich direkt vor die Museumstür | |
verschoben – auf halbem Weg zwischen dem Maidan-Platz und dem | |
Regierungsviertel. | |
Heftige Straßenkämpfe und eine andauernde Rußwolke aus brennenden | |
Autoreifen gepaart mit Temperaturen um die minus 20 Grad hatten es | |
unmöglich gemacht, die aus etwa 20.000 Kunstobjekten bestehende Sammlung | |
unbeschädigt an einen sichereren Ort umzusiedeln. Also verbarrikadierten | |
sich Zadorozhna und ein paar freiwillige MitarbeiterInnen Mitte Januar im | |
Museum. | |
Sie ließen die Fenster mit Brettern zunageln und die Landschaftsgemälde aus | |
dem Erdgeschoss in den geschützten Keller tragen; sie hielten abwechselnd | |
Wache und schliefen auf antiken Sofas – bis Anfang März, als sich nach der | |
Absetzung des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und seiner Flucht | |
nach Russland die Lage allmählich zu beruhigen schien. | |
„Der Ausnahmezustand hat letztlich die lang ersehnte Umwandlung des Museums | |
unterstützt“, erzählt die Mittdreißigerin rückblickend. Mit der | |
Unabhängigkeit der Ukraine 1991 waren die Museen zwar ihre Funktion als | |
Instrument der Propaganda losgeworden, aber den meisten blieb nicht viel | |
mehr übrig, als das Erbe zu verwalten. | |
Schon vor mehreren Jahren war Zadorozhnas Team mit dem Goethe-Institut in | |
Kontakt getreten, auf der Suche nach Ideen, wie man das Museum zu einem | |
gesellschaftlich relevanten Ort des kritischen Lernens und Denkens | |
umstrukturieren könnte. „Dass das Erdgeschoss zu diesem Zweck freigeräumt | |
werden müsste, war schon seit Längerem angedacht. Ohne die Notaktion wäre | |
es aber nicht so leicht gewesen, alle MitarbeiterInnen davon zu | |
überzeugen“, so Mariia Zadorozhna mit einem Augenzwinkern. | |
## Helden, Heilige, Märtyrer | |
Kurz vor Weihnachten wurde das Ergebnis der deutsch-ukrainischen | |
Kooperation präsentiert: Unter dem Titel „Helden. Eine Inventur“ hat die | |
erste monothematische Ausstellung des Museums ihre Türen geöffnet – und | |
präsentiert 180 Exponate aus dem eigenen Archiv, allesamt Werke, die | |
Helden, Heilige und Märtyrer darstellen. An deren Auswahl durften sich | |
MitarbeiterInnen aus allen Museumsbereichen beteiligen. „Entscheidungen | |
wurden dabei nicht nach dem Prinzip der Mehrheit getroffen“, erzählt | |
Zadorozhna. „Es wurde so lange verhandelt, bis Konsens herrschte“ – eine | |
kleine Revolution in der üblicherweise starr hierarchisierten Institution. | |
Die Wahl des Themas „Held“ dient dem Nationalen Kunstmuseum dazu, über die | |
jüngsten Ereignisse zu reflektieren: In den Straßen um das Museum kamen im | |
letzten Februar über hundert Demonstranten zu Tode. Noch heute türmen sich | |
altarartig Blumen, Kerzen und Fotos, wo jene „Himmlischen Hundert“ starben. | |
Über die Errichtung eines offiziellen Mahnmals wird derzeit diskutiert – | |
obgleich bis heute ungeklärt bleibt, wer damals auf die Demonstranten | |
schoss. An der Ostgrenze zu Russland herrscht weiterhin Krieg. | |
Mit seiner „Inventur“ geht das Museum einen mutigen Schritt – nämlich ei… | |
Schritt zurück. „Eine Inventur macht man, wenn man wissen will, was man | |
hat“, erklärt Co-Kurator und Kunsthistoriker Michael Fehr aus Berlin. Nicht | |
von ihren Helden der Gegenwart werden die Museumsgäste also empfangen, | |
sondern von: Lenin. Die zwei Meter hohe, massive Marmorstatue war im Museum | |
nach dem Fall der UdSSR hinter einer falschen Gipswand eingemauert worden, | |
weil sie zu schwer war, um entsorgt zu werden. Nun wurde sie wieder | |
freigelegt. | |
In den folgenden Räumen findet ein ausgeklügeltes Spiel des | |
Perspektivenwechsels statt: Zwischen sozialistischem Realismus, der zu | |
Sowjetzeiten die Geschichtsbücher zierte, finden sich abstrakte Gemälde, | |
die der Öffentlichkeit lange vorenthalten wurden. Erstmals blicken die | |
Porträts christlicher Märtyrer, angebeteter Heiliger und gefeierter Kosaken | |
nicht ehrfurchtgebietend auf die Betrachter herab, sondern wurden bewusst | |
tiefer gehängt, um dem Besucher auf Augenhöhe zu begegnen. | |
## Idealisierende Ölschinken | |
In einem angrenzenden Raum dokumentieren Gemälde und Radierungen die | |
Heldwerdung von Taras Schewtschenko. Der Sohn eines ukrainischen | |
Leibeigenen stieg zum bedeutenden Lyriker und Maler auf, wurde aber auch | |
zensiert, eingesperrt und schließlich ins Exil gezwungen. Ein paar Räume | |
weiter treffen idealisierende Ölschinken von sozialistischen Arbeitern auf | |
eine nicht enden wollende Zahl von Leninporträts: Lenin mit Studenten, vor | |
städtischem Hintergrund, allein, beim Denken. | |
Und immer die gleiche Krawatte, immer der gleiche Gesichtsausdruck. All die | |
Bilder sind wild über-, auf- und nebeneinander gegen eine Wand gestapelt, | |
nicht nur um die Ikone zu entmythisieren, sondern auch „um den Besuchern | |
einen Einblick hinter die Kulissen zu gewähren“, erklärt Bildungsleiterin | |
Maryna Skyrda. Denn genau so lagert die ukrainische Geschichte seit Jahren | |
im Keller des Museums. | |
Im Stadtbild hingegen begegnet man Lenin so gut wie gar nicht mehr. Genau | |
wie das Nationalmuseum haben vor zwanzig Jahren auch alle anderen | |
öffentlichen Einrichtungen ihre Statuen eingemauert. Während des | |
Maidan-Protests vor einem Jahr wurden die letzten übrig gebliebenen | |
Skulpturen umgestürzt und demontiert. Auch wenn in Kiew eher die Meinung | |
herrscht, es handelte sich beim „Leninfall“ um schändlichen Vandalismus, | |
fühlen sich doch heute viele Besucher der Ausstellungseröffnung irritiert, | |
wenn nicht gar provoziert, von einer Leninstatue begrüßt zu werden. | |
Aber auch positive Stimmen erheben sich im Publikum: Jegliche ernsthafte | |
Diskussion über das sowjetische Erbe sei jahrelang von offizieller Seite | |
verhindert und totgeschwiegen worden, bis sich der Druck auf dem Maidan | |
entlud. Dass die Debatte nun erstmals den Weg in eine Institution gefunden | |
hat, und zwar vor dem Hintergrund der komplizierten Lage, in der sich die | |
Ukraine gerade befindet, sei an sich schon fast eine Heldentat. | |
6 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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