| # taz.de -- Ukrainischer Autor über neuen Roman: „Die Zeit der Operette ist … | |
| > Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow über seinen Roman „Jimi | |
| > Hendrix live in Lemberg“, Tage des Umbruchs auf dem Maidan und russische | |
| > Propaganda. | |
| Bild: Andrej Kurkow: „Es gab verschiedenste Gruppen auf dem Maidan: Romantike… | |
| taz: Herr Kurkow, Ihr neuer Roman heißt „Jimi Hendrix live in Lemberg“. Der | |
| Musiker Jimi Hendrix trat 1969 in Woodstock auf, starb 1970, hat aber nie | |
| in Lemberg gespielt. Warum dieser Titel? | |
| Andrej Kurkow: Jimi Hendrix’ Musik war in der Sowjetunion verboten, wie | |
| andere Rock- oder Jazzmusik auch. Er war eine Kultfigur für die | |
| ukrainischen Hippies. Während der Sowjetunion gab es im Osten zwei | |
| Hippiezentren. Eines im baltischen Vilnius, das andere in der Westukraine | |
| im galizischen Lemberg. | |
| Und in dieser Geschichte fanden Sie die Inspiration für die Figuren Ihres | |
| Romans? | |
| Ja. Von den sechs Hauptfiguren meiner Erzählung existieren oder existierten | |
| drei wirklich. Sie treten mit ihren Namen und Biografien in meinem Buch | |
| auf. Zum Beispiel Alik Olisewitsch, den gibt es tatsächlich. Wir sind | |
| befreundet. Er war einer der Begründer der Hippiebewegung in Lemberg. | |
| Und ist er jetzt auch mit dem Ergebnis des Romans zufrieden? | |
| Doch. Auch wenn der Roman wenig mit realen Begebenheiten zu tun hat. Ebenso | |
| wie Oxana Prohorez, die ebenfalls real existiert. | |
| Hendrix wurde in einem Mausoleum bei Seattle bestattet. Sie lassen in der | |
| Erzählung eine Hand von Hendrix’ Leichnam stehlen und nach Lemberg bringen. | |
| Wie ist das zu verstehen? | |
| Mein Roman ist im Stile des magischen Realismus geschrieben. Es gibt viele | |
| Legenden aus der Hippieära um Jimi Hendrix. Und es gibt sehr viele Mythen | |
| über Lemberg, der vielleicht schönsten Stadt der Ukraine. Mein Freund Alik | |
| hat selbst einige davon in Umlauf gebracht. Auf dem Lytchakyw-Friedhof in | |
| Lemberg liegen viele Berühmtheiten aus polnischer und österreichischer | |
| Zeit. Ich habe dem Mythos nur einen weiteren hinzugefügt. | |
| Ihr Roman spielt in der ukrainischen Gegenwart. An einer Stelle | |
| kommentieren Sie als Erzähler: „Es waren die Soloschritte von einzelnen | |
| Menschen, die niemals, auch nicht zu Zeiten der ewig währenden Sowjetunion, | |
| in der Lage gewesen waren, in Reih und Glied zu marschieren.“ Der | |
| „Universal“-Hippie überdauert die Sowjetunion, entzieht sich auch der neuen | |
| ukrainischen Realität, oder …? | |
| Hippies waren in der Sowjetzeit unpolitische Dissidenten. Sie wurden | |
| beobachtet, kontrolliert, ihre Kultur wurde verboten, manchmal wurden sie | |
| verhaftet. Man konnte zum Beispiel einfach nichtsowjetisches Essen lieben. | |
| Dann war man ein gastronomischer Dissident. Darüber schrieb ich in meinem | |
| früheren Roman „Der Gärtner von Otschakow“. Mein sieben Jahre älterer | |
| Bruder war so einer. Er war nicht an Politik interessiert, mochte das | |
| sowjetische System aber nicht. Er las verbotene Bücher, hörte verbotene | |
| Musik – und hatte eine Menge Probleme. | |
| Was konsumierte denn ein gastronomischer Dissident? | |
| Zum Beispiel Spargel. Spargel galt seit der Oktoberrevolution von 1917 als | |
| antisowjetisch und bourgeois. Oder Champagner. der war nicht direkt | |
| verboten, aber wer zu viel davon trank, galt als dekadent und provokativ. | |
| Sie schrieben Ihren jetzigen Roman vor der Revolution auf dem Maidan und | |
| dem Ausbruch der Kämpfe im Osten des Landes. Sie ironisieren darin den | |
| eigenen, ukrainischen Nationalismus: „Die Ukraine muss von einem Meer zum | |
| anderen reichen. Wir tunken die ukrainischen Stiefel noch in den Indischen | |
| Ozean.“ Wäre Ihnen eine solche Schreibposition heute noch möglich? | |
| Das sind leicht umformulierte Sätze des russischen Nationalisten | |
| Schirinowski. Da habe ich mir einen Spaß erlaubt, die Ukraine hatte keine | |
| solchen Politiker, wir kannten eher diese Operetten-Nationalisten. Unsere | |
| Nationalisten waren eher alte Romantiker, mal abgesehen von der Zeit nach | |
| 1945 und dem Partisanenkampf gegen Sowjetsystem und KGB. In den 1980er, | |
| 1990er Jahren gab es kaum harte ukrainische Nationalisten. | |
| Das ist heute aber anders? | |
| Ja. Die Zeit der Operette ist vorbei. | |
| Bleiben wir noch kurz bei Ihrem Roman. Die Handlung wirkt mitunter surreal. | |
| In Lemberg riecht es nach Meer. Magnetstürme fegen durch die Straßen, die | |
| Vögel werden aggressiv. Hippies und Ex-KGB-Leute trinken zusammen Wodka und | |
| die neue Zeit beschreiben Sie so: „Aber kein Nebel konnte den Kapitalismus | |
| außer Kraft setzen, der 20 Jahre zuvor in der Ukraine angebrochen war. Und | |
| der Kapitalismus war hart. Willst du essen, dann gehe und arbeite.“ Das | |
| könnte man als Sehnsucht nach der alten Zeit oder als Spott auf die heute | |
| Wehleidigen interpretieren. | |
| Ich bin kein Nostalgiker. Aber auch für postsowjetische Intellektuelle und | |
| Hippies war Arbeit und Geld nie so wichtig. Der Kapitalismus kam, aber | |
| nicht alles hat sich mit ihm verändert. | |
| Sondern? | |
| Wenn du vorher in der Oper gearbeitet hast und das heute auch tust, dann | |
| verdienst du immer noch sehr wenig Geld. Die Unterschiede sind oft gar | |
| nicht so groß. Und immerhin haben viele eine eigene Wohnung, oder ein Haus, | |
| brauchen also keine Miete zu bezahlen. Die Wohnungen wurden zu Beginn der | |
| Unabhängigkeit privatisiert. Viele brauchen deswegen bis heute nicht so | |
| viel Geld zum Leben. | |
| In Ihrer Beschreibung sind Überwacher und Überwachte, KGB-Offiziere und | |
| Hippies, beide in gewisser Hinsicht zu Außenseitern geworden. Realität oder | |
| Fiktion? | |
| Alik hatte einen solchen Überwacher. Der war eigentlich ganz sympathisch. | |
| Der versuchte, nicht zu hart mit den Lemberger Hippies zu sein. Natürlich | |
| ist der historische Offizier keine Piaggio gefahren. Und ob sie zusammen | |
| Wodka getrunken haben, das glaube ich eher nicht. | |
| „Jimi Hendrix live in Lemberg“ beinhaltet eine literarische Sicht auf die | |
| Ukraine vor den Umwälzungen des Februars. Die Tage um die Revolution im | |
| Februar in Kiew haben Sie in „Ukrainisches Tagebuch“ notiert. Sie schildern | |
| darin Alltägliches, aber auch die unmittelbare Gefährdung. Es gibt eine | |
| Szene, da wollen Sie zu einer Lesung gehen und dann kommt der Anruf, dass | |
| drei komische Typen vor dem Haus stehen. | |
| Ja, die waren bei meiner Tochter vor der Tür. Man konnte damals kaum | |
| einschätzen, was passiert. Ich ging praktisch jeden Tag mehrmals auf den | |
| Maidan, um mit den Leuten zu sprechen. Ich wollte verstehen, was geschah. | |
| Der Maidan, das war ein großer sozialer Organismus. | |
| Haben Sie dort auch vom Podium gesprochen? | |
| Einmal sollte ich. Ich habe abgesagt. Ich fand vieles etwas seltsam. Als | |
| Freunde, die Brüder Kapranow, sprechen sollten, stellte sich ihnen ein | |
| kleiner Kerl in den Weg und sagte, er würde hier entscheiden, wer spricht | |
| und wer nicht. Von der Tribüne redeten ununterbrochen die merkwürdigsten | |
| Leute. | |
| Aber es gab wahrscheinlich auch erkennbare Fraktionen auf dem Maidan, | |
| welcher haben Sie sich zugehörig gefühlt? | |
| Das ist nicht so einfach zu sagen. Künstler und Literaten hatten dort ein | |
| Zelt aufgebaut. Sie hielten den ganzen Tag Diskussionen und runde Tische | |
| ab. Sie benahmen sich als wären sie das Vatikanische Konzil. Es gab | |
| verschiedenste Gruppen: Romantiker, Wochenendtouristen, Revolutionäre. Oder | |
| die Gastrevolutionäre. Sie kamen aus der Westukraine und zogen mit | |
| Rucksäcken und Zelten gleich ganz auf den Maidan. Dann kam die Zeit, da | |
| sich einige der Zeltviertel gegen Passanten abschotteten. Das gab es bei | |
| der Orangen Revolution 2004 nicht. Da blieb alles offen, viele teilten | |
| ähnliche Ziele. Jetzt auf dem Maidan, da hatte jede Gruppe ein eigenes | |
| Programm. Das war oft kaum, zu verstehen. Ich sprach mit einem jungen Mann | |
| aus dem Gebiet Ternopil, Westukraine. Er sagte, dass er auf dem Maidan | |
| bliebe, bis die russische Sprache in der Ukraine verboten sei. Ich sah, wie | |
| er dies den ausländischen Journalisten immer wieder erzählte. Die schrieben | |
| dann: Ja, es gibt ukrainische Nationalisten auf dem Maidan, die die | |
| russische Sprache verbieten wollen. Es war teilweise schon sehr absurd. Wir | |
| haben kein Sprachproblem. | |
| Es gibt kein Minderheitenproblem zwischen Russisch oder Ukrainisch | |
| sprechenden Bürgern? | |
| Rund 50 Prozent der Menschen in der Ukraine sprechen Russisch, darunter | |
| sehr viele der ethnischen Ukrainer, die oft gar kein Ukrainisch können. Die | |
| Mehrheit will dennoch nicht zu Russland. 80 Prozent der Zeitungen in der | |
| Ukraine werden auf Russisch veröffentlicht. 90 Prozent der Bücher in den | |
| Buchläden sind auf Russisch. Ich schreibe auf Russisch. Es gibt keine | |
| wirklichen Probleme mit russischer Sprache oder Kultur. Es ist eine | |
| Erfindung um nationalistische Konflikte anzuheizen. | |
| Wäre Ihrer Meinung nach die Eskalation und die Spaltung des Landes zu | |
| vermeiden gewesen? | |
| Ja, doch leider verhinderte dies der frühere Präsident Janukowitsch mit | |
| seinem Anti-Europa-Kurs. Der agierte wie Putin, wie ein Diktator. Er | |
| ignorierte die Proteste so lange, bis sich die Leute radikalisierten. | |
| Was hätte er machen können? | |
| Er hätte Neuwahlen und Reformen ankündigen müssen. Und diejenigen zur | |
| Rechenschaft ziehen, die für die Gewalt des 29. Novembers 2013 | |
| verantwortlich waren. Stattdessen hat er sich über die Opposition im | |
| Fernsehen lustig gemacht. Am 21. Februar hat er dann aus dem Kreml das | |
| Signal bekommen, zu fliehen. Gleich darauf begann Putin die Operation auf | |
| der Krim und entfachte die bewaffneten Aufstände im Süden und Osten der | |
| Ukraine. In anderen Gebieten der Ukraine gibt es nicht genug pro-russische | |
| Aktivisten, aber im Donbass hat es geklappt. Und jetzt gibt es keinen | |
| einfachen Ausweg mehr. Es gibt viele Russen dort, viele Waffen. Putin wird | |
| nicht zurückweichen. Seine Reputation gegenüber dem Westen hat er bereits | |
| verloren. Aber in Russland unterstützen 90 Prozent der Leute seinen | |
| aggressiven Kurs. Würde er zurückweichen, würde er alles verlieren. | |
| Wie wird es nun weitergehen? | |
| Ich glaube, Putin wird versuchen, die jetzige Situation einzufrieren. Das | |
| nützt ihm am meisten. Dann kann er seine Anhänger permanent mobilisieren. | |
| Die Territorien, die sich unter Kontrolle von Separatisten und russischen | |
| Kräften befinden, werden sich zu einem zweiten Transnistrien entwickeln. | |
| Die Ukraine kann so nicht zur Ruhe kommen. Eine Mitgliedschaft der Ukraine | |
| in der Nato ist angesichts der russischen Position irreal, obwohl | |
| vielleicht eine Mehrheit der Ukrainer heute dafür wäre. Aber selbst eine | |
| neutrale demokratische Ukraine wäre für Putin keine Lösung. Putin will | |
| lebenslang an der Macht bleiben. Er kann an seiner Außengrenze kein | |
| Beispiel einer gelungenen Demokratisierung gebrauchen. | |
| 17 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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