| # taz.de -- Postsowjetisch: Träume aus der Sonnenstadt | |
| > Mit Schorsch Kamerun in Minsk. Die weißrussische Metropole zwischen | |
| > Sowjetverklärung und dem offenen Blick nach Westen | |
| Bild: Eingang zum DK-Klub in Minsk: Schorsch Kamerun (Mitte). Zweite von rechts… | |
| Die Welt ist nicht das, was sie ist, sondern was wir über sie denken.“ | |
| Artur Klinau, geboren 1965, steht auf dem Unabhängigkeitsplatz in Minsk. | |
| Der Kunstkritiker zeigt auf die monumentalen Bauten im Hintergrund und | |
| erklärt, warum er die weißrussische Metropole für die „Sonnenstadt der | |
| Träume“ hält. Minsk sollte mit seinen riesigen neuen Alleen, Plätzen und | |
| Volkspalästen die ideale Sowjetstadt repräsentieren. Um die „Gesellschaft | |
| des Glücks“ zu etablieren, sagt Klinau, erschuf der Stalinismus als Ganzes | |
| das Bühnenbild einer „Sonnenstadt“. Und wer die Kulisse der neuen Realität | |
| nicht anerkannte, so Klinau, wurde vernichtet. | |
| Klinaus Metapher von Minsk als „Sonnenstadt“ des Sowjetimperiums geht auf | |
| die Frühutopisten Tommaso Campanella und Thomas Morus zurück. Morus hatte | |
| 1516 den Bildungsroman „Utopia“ verfasst, Campanella schrieb 1602 sein Werk | |
| „Die Sonnenstadt“. Sie vertraten „die romantische Idee“ (Klinau) von | |
| idealer Stadt und Gesellschaft, zu deren Verwirklichung der östliche | |
| Kommunismus im 20ten Jahrhundert ganz unromantisch schritt. | |
| Aber warum exemplarisch in Minsk? Nun, die weißrussische Metropole war in | |
| den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört worden. Anders | |
| als in Moskau, sagt Klinau, war von den nationalen Symbolen der älteren | |
| Architektur in Minsk nicht mehr viel übrig. Es galt aber auch das | |
| Weißrussische russisch-stalinistisch zu besetzen. Wobei Klinau auf die | |
| konstruktivistische Fassade der Staatsgebäude am heutigen | |
| Unabhängigkeitsplatz deutet. Diese hatte Stalin bereits in den 1930er | |
| Jahren erbauen lassen. | |
| Ausgerechnet sie, und nicht die Altstadt, überlebten später die | |
| Bombardements von Deutscher Wehrmacht und Roter Armee, die Deutschen | |
| hielten Minsk von 1941 bis 1944 besetzt. „Die Sonnenstadt wurde im Krieg | |
| geboren“, sagt Klinau. Minsk, die auf einer Ost-West-Achse angelegte Stadt, | |
| gilt je nach Perspektive als Tor zu Russland oder ins westliche Europa. | |
| 1.100 Kilometer bis Berlin, 700 nach Moskau. | |
| Nach Stalins Tod 1953 überwog in der Architektur harter Konstruktivismus, | |
| zuvor dominierte sowjetischer Arbeiterbarock, ein Eklektizismus, der auf | |
| Pomp und Vermischung herrschaftlicher Zeichen und Stile setzte. Zu den | |
| Imitaten griechischer Säulen oder römischer Vasen an den Oberflächen der | |
| Baukörper gesellten sich als Dekors rote Sterne, Hammer und Sichel. Die | |
| Sonnenstädter sollten in Arbeiterpalästen, nicht in Plattenbauten wohnen. | |
| ## Auftritt Kamerun | |
| In der verschneiten Sonnenstadt probt zur Vorweihnachtszeit auch Schorsch | |
| Kamerun für einen Auftritt. Im unabhängigen DK-Klub. Der Theaterregisseur | |
| und Sänger der Goldenen Zitronen reiste auf Einladung des Goethe-Instituts | |
| von Hamburg nach Minsk. Der DK-Klub befindet sich am Zentrum der | |
| 2-Millionen-Stadt, im Bauch eines früheren Kombinats. Die Einrichtung | |
| besteht aus einer Bar, gebrauchten Sofas und Stühlen, die Rückwand mit | |
| Tapete aufgehübscht, Klavier und Schlagzeug stehen auf leicht erhöhter | |
| Bühne. | |
| Kamerun übt hier mit den aus München hinzugekommenen MusikerInnen Carl | |
| Oesterhelt, Salewski und Sachiko Hara eine Inszenierung ein. Die drei haben | |
| mit Kamerun schon am Theater gearbeitet, Oesterhelt ist zudem Schlagzeuger | |
| der Band FSK. Sie werden sich hier mit der unabhängigen Minsker | |
| Tanzkompagnie von Olga Skvorzova zusammentun. Skvorzova verknüpft | |
| ihrerseits popkulturelle mit klassischen Elementen; Tanz mit Film und Neuen | |
| Medien. | |
| Die Zusammenarbeit der Künstler aus Deutschland und Weißrussland im DK-Klub | |
| in Minsk wirkt unkompliziert. „Vielleicht könnt ihr euch extrem langsam | |
| bewegen“, fragt Kamerun Skvorzova. „So wie Schlangen, entgegen Tempo und | |
| Hektik des Liedes.“ Die Minsker TänzerInnen und das Kamerun-Ensemble | |
| verstehen sich rasch. | |
| Beim Konzert am Abend trägt Kamerun einen nordafrikanischen Kaftan. Das | |
| Ensemble spielt atonalen Punk, Mensch-Maschinen-Sound, Elektronik und | |
| Percussion. Vorneweg hat Kamerun einen Song ins Weißrussische übersetzen | |
| und verlesen lassen: „Ich versuche an den Botschaften vorbeizukommen, ich | |
| versuche an den Öffnungen vorbeizukommen, an den Kanälen. Denen mit den | |
| Ankündigungen. Ich versuche an den radikalen Zeichen vorbeizukommen, die | |
| deshalb so radikal sind, weil die Zeichenmacher wissen, dass solche Zeichen | |
| die sichtbarsten Zeichen sind …“ | |
| Kameruns ironisch gebrochener Stil dürfte sich dem Publikum auch ohne | |
| Übersetzung mitteilen. Das sehr weibliche Publikum ist sehr aufmerksam, den | |
| möglichen Graben zwischen Publikum und „Orchester“ überbrückt Skvorzovas | |
| Tanzkompagnie. Vor der Theatermusik des Kamerun-Ensembles agieren die | |
| TänzerInnen wie in einem Stummfilm, mixen klassische Ballettfiguren mit | |
| Breakdance-Einlagen. | |
| ## Belarussischer Ska | |
| Musiker und Konzertmanager Maxim Ivashin ist am Ende glücklich und | |
| verschwitzt. Wuchtig kündigt er den Auftritt der nächsten Band an, die | |
| Minsker Fun-Ethno-Punker von Nagual. Und ab gehen belarussischer Ska und | |
| Publikum im DK. Zum Ausklang dann eine weitere Überraschung: Gepflegter | |
| Swing und Paartanz in Minsk. | |
| Weißrussland ist nicht so leicht zu verstehen: auf der einen Seite der | |
| gestrenge Landesvater, der den Blick unverwandt gen Osten richtet. Auf der | |
| anderen Seite die Jugend, welche die Reisefreiheit genießt und kulturell | |
| vom Westen beeinflusst ist. Wirtschaftlich ist das Land von den | |
| Gaslieferungen Putins (zu einem Bruchteil des Weltmarktpreises) abhängig. | |
| Minsk gilt mit seinen Spielcasinos für Russen als Las Vegas des Ostens. | |
| Ideologisch setzt der nationale Mythos weiterhin auf Sowjetunion, | |
| Stalinismus und dem Geschichtsbild des „Großen Vaterländischen Kriegs“. | |
| Und so unterschlägt man bis heute, was am Stadtrand von Minsk in den 1930er | |
| und 40er Jahren wirklich passierte und von dem Historiker wie Siarhei | |
| Novikau berichten. Novikau ist Mitglied der Weißrussischen Akademie der | |
| Wissenschaften und doch ein Außenseiter. Wir sind mit ihm zu einem Wäldchen | |
| bei der Trabantenstadt Trostinez gefahren. | |
| Eine riesige stillgelegte Müllkippe versperrt von der Straße die Sicht auf | |
| den Ort, wo die deutschen Einsatzgruppen von 1941 bis 44 | |
| Massenerschießungen vornahmen. In Minsk lebten zu Beginn der deutschen | |
| Besatzung 240.000 Menschen, bei Abzug waren es noch 50.000. Zehntausende, | |
| Juden aus Minsk und dem Reichsgebiet, Partisanen, Weißrussen und | |
| Kriegsgefangene töteten die Nazis hier, überwiegend per Genickschuss. | |
| Eine private Initiative hat an der Erschießungsstelle in Trostinez zur | |
| Erinnerung an ermordete Wiener Juden gelbe Schilder an die Baumstämme | |
| geheftet. Sonst weist an dem zentralen Ort der Vernichtung wenig an die | |
| Verbrechen hin. Warum nicht? Fragen, die auch Professor Novikau nicht | |
| beantworten kann. „So ist die Situation hier“, sagt er. Haben die | |
| Stalinisten etwa an gleicher Stelle zuvor gemordet? Den stalinistischen | |
| Säuberungen waren Zehntausende Weißrussen zum Opfer gefallen. | |
| ## Gedenkstätte des KZs Trostinez | |
| Anderenorts in Trostinez, am Rande einer Siedlung, schieben Frauen | |
| Kinderwagen durch den Schnee. Ob sie wissen, was hier früher geschah? Zwei | |
| Kilometer von dem Erschießungsplatz im Wald stand hier auf den trostlosen | |
| Brachen das Konzentrationslager Trostinez. Ab nächstem Jahr soll eine | |
| Gedenkstätte an den NS-Terror erinnern. Bislang, so schüttelt Novikau den | |
| Kopf, wurde der Massenvernichtung in Minsk mit einem Obelisken an ganz | |
| anderer Stelle gedacht, und schon gar nicht da, wo sich der Müllberg vor | |
| die Killing Fields des Totalitarismus schob. | |
| Wie sagt der Kunsttheoretiker Artur Klinau doch: „Es besteht ein direkter | |
| Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Scheiterns, mit dem der Versuch zur | |
| Errichtung des Glücks endete, und dem moralischen Niedergang des Volkes, | |
| das diesen Versuch unternahm.“ | |
| 5 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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