| # taz.de -- Tagung des Goethe-Instituts in Berlin: Das Sechs-Augen-Prinzip | |
| > „Dialog und die Erfahrung des Anderen“: Michail Ryklin, Rahel Jaeggi, | |
| > Sari Nusseibeh und der Außenminister diskutierten über Verständigung. | |
| Bild: Michail Ryklin findet es schwer mit jemandem wie Putin einen Dialog zu f�… | |
| Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sprach zu Beginn einer | |
| zweitägigen Tagung des Goethe-Instituts in Berlin von den Krisen dieser | |
| Welt. Und vom Sechs-Augen-Prinzip, welches ihm der in Deutschland lebende | |
| Lyriker Rajvinder Singh im vergangenen Jahr verraten habe. Nach diesem | |
| Sechs-Augen-Prinzip, so Steinmeier, sollten „wir einander immer zugleich | |
| mit den eigenen Augen, mit den Augen des anderen und aus einer gemeinsamen | |
| Perspektive betrachten.“ | |
| Und das, so der Außenminister, sei ein „wie ich finde, treffendes Bild für | |
| den Prozess von Verstehen, Verständnis und Verständigung“. Auf dass nicht | |
| jede Meinungsverschiedenheit sogleich eskaliere. Das Goethe-Institut hatte | |
| einiges an Prominenz aufgeboten, um in der Berlin-Brandenburgischen | |
| Akademie der Wissenschaften in Berlin diesem Prinzip Rechnung zu tragen. | |
| Weniger als sechs Augen waren es selten, die auf den mehrstündigen Panels | |
| bei der Tagung „Dialog & die Erfahrung des Anderen“ ihre Sicht zum Besten | |
| gaben. | |
| Wissenschaftler aus China, Russland, USA oder Palästina – und natürlich | |
| Deutschland. Sogenannte Semionauten, Identitäts- und Lebensformforscher, | |
| Internetsoziologen, Philosophen. Doch – und daran krankte die Veranstaltung | |
| etwas – suchten nur wenige den Austausch oder Disput mit den anderen. Eher | |
| referierte man frontal und monologisch. Es gab aber löbliche Ausnahmen. Am | |
| Dienstagvormittag etwa moderierte Historiker Martin Sabrow eine Runde, an | |
| der neben Somogy Varga und Wang Hui auch der russische Philosoph Michail | |
| Ryklin teilnahm. | |
| ## Brodsky, „Jude, russischer Dichter und amerikanischer Staatsbürger“ | |
| Ryklin erörterte, wie sich ein allseits geschätzter Schriftsteller, ein | |
| „lebender Klassiker“ und unabhängiger Geist wie Joseph Brodsky, im | |
| Auflösungsprozess der Sowjetunion in einen radikalen Nationalisten und | |
| Dichter des großrussischen Chauvinismus verwandelte. Für Brodsky, der sich, | |
| so Ryklin, im US-Exil noch als „Jude, russischen Dichter und amerikanischen | |
| Staatsbürger“ bezeichnete, begann mit dem Ende der Sowjetunion eine neue | |
| imperiale Umdeutung. | |
| Das Unabhängigkeitsstreben von Nationen wie der Ukraine denunzierte er. Die | |
| Ukrainer bezeichnete er in einem berüchtigten Gedicht als „Chochols“ | |
| („Chochol“, eine Anspielung auf den Haarschopf der Kosaken). Sie seien | |
| Verräter, ein dem Erdreich entstammendes Untermenschenvolk, „Dreckspack“, | |
| das mit „Pollacken und Fritzen“ verbündet sei. Ihnen drohte der 1996 | |
| verstorbene Nobelpreisträger Brodsky bereits 1991 in dem Gedicht die | |
| kollektive Bestrafung durch die heilige russische Nation an. | |
| Und, das Thema der Tagung aufgreifend, erklärte Ryklin: Bei solch einer in | |
| Russland heute hegemonialen Haltung käme ein Dialog an seine Grenzen. Den | |
| pessimistischen Realitätsbezug Ryklins suchte der frühere | |
| Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin in einem Einwurf zu zerstreuen. | |
| Hatte Ryklin darauf hingewiesen, dass es schwer sei, mit jemanden wie Putin | |
| einen Dialog zu führen – Putin behaupte einen Bürgerkrieg, während er | |
| Völkerrecht breche und russische Panzer die Grenze zur Ukraine überqueren | |
| ließe, also Krieg gegen das Nachbarland führe – beharrte Nida-Rümelin auf | |
| einer Position, den ausgleichenden Dialog mit Russland zu suchen. | |
| ## Ineinander verkeilte Parteien | |
| Auch „der Westen“ sei Schuld an der derzeitigen Zuspitzung. Ryklin | |
| entgegnete sanft, die Diplomatie müsse natürlich weiterhin alle | |
| Möglichkeiten des Dialogs mit Russland ausloten, schließlich habe man es | |
| hier mit einer Nuklearmacht zu tun. Was man tun kann, wenn zwei Parteien | |
| derart ineinander verkeilt sind, dass sie ohne göttlichen Beistand kaum zu | |
| trennen sind, war auch Thema des palästinensischen Politikers und | |
| Philosophen Sari Nusseibeh, der bis 2014 auch die Al-Quds-Universität in | |
| Jerusalem leitete. | |
| Angesichts des völkisch erstarrten palästinensisch-israelischen Konflikts | |
| betonte er, dass es keine festgefügten Identitäten gäbe. Das Individuum sei | |
| in der Lage, die große Politik zu unterlaufen – und sei es in Form | |
| illegitimer Liebesbeziehungen. Auch die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi | |
| sprach von einer „Politik zweiter Ordnung“, als sie ihre Lebensformtheorie | |
| vorstellte. Dabei bezog sie sich aber nicht auf Nusseibeh oder andere | |
| zivilgesellschaftliche Praktiken, was kulturell spannend gewesen wäre. | |
| Das Sechs-Augen Prinzip, von dem Steinmeier in Berlin sprach – es | |
| funktionierte auf dieser Konferenz noch nicht wirklich. Dies sagt aber | |
| wenig über die Praxis des Goethe-Instituts aus. Da ist man oft viel weiter. | |
| Dessen Generalsekretär, Johannes Ebert, betonte dann auch, wie man im | |
| Kleinen Gesprächskorridore offenhalte, etwa jetzt, indem man Deutschlehrer | |
| aus Russland und der Ukraine zusammenbringe. | |
| 26 Feb 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
| ## TAGS | |
| Frank-Walter Steinmeier | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schorsch Kamerun | |
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