# taz.de -- Werkschau von Michaela Melián: Wie ein heftiger Stromschlag | |
> Das Lenbachhaus richtet der Münchner Musikerin und bildenden Künstlerin | |
> Michaela Melián im Kunstbau die erste Einzelausstellung aus. | |
Bild: Die Verwirklichung der Utopien von gestern. Heute wirklich schon erreicht? | |
Wie kann man eine lang gezogene Bahnhofshalle, die den Charakter einer | |
Passage hat, zu einer in sich geschlossenen, begehbaren | |
Klang-Licht-Skulptur mit integrierter Werkschau umfunktionieren? Michaela | |
Melián, bildende Künstlerin, Musikerin, Komponistin Performerin, | |
Medienkünstlerin im weitesten Sinn, und Hochschulprofessorin für | |
zeitbasierte Medien, hat für „Electric Ladyland“, ihre erste große | |
Einzelausstellung in München im unterirdischen Kunstbau der Städtischen | |
Galerie im Lenbachhaus einen überdimensionalen Erlebnisraum entstehen | |
lassen in dem Hochkultur und Popkultur zusammenfließen. | |
Über zwei Drittel der Halle erstrecken sich zu beiden Seiten, raumhoch und | |
nahtlos aneinandergefügt, zigzigfach vergrößerte, schwarzweiße Zeichnungen. | |
Es sind Skizzen von Maschinenmenschen, von Robotern, von Laborinterieurs | |
für Atom- oder Genversuche, aber auch von Platinen, Mikroskopen, der | |
Doppelhelix – künstlerisch skizzierte Technik und Naturwissenschaft, die in | |
historischen und aktuellen Details Konstruktion, Dekonstruktion und | |
Projektion in einem Panorama, dem „Electric Ladyland“, vereint. | |
Die Utopie eines sehnsüchtig erträumten, dabei grausam bedrohlichen | |
Mensch-Maschinen-Mischwesens à la Frankenstein oszilliert hier mit den | |
realen, hochentwickelten, menschengemachten wie menschenverachtenden | |
Vernichtungsmaschinen. Die Anordnung beschreibt aber genauso die | |
Verwirklichung der Utopien von gestern, die fortgesetzte Etablierung eines | |
Mensch-Maschinen-Systems, das – digital und virtuell – ungeahnt | |
vorteilhafte Bedingungen in einer, nicht ohne Rücksicht auf folgenreiche | |
Verluste beherrschbaren Gegenwart erschafft. | |
Gleichsam als Firmament, vielleicht auch Wolke überspannen dieses weniger | |
dystopische als elegant nüchterne Spektrum der Energiebeschaffungsmethoden | |
und Organ/Hirnersatzkonstruktionen zahllose Glühbirnen, die, einer Melodie, | |
einem Beat folgend, aufglimmen. Mal im Cluster, mal vereinzelt geben sie, | |
mit gleichsam fließender Energie einen Weg vor, der einem Gang durch ein | |
Orchester gleicht, vorbei an den lauter werdenden Streichern, hinüber zu | |
den Bläsern, überlagert, unterbrochen, interpretiert von den Klangcollagen | |
Meliáns. | |
## Die Automatenfrau Olympia | |
Herzstück ist der zweite Akt von Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns | |
Erzählungen“ mit der Arie der Automatenfrau Olympia, die, lebensgroß, | |
wunderschön, hyperidealisiert, seither Folie und Vorbild für Roboter, | |
Androide und Cyborgs ist, obwohl sie – ein Trugbild – in E. T. A. Hoffmanns | |
Novelle „Der Sandmann“ als Trümmerhaufen männlicher Technikträume endet. | |
Melián integriert in diese Installation die Arbeit „Andante Calmo“, für d… | |
sie auf Basis der Arie der todkranken Mimi aus „La Bohème“ einen Soundtrack | |
komponiert hat, der die in jenen Jahren und in bestimmten Kreisen | |
ausdrücklich gepflegte Empfindsamkeit schildert und der über einem sich | |
langsam drehenden runden Bett erklingt. Die Automatin und die Empfindsame | |
finden zusammen, begleitet von dem zart sich wiederholenden „Ach“ der | |
Künstlerin, eine Silbe, ein Wort (das einzige, das Olympia zur Verfügung | |
stand), das doch sehr vieldeutig verwendet und interpretiert werden kann. | |
„Speicher“ eine Videoinstallation von 2008, ist ein früher Beleg von | |
Meliáns Interesse an der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen, | |
kulturgeschichtlichen und popkulturellen Phänomenen gleichermaßen. Dabei | |
bleibt sie angenehm kühl und nüchtern, verzichtet auf Furor und vertraut | |
der Strahlkraft von Stimme und Musik, die gemeinsam mit dem visuellen | |
Erleben einen durchaus auch aufreizenden Bewusstseinsstrom entfachen | |
können. Mit „Speicher“ bezieht sie sich auf eine intermediale Arbeit von | |
Alexander Kluge, Edgar Reitz und Josef Anton Riedl aus dem Jahr 1965, | |
produziert in dem berühmten, 1959 installierten Siemens Studio für | |
elektronische Musik (heute im Deutschen Museum in München). | |
Sie versammelt, scheinbar wahllos, Texte, Auszüge aus Romanen und | |
Erzählungen zum Thema Reisen, Weggehen, Ankommen, Fliehen. Das Spektrum | |
reicht von Goethe bis Alexander Kluge, von Berichten unbekannter Reisender | |
bis zu Schilderungen von Flüchtlingen, gesprochen im distanzierten | |
Nachrichtenduktus von männlichen Schauspielern; dazwischen immer wieder | |
Meldungen zum aktuellen Stand der Wanderung der Zugvögel, vorgetragen von | |
einer Frauenstimme, eine ebenfalls weibliche Navistimme weist, ganz | |
untertäniger Automat, den Weg auf einer nächtlichen Autofahrt im | |
Schneegestöber. | |
## Nichts ist, was es scheint ... | |
Suggestiv eingebettet in den für Melián typischen treibenden Soundtrack | |
unterlaufen den Textfluss das monoton vorbeiziehende, nicht zu definierende | |
Draußen einer zunächst einmal empfundenen Wohligkeit. Irritation schleicht | |
sich ein, ein Gefühl der Unbehaustheit, der latenten Bedrohung, die nicht | |
zu verorten ist, gespeichert in oft abrupt unterbrochenen Geschichten und | |
Klängen. Eine Landschaft aus der Vogelschau gesehen ist in Wirklichkeit ein | |
besticktes Stück Stoff. Nichts ist, was es scheint ... | |
Mit der aus einem Hörspiel entwickelten Diainstallation„Föhrenwald“ (2005) | |
beschreibt Melián die Geschichte einer von den Nationalsozialisten bei | |
München erbauten Mustersiedlung. Ab 1940 war sie Lager für Zwangsarbeiter | |
der nahe gelegenen Munitionsfabrik, nach dem Krieg wurden hier von den | |
Alliierten sogenannte displaced persons untergebracht, Überlebende des | |
Holocaust, die auf eine Möglichkeit zur Ausreise warteten, danach kamen | |
heimatlose Vertriebene. Die gnadenlose, einem Palimpsest gleichende | |
Überschreibung der im beschaulichen Gartensiedlungsstil erbauten Häuser | |
dokumentieren schriftliche oder mündliche Quellen ihrer einstigen Bewohner, | |
wiederum mit großer Distanz vorgetragen von Schauspielern. | |
Michaela Meliáns unaufgeregt virtuoser Umgang mit Klang, Licht, Objekt und | |
Zeichnung führt zunächst in die Irre eines gefährlich geschmeidig | |
vorgetragenen Diskurses. Doppelbödigkeit, Kritik, vielleicht auch Klage | |
offenbaren sich erst allmählich und in der Aufschlüsselung ihrer | |
Verschränkungen und Bezüge. Oder ganz unvermutet. Wie ein kleiner, heftiger | |
Stromschlag. | |
8 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Annegret Erhard | |
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