# taz.de -- Historiker über Ukraines Unabhängigkeit: „Das Fest ist dieses J… | |
> Andrij Portnov wünscht sich, dass Ukraines Bevölkerung die Vielfalt zu | |
> schätzen lernt. Ein Ende des Kriegs im Osten des Landes ist nur auf | |
> internationaler Ebene erreichbar. | |
Bild: „Für die Menschen des Donbass wird es schwer sein, wieder zurück zu e… | |
taz: Herr Portnov, der 24. August ist der Jahrestag der Unabhängigkeit der | |
Ukraine. Hat das Land überhaupt etwas zu feiern? | |
Andrij Portnov: Auf jeden Fall! Die Ukraine existierte noch nie so lange | |
als eigenständiger Staat. Im 19. Jahrhundert hatte es bereits mehrere | |
Versuche gegeben, die ukrainische Unabhängigkeit auszurufen, aber die sind | |
jedes Mal gescheitert. Unsere neue Unabhängigkeit zählt jetzt 23 Jahre, das | |
allein ist ein Grund zum Feiern. Eine andere Sache ist, dass niemand ahnen | |
konnte, dass sich das Fest dieses Jahr von denen der Vorjahre unterscheiden | |
würde. Niemand sah vorher, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums | |
verlieren würde. In diesem Jahr feiern wir unter anderen Vorzeichen. | |
Es heißt oft, die Ukraine kämpfe gerade für ihre Unabhängigkeit. Wie sehen | |
Sie das? | |
Ich denke, das ist in vielerlei Hinsicht richtig. Dieser Kampf ist die | |
Suche nach einer neuen Ukraine. Die Hoffnungen waren sehr groß, dass diese | |
Ukraine europäisch und friedlich sein werde. Aber das ist noch schwieriger | |
zu erreichen als wir im Herbst 2013 dachten, zu dem Zeitpunkt als die | |
Demonstrationen auf dem Maidan begannen. Die Ukraine muss lernen, ihre | |
Vielfalt zu schätzen. Wir sollten nicht denken: Der Donbass ist anders als | |
der Rest, die Menschen dort leben noch in der Sowjetunion. Das ist alles | |
Unsinn! | |
Man muss verstehen, dass die Vielfalt der Ukraine gerade eine Chance für | |
eine demokratische und pluralistische Gesellschaft ist. Das ist wichtig! Es | |
gibt viele, die wollen, dass die Ukraine aus diesem Kampf undemokratisch | |
und verschlossen hervorgeht. Es muss gezeigt werden, dass im | |
zeitgenössischen Europa ein Staatsmodell möglich ist, dass die Vielfalt | |
kultiviert und sie nicht fürchtet. Fall das der Ukraine gelingt, wäre das | |
ein Zeichen dafür, dass das Land seine Unabhängigkeit 1991 nicht umsonst | |
erhielt. Und das wäre ein wichtiger Sieg für das zukünftige Europa, die | |
Demokratie und das gegenseitige Verständnis. | |
Wie wird der Krieg im Osten der Ukraine ausgehen? | |
Der Krieg kann nur mit dem Ergebnis eines geopolitischen Prozesses enden. | |
An den Verhandlungstisch müssen sich nicht Donezk und Kiew setzen, sondern | |
Moskau, Brüssel, Berlin und Washington. Aus dem Konflikt wird kein Sieger | |
hervorgehen. Das wichtigste ist jetzt, den Konflikt bis zum Ende des | |
Winters zu lösen, sonst kann sich die Situation noch verschlimmern. Es ist | |
aber nicht ausgeschlossen, dass sich der Krieg noch lange hinziehen kann. | |
Der Wiederaufbau dieser Region wird viel Zeit in Anspruch nehmen und sehr | |
viel Geld kosten. Für die Menschen des Donbass wird es schwer sein, wieder | |
zurück zu einem friedlichen Leben zu finden. Die vielen Waffen, die in der | |
Region bleiben werden, sind ein zusätzliches Problem. Lokale Konflikte | |
können durch den Waffenbesitz zusätzlich geschürt werden. Es können sich | |
Partisanenkriege entwickeln, die in Terrorismus münden. Die | |
Destabilisierung der Region ist schon seit langem erreicht. | |
Im Osten fallen Bomben und in Kiew soll die Kommunistische Partei verboten | |
werden. Wie sehen Sie diese Entscheidung? | |
Darüber muss erst das Gericht entscheiden. In der ukrainischen Gesellschaft | |
gibt es die Meinung, dass die Partei für Geld bereit ist, alles und jeden | |
zu wählen. Die Kommunistische Partei und ihre Aktivisten unterstützen offen | |
die Separatisten in Donezk und Lugansk. Ich persönlich finde das Verbot der | |
Partei nicht richtig. Es trägt nur zu einem negativen Bild der neuen | |
ukrainischen Macht bei. Wenn die Ukraine sich als demokratisches Land | |
entwickeln möchte, dann ist das der falsche Weg. Ein anderes Problem ist, | |
dass es in der Ukraine bislang keine wirklichen Linksparteien gibt. Die | |
Kommunistische Partei diskreditiert die linke Idee in der Ukraine nur. Bei | |
der Parlamentswahl im Herbst wird es keine einzige linke Partei geben, und | |
das ist weitaus schlimmer als das Verbot der Kommunisten. | |
Welche Rolle wird der Rechte Sektor bei der Parlamentswahl im Herbst | |
spielen? | |
Ich sehe keinen Grund dafür, dass der Rechte Sektor diesmal eine größere | |
Rolle spielen sollte als bei der Präsidentschaftswahl im Mai. Der Rechte | |
Sektor ist ein künstlich geschaffenes Projekt. Eine größere Gefahr stellt | |
die Radikale Partei von Oleg Ljaschko dar. Bei der Präsidentschaftswahl | |
trat er als Kandidat an und erhielt mit knapp 8 % nach Petro Poroschenko | |
und Julia Timoschenko das drittbeste Ergebnis. Laut Umfragen erhält | |
Ljaschkos Partei eine Unterstützung von 10 bis 12 Prozent vom Volk – ohne | |
ein konkretes Programm aufzuweisen. | |
Durch sie steigt die Gefahr, dass mehr Populisten in die Rada kommen, die | |
von bestimmten wirtschaftlichen und politischen Gruppen gelenkt werden. | |
Trotzdem ist der Rechte Sektor ein ernstzunehmendes Problem in der Ukraine. | |
Die Frage ist, was mit den radikalen Gruppierungen, die jetzt auch noch | |
bewaffnet sind, geschehen soll? Ich spreche hier auch vom sogenannten | |
„Asow-Bataillon“, das von Neonazis gegründet worden ist und aus | |
Freiwilligen besteht. Das sind einige Hundert Mann, die im Donbass kämpfen | |
und offen Nazisymbolik verwenden, beispielsweise ein leicht modifiziertes | |
Hakenkreuz. | |
Was kann die Europäische Union tun um den Konflikt zu beenden? | |
Die EU muss sich überlegen, wie sie die Ukraine sehen möchte: integriert in | |
Europa, als Vermittler zwischen Ost und West oder unter dem Einfluss | |
Russlands. Die EU muss sich entscheiden! Sie hat schon zuviel wertvolle | |
Zeit verloren, die sie mit Entscheidungsfindungen vertan hat. Die EU muss | |
verstehen, dass sie in Zukunft schneller und mutiger reagieren muss. Und | |
allein Sanktionen reichen auch nicht als Maßnahme. Die Lösung des Konflikts | |
liegt in Gesprächen mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Die Augen davor | |
zu verschließen, dass Russland an dem Konflikt beteiligt ist, ist ein | |
Fehler. | |
Dass Russland die Ukraine destabilisert, um weiterhin Einfluss auf das Land | |
nehmen zu können, ist kein Geheimnis. Putin hat sich selbst in diese Lage | |
befördert. Die Lage in der Ukraine ist für ihn ein wichtiges | |
innenpolitisches Argument. Er stellt sein Volk vor die Wahl: Stabilität und | |
Sicherheit oder Chaos und Krieg. Die Russen erwarten im Krieg mit der | |
Ukraine von ihrem Präsidenten einen Erfolg. Putin kann seine politische | |
Linie nicht mehr ändern und ist kaum kompromissbereit, da er aus Gesprächen | |
mit dem Westen als Gewinner hervorgehen muss. | |
23 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Ljuba Naminova | |
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