| # taz.de -- Debatte Euromaidan: Marshallplan für die Ukraine | |
| > Aktivisten finden, dass es einen neuen Maidan gäbe, wenn der Konflikt mit | |
| > Russland nicht wäre. Die Regierung in Kiew blockiert auch die | |
| > Zivilgesellschaft. | |
| Bild: Polnische Maidan-Aktivisten am ukrainischen Unabhängigkeitstag in Warsch… | |
| Es sind keine zehn Demonstranten, die sich an einem sonnigen | |
| Freitagvormittag Anfang September vor dem Ministerratsgebäude in Kiew | |
| einfinden. Sie haben ein großes Transparent mitgebracht, auf dem eine gelbe | |
| Europakarte zu sehen ist und die Ukraine ganz in Schwarz: ohne schnelles | |
| Internet. Die Demonstranten fordern: Gebt uns 3G! Man fragt sich: Habt ihr | |
| hier nicht gerade andere Sorgen? | |
| Doch, haben sie. Ein paar Meter weiter protestieren zwanzig Frauen dafür, | |
| dass ihre Söhne und Männer, die in der ukrainischen Armee dienen, nach | |
| Hause kommen. Sie haben keine schicken Spruchbänder, halten keine | |
| ausgefeilten Reden. Nachdem die 3G-Leute ihnen einen Lautsprecher zur | |
| Verfügung stellen, rufen die Frauen „Jazenjuk“ und „23. [Einheit] nach | |
| Hause!“. Endlich wenden die Fotografen sich ihnen zu – kurz. | |
| Diese Szene sagt viel aus über die neue Ukraine – und die neue ukrainische | |
| Zivilgesellschaft. Die 3G-Leute gehören zu einer Stiftung, die in der Folge | |
| des Euromaidan gegründet wurde. Die Aktivisten des „Reanimation Reforms | |
| Package“ bringen weit mehr als 100 Experten zusammen, die sich wöchentlich | |
| treffen und eine umfassende Reformagenda der Ukraine entwerfen – von der | |
| Lobbyarbeit bis zum Gesetzesvorschlag. Die andere Gruppe ist ein | |
| Zusammenschluss von Betroffenen. Sie machen das, was in demokratischen | |
| Gesellschaften üblich ist: sie versammeln sich und protestieren. | |
| Durch die Euromaidanproteste hat die ukrainische Zivilgesellschaft zu neuem | |
| Selbstbewusstsein gefunden. Lange Zeit standen NGOs in der Kritik, im | |
| Wesentlichen ein von westlichen Geldgebern unterstützter Zirkel zu sein, | |
| der zwar ambitionierte Projekte durchführt, aber wenig Kontakt zur | |
| „Normalbevölkerung“ hat. Diese wiederum galt in der Sicht von | |
| NGO-Aktivisten und manch externen Beobachtern als passiv und apolitisch. | |
| ## Vermisster Neustart | |
| Beides hat sich geändert: Der Euromaidan war der Protest just dieser | |
| „Normalbevölkerung“ gegen die Abgehobenheit des Präsidenten und das bruta… | |
| Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen sie. Gleichzeitig setzten die | |
| hochprofessionellen NGOs ihre Expertise im Kampagnenmanagement und der | |
| Projektsteuerung für die logistische Unterstützung des „Aufstands der | |
| Würde“ ein. Den Fehler der Orangen Revolution, nur die Elite auszuwechseln, | |
| ohne das politische System zu verändern, wollte man nicht wiederholen. | |
| Doch heute heißt es unter ukrainischen Aktivisten häufig, der Euromaidan | |
| habe zwar die Machtclique Janukowitschs aus dem Amt gejagt, doch das | |
| eigentliche Ziel, ein demokratischer Neustart, liege noch in weiter Ferne: | |
| „Wenn der Krieg nicht wäre, gäbe es schon einen neuen Maidan.“ | |
| Und genau darum geht es Russland. Diese kaum noch verdeckte Invasion der | |
| russischen Armee in der Ukraine richtet sich im Kern gegen deren | |
| Demokratisierung. Schon bei der Orangen Revolution 2004 wurde deutlich, | |
| dass die ukrainische Gesellschaft um ein vielfaches liberaler, kritischer | |
| und pluralistischer war und ist als die russische. Das „Brudervolk“ wurde | |
| russischen Oppositionellen zum Vorbild und der russischen Regierung zur | |
| Gefahr. | |
| ## Andere Sorgen | |
| Der Krieg kommt aber einigen politischen Akteuren in der Ukraine durchaus | |
| gelegen. Denn die Reformagenda der Zivilgesellschaft bedroht ihre | |
| Privilegien. Deshalb ist ein Lustrationskomitee, das die öffentlichen | |
| Einrichtungen auf paternalistische Netzwerke der Janukowitsch-Ära und | |
| Geheimdienstbeteiligung untersuchen soll, zwar gebildet, aber nicht | |
| offiziell ernannt worden. Das Komitee arbeitet derzeit als eine Art NGO | |
| ohne Befugnisse. Dem neuen Antikorruptionsbüro geht es ähnlich. | |
| Auf Widerstand trifft auch die Etablierung eines öffentlich-rechtlichen | |
| Rundfunks als einzigem von Staat und Oligarchen unabhängigen, national | |
| erreichbaren Medienakteur außerhalb des Internets. Zwar ist die | |
| Transformation des „Ersten Kanals“ gesetzlich beschlossen, doch mangelt es | |
| an Konzepten, Technik, Gehältern – und politischem Willen, den | |
| öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu einer Erfolgsgeschichte werden zu | |
| lassen. | |
| Auch bei der Forderung der 3G-Aktivisten geht es nicht nur um ein | |
| schnelleres Internet, sondern auch darum, es unter öffentliche Kontrolle zu | |
| stellen. Die Aktivisten und Experten des Reanimation Reform Package sind an | |
| diesen und etwa 20 weiteren grundlegenden Reformen beteiligt. Die | |
| ukrainische Gesellschaft verfolgt deren Umsetzung – noch. Blockiert werden | |
| die Reformen von Regierung und Parlament hauptsächlich mit dem Verweis auf | |
| den Krieg: Zunächst müsse man das Land verteidigen, danach könne man ja | |
| über Reformen sprechen. Wir haben doch gerade andere Sorgen! | |
| ## Krieg gegen die Demokratie | |
| Vieles spricht dafür, dass Putin die Ostukraine nicht, wie dies bei der | |
| Krim geschah, annektieren wollte. Die Region mit ihren veralteten Fabriken | |
| und der maroden Infrastruktur würde Russland Kosten bescheren, die die | |
| russische Mittelschicht neben der Alimentierung der Krim nicht auch noch | |
| schultern kann. | |
| Vielmehr dürfte das Gebiet Russland als Sprungbrett für eine dauerhafte | |
| Destabilisierung der Ukraine dienen. Die Demokratie soll mit Chaos und | |
| Gewalt in Verbindung gebracht werden. Schon hört man in Kiew Sätze wie: | |
| „Vor der Revolution ging es uns besser.“ | |
| Die deutsche Regierung und die EU schließen daher zu Recht eine | |
| militärische Lösung des Konflikts aus. Doch sie begehen einen großen | |
| Fehler, wenn sie den starken Willen der Ukrainerinnen und Ukrainer für | |
| demokratische Selbstbestimmung nicht intensiver unterstützen und Reformen | |
| einfordern. Gerade Deutschland könnte sich bei der | |
| Vergangenheitsaufarbeitung, bei Versöhnung und Wiederaufbau engagieren und | |
| Dezentralisierung, zivilgesellschaftliche Initiativen, eine pluralistische | |
| Medienlandschaft und überhaupt Ökonomie fördern, die am Gemeinwohl statt an | |
| Oligarchen orientiert ist. | |
| Scheitert die Reformagenda, liegt die Zivilgesellschaft am Boden, werden | |
| Radikale weiter erstarken und einer erneuten Autokratisierung, wenn nicht | |
| einem Bürgerkrieg den Weg bereiten. Der Westen wäre gut beraten, die | |
| Reformambitionen ernst zu nehmen. | |
| 12 Sep 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Susann Worschech | |
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