Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Russlandkritik und Ukraine: Eine begründete Angst vor Mosk…
> In der deutschen Publizistik betreiben viele einseitig Geschichtspolitik.
> Eine Lösung in der Ukraine läuft auf einen transregionalen Föderalismus
> hinaus.
Bild: Die russische Armee marschiert. Ein Bild, das in vielen Teilen Osteuropas…
Der eklatante Fehlgriff Antje Vollmers, in [1][ihrem taz-Debattenbeitrag]
vom 7. Oktober die Putin-Kritik des Bundespräsidenten Gauck auf ein
unbewältigtes Familientrauma zurückzuführen, sei ihr nachgesehen. Auch die
Abkanzlung von ihr abweichender Meinungen auf die schwarz-grüne Hinterbank
und der Ritterschlag Gerhard Schröders zum Dissidenten.
Das eigentliche Problem aber ist, dass sie unterstellt, Gauck habe die
Russland-Diplomatie aufgegeben. Das Gegenteil ist der Fall. So ist etwa die
Weigerung, nach Sotschi zu fahren, Teil einer Haltung, die die Ängste der
Nachbarn ernst nimmt, und Putin etwas entgegensetzen will – aber natürlich
trotzdem im Gespräch mit dem russischen Präsidenten bleiben will. Die
Mehrheit der deutschen und europäischen Diplomatie weist ja zu Recht darauf
hin, man müsse seine Partner so nehmen, wie sie sind: Putin, Erdogan und –
wer weiß – demnächst eine Präsidentin Le Pen.
Aus der friedlichen Koexistenz vor dem Ende des alten Ost-West-Konfliktes
war zu lernen, dass man die kommunistischen Unrechtsstaaten als solche
benennen und kritisieren konnte, ohne deshalb auf dauernde, auch
grenzwertige Kompromisse mit deren Staats- und Parteiführungen zu
verzichten. Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ war weniger durch ihn
selbst, aber sachlich-objektiv komplementiert durch Kontakte von
Bürgerrechtlern zur Charta 77 und zur polnischen Gewerkschaft Solidarnosc.
Auf Entspannung um jeden Preis zu setzen bedeutete Verrat an den
Bürgerbewegungen, mit Gierek, Honecker oder Breschnew nicht zu reden hätte
sie ebenso im Stich gelassen.
Der Groll vieler Intellektueller und Politiker aus den Ländern
Ostmitteleuropas über eine Entspannungspolitik, die polnische
Gewerkschafter als reaktionäre Katholiken denunzierte, ist höchst
verständlich. Während das Geschäft der Berufspolitik das Bohren dicker
Bretter in immer neuen Anläufen ist, ist die Pflicht der geistigen Welt,
Unrecht und Unterdrückung beim Namen zu nennen. Gauck ist umstritten, weil
er beide Rollen kann.
## Historisch sensibel argumentiert, wer in beide Richtungen blickt
Das bedeutet nicht Äquidistanz: Als Ostdeutscher weiß er besser als die
meisten Westeuropäer, dass man nicht nur die Umzingelungsfurcht Russlands
„verstehen“ muss (sie wurde übrigens schon Lenin und Stalin zugute
gehalten), sondern auch und vor allem die begründete Angst der Nationen,
die von Preußen-Deutschland und Russland in ihren verschiedenen
Aggregatzuständen unterdrückt und geteilt, ja: zu erheblichen Teilen
vernichtet wurden.
Wenn man historisch „sensibel“ argumentiert, dann bitte nicht nur im Blick
auf nicht gehaltene Versprechungen, die Nato-Grenzen nicht nach Osten zu
verlegen, sondern auch auf diese ältere Geschichte, die den Wunsch nach
Schutz vor Moskau mindestens ebenso „verständlich“ macht. Es ist geradezu
absurd, Ukrainern und Polen, die im Zweiten Weltkrieg über alle Maßen
geblutet haben, mit Hinweis auf die russischen Opfer Schweigen
aufzuerlegen.
In Polen, in den baltischen Ländern, in der Ukraine und in Weißrussland
sind nicht weniger als 14 Millionen Menschen außerhalb von unmittelbaren
Kampfhandlungen im Krieg ums Leben gekommen. Vor allem Westeuropäer müssen
erst noch anerkennen, wie zwischen 1939 bis 1945 in den „Bloodlands“
(Timothy Snyder) beide totalitären Regime in einer Art antagonistischen
Kooperation verbunden waren und sich wechselseitig radikalisierten.
Russifizierung und Lebensraumprojekte waren nicht identisch, sie griffen
aber ineinander.
In der deutschen Politik gibt es zu viele Intellektuelle, die Russland
einfühlsam verstehen, in der deutschen Publizistik zu viele
RealpolitikerInnen, die einseitig Geschichtspolitik betreiben. Die
natürlichen Reibungen zwischen ihnen werden produktiv, wenn man
nichtmilitärische Lösungen nicht nur gebetsmühlenartig fordert, sondern
sich der Mühe unterzieht, sie konkret und plausibel zu entwickeln. Statt
auf dem mythisch überhöhten Erfahrungshintergrund der Feindschaften zu
beharren, muss der Erwartungshorizont einer lebensfähigen Region skizziert
werden.
## Die Ukraine muss Brücke statt Zankapfel sein
Nach Lage der Dinge ist die Ukraine nun faktisch geteilt und würde nur mit
Gewalt wieder zu vereinen sein. Wer eine gedeihliche Zukunft wünscht, muss
Puzzleteile für einen derzeit aussichtslos wirkenden Dialog zwischen den
vernünftigen Kräften in Kiew und Moskau zusammensetzen – im Rahmen einer
transnationalen Diplomatie, die Weltbank und Washington, Brüssel und
London, Warschau und die baltischen Hauptstädte einschließt und dabei
namentlich auf Nichtregierungsorganisationen rekurriert.
Pragmatiker und Prinzipienhüter müssen also ein Szenario ausmalen, in dem
die Ukraine nicht mehr als Zankapfel (oder Beutegut) zwischen Europäischer
Union und Putins Oligarchie auftritt, sondern eine tragfähige Brücke bildet
über alte und neue Ost-West-Gräben. Der Grundton im neoimperialen Russland
ist derzeit Annexion, worauf ethnische Nationalisten in der Ukraine
militärisch antworten; eine zivile Lösung läuft demgegenüber auf einen
transregionalen, grenzüberschreitenden Föderalismus hinaus.
Die Wirtschaft der Region speist sich zu einem großen Teil aus
Renteneinkünften aus der Förderung und dem Durchlauf von Gas und Öl; eine
nachhaltige Entwicklung orientiert sich an den Bedürfnissen der breiten
Bevölkerung und schützt überdies „postkarbon“ globale Gemeingüter wie d…
Meer und die Atmosphäre.
Es wird der Tag kommen, wo solche „Träumereien“ als realistischer anerkannt
werden denn regressive Macht- und Säuberungsfantasien. Entstanden sind
diese in Moskau, Donezk und auch Kiew aus der Maidan-Angst vor einer
umfassenden und nachhaltigen Demokratisierung; gegen alle Evidenz bleibt
sie auf der Tagesordnung. Wahr ist: Die Utopie regionalen Ausgleichs muss
ausgearbeitet werden vor der Kulisse antagonistischer Geschichtsbilder und
nachhaltig gestörter Kommunikation.
Und zur Wahrheit gehört auch auszusprechen, dass ein analoges Vorgehen
Moskaus in den baltischen EU- und Nato-Ländern diesen gar nichts anderes
übrig ließe als den endgültigen Bruch. Sonst würde Europa sich endgültig
aufgeben.
14 Oct 2014
## LINKS
[1] /Debatte-Gaucks-Haltung-zu-Russland/!147229/
## AUTOREN
Claus Leggewie
## TAGS
Joachim Gauck
Russland
Ukraine
Föderalismus
Geschichtspolitik
Rote Armee
Russland
Maidan
Ukraine-Konflikt
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Tiger
Joachim Gauck
Euromaidan
Ukraine
Russland
Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Konflikt zwischen Russland und Polen: Wie du mir, so ich dir
Moskau spricht nach der Ausweisung russischer Diplomaten aus Polen von
„unfreundlichen und unbegründeten Schritten“. Und weist ebenfalls
Diplomaten aus.
Wahl in der Ukraine: „Sie müssen tun, was das Volk will“
Zwei Kämpfer vom Maidan in Kiew haben viel geopfert, um eine Ukraine ohne
Korruption zu erleben. Zwei Porträts vor der Wahl.
Fahnenflüchtiger Fallschirmjäger: Eigenmächtiger Frontbesuch
Laut „Süddeutsche Zeitung“ hat sich ein Bundeswehrsoldat in die Ukraine
abgesetzt. Er soll dort für prorussische Freischärler kämpfen.
Europa-Asien-Gipfel und Russland: Sanktionen sind Erpressung
50 Politiker aus Europa und Asien wollen in Mailand über die großen
Konflikte beraten. Im Mittelpunkt: Wladimir Putin und sein Kiewer Kollege
Petro Poroschenko.
Krise in der Ukraine: Putin spricht mit Merkel
Im Unruhegebiet sterben wieder Menschen. Dabei herrscht Waffenruhe in der
Ostukraine. Ein Gespräch zwischen Merkel und Putin soll eine Lösung
vorantreiben.
Präsidialer Tierschutz: Böse, böse, böse Katze
Putin hat eine Schwäche für sibirische Tiger. Kusja, einer seiner
Lieblingstiger, ist nach China ausgebüchst und sorgt dort für Schlagzeilen.
Debatte Gaucks Haltung zu Russland: Traditionsbruch mit Folgen
Das Ressentiment von Joachim Gauck gegenüber Putin belastet eine
diplomatische Lösung. Der Präsident füttert die Schatten alter Gespenster.
Debatte Euromaidan: Marshallplan für die Ukraine
Aktivisten finden, dass es einen neuen Maidan gäbe, wenn der Konflikt mit
Russland nicht wäre. Die Regierung in Kiew blockiert auch die
Zivilgesellschaft.
Kommentar Krise in der Ukraine: Dumm und kurzsichtig
Über abgeschossenen Flugzeugen wird schnell vergessen, auch auf die Arbeit
des ukrainischen Parlaments zu sehen. Die aber heizt den Krieg an.
Debatte Russland in der Ukrainekrise: Vom Bosnienkrieg lernen
Zwischen Milosevic und Putin gibt es Ähnlichkeiten. Auch seine Politik
richtet sich gegen multikulturelle Toleranz und unabhängige soziale
Bewegungen.
Debatte Sprache und die Ukraine-Krise: So klingt der Krieg
Invasion, Annexion oder Separation – die Begriffe fliegen durcheinander,
als ob alles auf dasselbe hinausliefe: den bewaffneten Kampf.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.