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# taz.de -- Debatte Gaucks Haltung zu Russland: Traditionsbruch mit Folgen
> Das Ressentiment von Joachim Gauck gegenüber Putin belastet eine
> diplomatische Lösung. Der Präsident füttert die Schatten alter
> Gespenster.
Bild: Im Wachsfigurenkabinett Dauergast, aber seit seiner Amtseinführung nicht…
Joachim Gauck war in seiner ganzen Amtszeit als Bundespräsident noch kein
einziges Mal in Russland. Das ist als Faktum schon ungewöhnlich genug, denn
Moskau-Diplomatie gehörte in der alten Bundesrepublik zum Anfangssoll einer
jeden Kanzlerschaft oder Präsidentschaft. Das ergab sich zwingend aus der
politischen Bedeutung, die das Verhältnis der Deutschen zu den Russen für
die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des ganzen Kontinents hatte.
Spätestens seit Bismarck galt als Grundsatz der europäischen Außenpolitik:
Wenn das Verhältnis zwischen diesen beiden europäischen Mächten im Argen
liegt, ist das nicht nur für die beiden Völker existenzbedrohend, sondern
zugleich auch eine schwere Hypothek für ganz Europa. Selbst in der Zeit des
Kalten Krieges, für Adenauer, von Weizsäcker, Brandt, Genscher, Herzog,
Kohl und später auch Schröder galt das als unumstößliche Tatsache, die
berücksichtigen musste, wer immer für deutsche Politik Verantwortung
übernahm.
Mit diesem Grundsatz hat Joachim Gauck gebrochen. Im Abstand von Jahren
wird man rückblickend vielleicht noch deutlicher als im heutigen Tageslärm
sehen, wie grundlegend er an dieser außenpolitischen Tradition gerüttelt
hat und wie sehr er persönlich am Anfang einer unseligen Entwicklung stand,
die die europäische Diplomatie offensichtlich nicht mehr in den Griff
bekommt.
## Das Unglück begann mit Sotschi
Genau genommen begann das Unglück mit der Debatte über den Boykott der
Olympischen Spiele von Sotschi. Wie schon vier Jahre zuvor in den
Boykottforderungen gegen die Spiele von Peking waren auch diesmal wieder
die Wochen vor der Eröffnung die hohe Zeit heftiger medialer Kampagnen –
wobei der offene oder unausgesprochene Vergleich mit Hitlers Olympiade von
1936 immer noch als Folie herhalten muss.
Das heutige Russland ist aber ebenso wenig die unveränderte Sowjetunion
Stalins, wie das heutige China noch der Diktatur Mao-Tse-tungs gleicht.
Beide Länder hofften mit ihrer Gastgeberrolle bei weltweit so beachteten
Spielen auf eine Chance, ihre gesellschaftlichen Fortschritte – trotz aller
noch verbliebenen Defizite – einer fairen Weltöffentlichkeit zeigen zu
können. Gerade nach der Niederlage des Kalten Krieges und den völlig
chaotischen Jelzin-Jahren mit ihren heftigen sozialen Verwerfungen suchte
nicht nur Putin, sondern ganz Russland eine solche Würdigung der
überstandenen Veränderungen und Anstrengungen.
Wie wichtig ein friedlicher und weltoffener Verlauf der Olympiade dem
russischen Präsidenten war, lässt sich nicht zuletzt an der Geste ablesen,
dass der Oligarch Chodorkowski und die Punkband Pussy Riot überraschend
freikamen. Das war ein Signal an die Menschenrechtsgruppen – selbst wenn
die Methode rechtsstaatlich gesehen zweifelhaft blieb.
## Dissident Gerhard Schröder
Trotzdem verstummten die Boykottaufrufe keineswegs, sie suchten sich nur
ein anderes Thema: die Ukraine. Als Erster beschloss Joachim Gauck, nicht
die „Spiele Putins“ mit seiner Anwesenheit aufzuwerten. Als der Präsident
nicht fuhr, fuhr auch die Kanzlerin nicht, die anderswo selten solche
Auftritte meidet. Wenn Präsident und Kanzlerin nicht fahren, kann auch bald
kein Minister fahren, und selbst die reiselustigen Abgeordneten müssen
Abstand nehmen. Wenn der deutsche Präsident nicht fährt, kann auch der
französische schlecht losziehen usw. usw. Die demonstrative Anwesenheit von
Gerhard Schröder auf den leeren Prominentenrängen im Stadion hatte da schon
Dissidentenqualität!
Es gab ja auch – terminnah – schöne andere Reiseziele. Auf dem Maidan gaben
sich mediengerecht die tapferen Putin-Boykottierer die Mikrofone und
Kameras in die Hand, zur Münchner Sicherheitskonferenz und ins Kanzleramt
wurden ukrainische Oppositionelle wie Staatenlenker empfangen. Von drei
westlichen Außenministern wurde ein schadenbegrenzendes Abkommen
geschlossen, aber am nächsten Tag als wertlos akzeptiert, als sich die Lage
noch einmal „revolutionär“ verändert hatte. Das war zwei Tage vor (!) dem
Ende der Olympischen Spiele. Einen Tag nach (!) Ende der Spiele ließ Putin
die Krim besetzen …
Der deutsche Präsident aber, der so ungern den Osten besucht, reiste bald
nach Kiew zur Vereidigung des frisch gewählten Präsidenten einer keineswegs
unumstrittenen neuen Ukraine-Regierung und drückte ihn herzlich. Er nutzte
auch die Gedenkfeiern zum Beginn des Zweiten Weltkrieges auf der
Westernplatte in Polen zu einem Generalangriff auf Russland und erschwerte
damit die sowieso schon hochbrisante Lage zwischen beiden Ländern weiter.
## Was treibt Joachim Gauck?
Es ist bekannt: Unser Bundespräsident hat aus biografischen Gründen, wegen
der vierjährigen Haftzeit seines Vaters in Sibirien, große Probleme im
Umgang mit dem Land, in dem er immer noch die alte Sowjetunion am Werk
sieht. Aber darf ein Präsident das Verhältnis zwischen zwei europäischen
Staaten und die gesamte Diplomatie dieser Länder zur Geisel nehmen, um
seine Familiengeschichte zu bewältigen? Hat er nicht, ohne Ansehen der
Person, vor allem dem Frieden, dem Ausgleich, dem Abbau von Feindbildern
und alten Ressentiments zwischen den Völkern zu dienen? Stattdessen füttert
und jagt er die Schatten alter Gespenster.
Jener Begriff von Politik aber, die als ihre höchste Kunst die Fähigkeit
ansah, Gräben und Mauern zu überwinden, Konflikte zu entschärfen und
Brücken bei schier unüberwindlich scheinenden Widersprüchen trotzdem zu
bauen, scheint in Vergessenheit zu geraten. Das wenig zielführende
Isolieren, Sanktionieren und Boykottieren geht derweil munter weiter. Schon
fordern zwei schwarz-grüne Hinterbänkler den Boykott des Petersburger
Dialogs, des letzten dünnen Fadens eines offiziellen Gesprächskontaktes
zwischen Deutschen und Russen, der im Oktober stattfinden sollte. Auch sie
haben gute Chancen auf Medienapplaus und Tageserfolg.
Man fragt sich allmählich, wer all diese Scherben zerrütteter europäischer
Verhältnisse und zertrampelter diplomatischer Traditionen irgendwann noch
einmal wieder zusammensuchen und mit Vernunft neu zusammenfügen kann.
7 Oct 2014
## AUTOREN
Antje Vollmer
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