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# taz.de -- Debatte Russland in der Ukrainekrise: Vom Bosnienkrieg lernen
> Zwischen Milosevic und Putin gibt es Ähnlichkeiten. Auch seine Politik
> richtet sich gegen multikulturelle Toleranz und unabhängige soziale
> Bewegungen.
Bild: Auf dem Maidan demonstrierten die Menschen auch gegen die Überreste des …
Die Entwicklung in der Ukraine zeigt, wie schnell eine jahrzehntelang
friedliche Gesellschaft in eine blutige Auseinandersetzung getrieben werden
kann. Vieles in der Ukraine erinnert an die Anfangszeit des Kriegs in
Jugoslawien. Der Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Rechtssicherheit
standen auch in Serbien am Beginn der Entwicklung. Die Privilegien der
Nomenklatura waren durch eine demokratische Bewegung bedroht.
Im März 1991 trieben Panzer eine Demonstration von 300.000 Menschen in
Belgrad auseinander, der damalige Präsident Milosevic kriminalisierte die
politische Opposition und die ethnischen Minderheiten, er verbündete sich
mit den Rechtsradikalen.
Die Verbindung der aus dem Kommunismus stammenden totalitären
Machtstrukturen mit dem serbischen Nationalismus führte in einen
Eroberungskrieg, inklusive ethnischer Säuberungen. Das Ziel war die
militärische Eroberung von Territorien in Bosnien und Kroatien, in denen
auch Serben lebten, um ein Großserbien zu schaffen.
Auf dem Maidan demonstrierten die Menschen ebenfalls gegen die Überreste
des Kommunismus, gegen totalitäre staatliche Machtstrukturen, gegen die
neokapitalistische Privatisierung, gegen die Korruption und den
gesellschaftlichen Stillstand. Die positive Entwicklung in den
Nachbarländern Polen und der Slowakei vor Augen, wollte die Mehrheit der
Menschen auf dem Maidan zunächst nichts anderes als demokratische Reformen
gegen die korrupte Nomenklatura durchsetzen. Keineswegs nur im Westen, auch
im Osten des Landes folgte der Ruf nach mehr Freiheit. Das war eine
Bewegung, die auch nach Weißrussland oder auch Russland selbst
überschwappen könnte.
Die Reaktion aus Moskau weist noch mehr Ähnlichkeiten mit der Situation in
Serbien auf. Zunächst wird die interne Opposition an die Kette gelegt oder
kriminalisiert. Wie in Serbien versuchte die russische Propaganda die
politischen Gegner auf dem Maidan als „faschistische“ Bewegung darzustellen
und die geschichtlichen Erfahrungen der russischen Bevölkerung mit dem
Eroberungs- und Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten 1941–45 für die
jetzige Politik zu instrumentalisieren.
Auch die serbische Propaganda 1991 nutzte die geschichtliche Erinnerung der
Serben in Westbosnien und in Kroatien an die Schrecken der kroatischen
Ustascha-Herrschaft 1941–45, um die serbische Bevölkerung dort für die
militärisch-politischen Ziele Belgrads 1991 zu gewinnen.
## Verpasste Aufarbeitung
Dies konnte nur gelingen, weil in beiden Ländern „Antifaschismus“ lediglich
als Kampf gegen die deutschen Besatzer und ihre Sympathisanten verstanden
wird. Die Diskussion über die gesellschaftliche Dimension des Faschismus
und des Stalinismus sowie über die Verbrechen des Archipel Gulag ist nach
der kurzen Aufbruchszeit unter Gorbatschow und Jelzin heute zum Stillstand
gebracht worden. Die Freiheit des Individuums wird zugunsten der Ideologie
von Familie, Tradition, Volksgemeinschaft und Führerprinzip zurückgedrängt.
Und der Führer definiert, was gut und böse ist.
Seit Jahren ist zu beobachten, dass Putin nicht nur die Nähe der orthodoxen
Kirche sucht, sondern systematisch auch deren konservative und reaktionäre
Werte unterstützt. Progressive soziale und gesellschaftliche Bewegungen wie
die der nationalen, religiösen oder sexuellen Minderheiten für
Gleichberechtigung und rechtliche Gleichstellung werden unterdrückt,
rechtsradikale nationalistische Gruppierungen haben freie Hand, gegen
Andersdenkende gewaltsam vorzugehen. Menschenrechtler müssen um ihr Leben
fürchten. Und eine freie Presse ist längst weitgehend zerschlagen.
Die Mehrheit der russischen Bevölkerung trägt diese konservativ-reaktionäre
Politik Putins jetzt mit. Indem die russischen Medien ein Bild vom Maidan
malten, wo nazistische Gruppen angeblich die Oberhand gewonnen haben,
gelang es der Propaganda, unter den russischen Ukrainern im Osten des
Landes Angst und Schrecken zu verbreiten.
Die russischen Spezialtruppen und Geheimdienstler, die mit ihren Aktionen
die ukrainische Armee herausforderten, werden jetzt von vielen als
„Verteidiger“ der russischen Bevölkerung angesehen. So wie damals 1992 im
jugoslawischen Krieg die Freischärler und Kriminellen Arkan und Seselj im
Strom der serbischen Bevölkerung schwimmen konnten.
## Schuld sind immer die anderen
Mit den russischen Erfolgen in der Ukraine, mit den territorialen
Eroberungen, mit der scheinbaren Rückgewinnung der Weltmachtrolle ist der
Blick der russischen Gesellschaft auf die eigenen reaktionären,
rechtsradikalen und ultranationalistischen Strukturen offenbar vorerst
verstellt.
Verhandlungen wurden von Milosevic wie jetzt von Putin als Mittel benutzt,
Zeit zu gewinnen und einfach die eigene Strategie weiterzuverfolgen. Kaum
war die Unterschrift unter das Genfer Abkommen gesetzt, war es schon
Makulatur. Der Westen hofft immer noch auf rationales, von ökonomischen
Interessen geleitetes Denken bei Putin. Der serbische Extremist Seselj
antwortete demgegenüber, „wir werden lieber Gras fressen als uns zu
beugen“. Putins Gefolgsleute in der Ostukraine denken offenbar ähnlich.
Putins Politik ist altes Denken. Seine Politik ist nicht nur gegen die
Ukraine, sie ist gegen Europa gerichtet. Die europäischen Werte der
Demokratie und Toleranz gefährden seinen Herrschaftsanspruch. Die positiven
Reaktionen der rechtsradikalen und populistisch antieuropäischen Bewegungen
in der EU auf Putin sollten uns zeigen, wie fragil dieses Europa ist. Zudem
kann Putin damit rechnen, dass diese rechten Bewegungen in fast allen
Mitgliedstaaten der EU gestärkt aus den Europawahlen hervorgehen werden.
Milosevic landete vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Putin sind
bisher keine Kriegsverbrechen zur Last zu legen. Doch klar ist: Seine
Politik richtet sich massiv gegen multikulturelle Toleranz, demokratische
Selbstbestimmung, gegen alle unabhängigen gesellschaftlichen Bewegungen und
Individuen. Das ist sehr ernst zu nehmen.
16 May 2014
## AUTOREN
Erich Rathfelder
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