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# taz.de -- Geschichte der Sowjetunion: Warum Lenin? Warum Stalin?
> Orlando Figes bietet in „Hundert Jahre Revolution“ einen Überblick über
> die Geschichte der Sowjetunion, lässt aber viele Fragen offen.
Bild: Russland ist noch lange nicht fertig mit der Sowjetunion.
Hundert Jahre auf dreihundertsechzig Seiten erschöpfend darzustellen, das
ist natürlich eine echte Herausforderung. Zumal wenn es sich dabei um eine
Rekapitulation der jüngeren Geschichte des größten Flächenstaats der Erde
handelt, der während dieser Zeit nicht nur mehrfach seine geopolitische
Zusammensetzung geändert, sondern auch eine mehrfache radikale Umwälzung
aller politischen Werte mitgemacht hat. In Anbetracht der Tatsache also,
dass das alles gar nicht geht, ist Orlando Figes mit seiner Geschichte von
der Entstehung, der Entwicklung und der Abwicklung der Sowjetunion ein
lesenswertes Buch gelungen, das hilft, sich viele Zusammenhänge noch einmal
ins Gedächtnis zu rufen.
Der britische Historiker ist in der lesenden Öffentlichkeit bekannter
geworden als andere Kollegen seiner Zunft, weil er wirklich gut schreiben
kann. Für Aufsehen sorgte Figes zuletzt vor ein paar Jahren mit seinem Buch
„Die Flüsterer“ über das Alltagsleben in der Sowjetunion während der
repressiven Perioden des Stalinismus. Dafür hatte er sich jahrelang durch
Archivmaterial gearbeitet sowie Interviews mit Zeitzeugen geführt und die
Ergebnisse der Recherche zur eindrucksvollen Darstellung einer
vielstimmigen Oral History verdichtet.
Die erzählerischen und dramaturgischen Stärken, die den „Flüsterern“
zugutekamen, sind allerdings für eine allgemeinere historische Darstellung
wie „Hundert Jahre Revolution“ nicht relevant. Für ein solches Vorhaben
muss der Autor die Geschehnisse gleichsam wie durch ein umgedrehtes
Fernglas betrachten und sich gleichzeitig der Herausforderung stellen, eine
solche komprimierte Darstellung durch eine überzeugende Thesenführung zu
adeln.
Dies allerdings ist genau der Punkt, in dem Figes’ Sowjetgeschichte nicht
völlig überzeugen kann. Eine interessante Arbeitshypothese stellt er jedoch
voran: Er habe sich vorgenommen, „hundert Geschichtsjahre in Form eines
einheitlichen revolutionären Zyklus darzustellen“, erklärt der Autor
eingangs.
## Ein Wunder, dass die Sowjetunion so lange existierte
„Die Distanz der Rückschau ermöglicht uns, die Revolution aus einem neuen
Blickwinkel zu betrachten und abermals die großen Fragen zu stellen: Warum
Russland? Warum Lenin? Warum Stalin? Warum scheiterte sie? Und was
bedeutete das alles?“
Das alles sind wirklich große Fragen, möchte man nach der Lektüre sagen,
auf die aber auch dieses Buch keine originelleren Antworten gibt außer
jenen, die durch die bekannten äußeren Fakten gegeben werden.
Warum Lenin? Weil es während des Ersten Weltkriegs im Interesse der
deutschen Regierung lag, ihn in seinem verplombten Eisenbahnwaggon quer
durchs Deutsche Reich fahren zu lassen, auf dass er Russland von innen
destabilisiere. Warum Stalin? Weil er die Umstände von Lenins Krankheit und
Tod geschickt machtpolitisch für sich auszunutzen wusste.
So wie Figes die Geschehnisse nacheinander weg erzählt, entsteht alles
andere als der Eindruck eines „einheitlichen revolutionären Zyklus“,
sondern eher der gegenteilige, nämlich der Eindruck einer chaotischen
Abfolge von manchmal beinahe zufällig scheinenden Entwicklungen und
erratischen politischen Entscheidungen. Fast möchte man sich wundern, dass
die Sowjetunion überhaupt so lange existieren konnte.
Es ist eine im großen Ganzen sehr von oben erzählte Geschichte, die sich
auf die Führerfiguren fokussiert und deren jeweilige politische Ideen und
Meinungsumschwünge. Das ist als historische Zusammenfassung immerhin
durchaus nützlich und wirft ein schrecklich deprimierendes Licht auf ein
Riesenland, das so sehr vom Vorhandensein einer starken Führungsfigur
abhängig zu sein scheint.
Den eingangs so kühn vorgetragenen Vorsatz, zu erklären, warum die
Revolution scheiterte und was „das alles bedeutete“, scheint der Autor am
Schluss aber wieder vergessen zu haben. Dennoch ist es auf jeden Fall
lehrreich, sich die Brüche und Kontinuitäten in der russischen Geschichte
zu vergegenwärtigen, um vielleicht ein kleines bisschen besser zu
verstehen, wie es kommen konnte, dass Russland und „der Westen“ heutzutage
wieder ein anscheinend unversöhnliches Gegensatzpaar bilden. Russland, das
hat Figes immerhin gezeigt, wird jedenfalls noch lange nicht fertig sein
mit der Sowjetunion.
7 Jun 2015
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Sowjetunion
Geschichte
Lenin
Stalin
Geschichte
DDR
Wladimir Putin
Russland
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Theater
Bundestag
DDR
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