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# taz.de -- Oper im ehemaligen Zuchthaus Cottbus: Hohelied auf die Freiheit
> „Singen war den Gefangenen verboten“, erinnert sich Gilbert Furian. Heute
> singt der Ex-Häftling im Gefangenenchor des „Fidelio“.
Bild: Der Gefangenenchor aus dem „Fidelio“ im ehemaligen Gefängnishof in C…
COTTBUS taz | Männer in schwarzen Uniformen stehen auf dem Gefängnishof;
sie tragen ein Gewehr über der Schulter. Ein Lieferwagen fährt vor. Männer
in heller Häftlingskleidung steigen aus. Sie sind Teil einer
Opernaufführung im ehemaligen Zuchthaus Cottbus. Sowohl in der Nazizeit als
auch in der DDR saßen hier politische Gefangene ein.
Nun inszeniert das Staatstheater Cottbus auf dem Gelände der heutigen
Gedenkstätte Beethovens „Fidelio“ als Open-Air-Ereignis. Die Oper feiert
die Ideale der Französischen Revolution: Leonore gibt sich als Mann aus,
als Fidelio, und heuert als Gefängniswächter an. Sie will ihren Liebsten
befreien, Florestan. Der wurde inhaftiert, weil er aufdecken wollte, dass
der Tyrann Pizarro seine Macht missbraucht.
Die Bühne steht vor dem ehemaligen Zellentrakt, der heute eine
Dauerausstellung beherbergt. Regisseur Martin Schüler gelingt es
meisterhaft, das Gebäude in die Inszenierung einzubeziehen. Als sich das
Drama zwischen Fidelio, Florestan und Pizarro zuspitzt, sind hinter den
vergitterten Fenstern die Darsteller der Gefangenen zu sehen. Im Finale
werden Bilder vom friedlichen Umbruch in der DDR auf die Kerkerwand
projiziert, während sich Beethovens Musik zu einem Hohelied auf die
Freiheit steigert.
Den berühmten Gefangenenchor stimmen mehr als 200 Menschen an. Unter ihnen
sind sieben Männer, die vor 1989 als „Politische“ in Cottbus inhaftiert
waren. Gilbert Furian hatte sich sofort gemeldet, als das Theater zusammen
mit dem Menschenrechtszentrum Cottbus nach Ehemaligen suchte, die sich für
das Projekt begeistern könnten. Seit Mai hat er viel Zeit und Kraft in die
Proben investiert, alles ehrenamtlich, ohne Honorar.
## Schülerführung in der Gedenkstätte
Am Morgen der Aufführung, zwölf Stunden früher, klettert Gilbert Furian auf
einen Hocker. Er steht in einer ehemaligen Zelle. Furian ist Jahrgang 1945,
hat graues Haar. Regelmäßig führt er Besucher durch das ehemalige
Zuchthaus. Dieses Mal sind es 20 Gymnasiasten aus Guben. Furian hat ihnen
seine Geschichte erzählt. Unter den Schülern kursiert nun eine Mappe mit
den Kopien seiner „staatsfeindlichen“ Aufzeichnungen über die Ostberliner
Punkszene. Weil er versucht hatte, diese in den Westen zu schmuggeln, wurde
Gilbert Furian am 27. März 1985 von der Stasi verhaftet. Der Richter
brummte ihm zwei Jahre und zwei Monate auf. Einen Teil seiner Strafe
verbüßte der Ostberliner in Cottbus.
Seine Zelle teilte er sich mit acht anderen Häftlingen. Die Zelle, in der
er jetzt steht, ist 44 Quadratmeter groß. 28 Gefangene mussten dort
schlafen, teilten sich zwei Waschbecken und ein Klo. Das war in den
Siebzigern, als es in Cottbus noch schlimmer zuging, berichtet Gilbert
Furian. Sein wohlklingender, geschulter Tenor füllt den Raum. Seit seiner
Jugend singt er in kirchlichen Laienchören. Furian stimmt das
„Cottbus-Lied“ an. Es hat dieselbe getragene Melodie wie das „Lied der
Moorsoldaten“, das 1933 in einem KZ entstand.
Das „Cottbus-Lied“ stammt aus den siebziger Jahren. „Das ist das Zuchthaus
Cottbus – Symbol des Sozialismus in Aktion“, heißt es im Text. „Singen w…
den Gefangenen in der DDR verboten“, erzählt Gilbert Furian weiter. Wer
trotzdem sang, wurde bestraft. Doch wenn alle gleichzeitig sangen, dann
waren die Wärter machtlos.
## Als „Ostbrot“ beschimpft
Die meisten Menschen, die mit Gilbert Furian in Cottbus einsaßen, hatten
sich mit dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ angelegt, wollten ihn in Richtung
Westen verlassen. Furian galt als Sonderling, berichtet er, weil er nach
seiner Freilassung im Osten bleiben wollte. Er fühlte sich hier zu Hause,
wo Familie und Freunde lebten. Mithäftlinge beschimpften ihn als „Ostbrot“
und als „Kommunistensau“. Einer der wenigen Kriminellen, die mit ihm
einsaßen, begann, Furian zu schützen. „Sonst wäre ich hier völlig unter d…
Räder gekommen“, erklärt er den Schülern.
Gilbert Furian stammt aus Görlitz, aus einer Familie, die die DDR seit
ihrer Gründung kritisch sah. Sein Vater war Buchhalter, die Mutter
Hausfrau. Gilbert Furian ging in die Junge Gemeinde der evangelischen
Kirche. Dort trafen sich die Konfirmanden eines Jahrgangs, redeten offen
über alles Mögliche. Auch in der Schule trug er stolz das Abzeichen der
Jungen Gemeinde, ein Kreuz und eine Weltkugel. Daraufhin wurde er aus der
Freien Deutschen Jugend (FDJ) ausgeschlossen, der Jugendorganisation der
DDR. Weil er die Anpassung verweigerte, durfte er das gewünschte
Dolmetscherstudium nicht antreten. Talent für Sprachen hatte er. Der Staat
stellte dem Abiturienten mit den sehr guten Noten nun drei Berufe zur
Auswahl: Koch, Tischler und Verkehrskaufmann: „Ich entschied mich für den
Letzteren, weil ich mir darunter am wenigsten vorstellen konnte.“ Heute ist
Furian Hausmann, ist mit einer Superintendentin verheiratet und Vater
zweier Kinder.
Er führt die Schüler zu den Arrestzellen in den Keller. Sie sprechen
unwillkürlich leiser. Die Luft schmeckt nach Staub. Ein dickes Rohr hängt
an der Decke. Die Einzelzellen waren klein, feucht, kalt. Hier landete, wer
etwa den Teller mit dem Gefängnisfraß demonstrativ ausgekippt hatte. „So
etwas habe ich nie getan“, sagt Gilbert Furian. Er gehörte nicht zu jenen,
die sich dem Haftregime offen widersetzten. Er schuftete zur Zufriedenheit
seiner Wärter. Die Gefangenen mussten Teile für Kameras herstellen. Furian
wollte ja vorzeitig entlassen werden. Deshalb versuchte er, nicht unnötig
aufzufallen. Gefühle unterdrückte er.
## Exmatrikulation 1968
Und doch hatte ihn der DDR-Sozialismus aufgeregt, jahrelang. In den 60er
Jahren durfte Gilbert Furian schließlich doch studieren, Philosophie. Doch
1968 rollten sowjetische Panzer durch Prag. Sie beendeten den Prager
Frühling, einen Vorstoß in Richtung Demokratie. Auch der Student Furian
hatte sich mit den Menschen in der Tschechoslowakei solidarisiert – und
wurde daraufhin exmatrikuliert.
Anfang der 80er gab es auch in der DDR die ersten Punks. Mit selbst
genähter Kleidung und einem nonkonformen Lebensstil grenzten sie sich von
einem Staat ab, dessen Vertreter schon eine Sicherheitsnadel an einer
Jeansjacke als Provokation empfanden. Die Ost-Punks schnitten Songs im
Westradio mit, gründeten Bands, besetzten Wohnungen. Zwei von Furians
Bekannten wollten Interviews mit den Jugendlichen führen. Schließlich
stemmte er das Interviewprojekt allein, auch aufgrund seiner Kontakte zur
evangelischen Kirche. Diese hatte sich den Punks geöffnet, ihnen auch Räume
für Konzerte zur Verfügung gestellt.
Ein Diakon führte Gilbert Furian in die Ostberliner Punkszene ein. Furian
sprach mit Jugendlichen, anonymisierte seine Mitschriften. Die Mappe, die
er heute den Gubener Schülern zeugt, enthält die Quintessenz der
Interviews. Sie sei Punk aus „Protest, Ablehnung gegen den Staat, wie er
zur Zeit existiert“, sagte ein Mädchen. Ein Junge meinte: „Lieber sterben,
als genormt zu sein.“ 1985 ließ Gilbert Furian sein Material heimlich
vervielfältigen. Neunzig Exemplare gingen an Bekannte in der DDR. Zehn
sollten Bekannte im Westen erreichen, doch der DDR-Zoll entdeckte sie.
Wenig später holte die Stasi Gilbert Furian ab.
## Brahms und eine Semmel
Er sang im Gefängnis, obwohl es verboten war. Im
Stasi-Untersuchungsgefängnis stimmte er mit seinem Zellennachbar den Kanon
„Ruhet von des Tages Müh“ an: „Sofort kam jemand und brüllte uns an.“…
warteten ein paar Tage, dann sangen sie den Kanon wieder. Und wurden wieder
angebrüllt. Und so fort. Später, in Cottbus, malte sich Gilbert Furian in
seinen Tagträumen die Freiheit aus. Seine Vorstellung davon war simpel: zum
Bäcker gehen und eine Semmel kaufen. Doch nach seiner Entlassung am 8.
April 1986 fuhr er zunächst in seine Ostberliner Wohnung und legte die
Erste Sinfonie von Brahms auf. In ohrenbetäubender Lautstärke. Er wollte
mit niemandem reden. Später ging er doch zum Bäcker und kaufte eine Semmel.
Das erwartete Glücksgefühl blieb aus. Seine Gefühle waren verstummt.
Inzwischen kann er frei über die Gefängniszeit reden. Diese „Leichtigkeit�…
wie er sie nennt, hat er den Büchern zu verdanken, die er nach der Wende
schrieb. Dafür interviewte er auch die Gegenseite, einen Staatsanwalt und
ehemalige Wärter. „Dabei ist eine große Last von mir abgefallen“, sagt
Gilbert Furian, „außerdem bin ich ein versöhnlicher Mensch. Dabei mag meine
christliche Erziehung eine Rolle spielen.“ Als befreiend empfindet er auch
das Singen im Cottbuser „Fidelio“. Bei jeder Aufführung denkt er zunächst
an seine Zeit im Gefängnis. „Und dann beginnt die Musik, und ich fühle mich
als Teil einer großartigen Sache.“
Gegen Ende der Oper gibt es eine Szene, in der die Gefangenen sich über
ihre Befreiung freuen. Sie recken ihre Arme in die Höhe. Alle, außer
Furian, der nachdenklich die Hand an die Stirn legt. Er hat die Szene mit
Regisseur Martin Schüler so besprochen. Damit will Furian zeigen, dass die
Freiheit, als sie schließlich da war, „zunächst etwas Unbegreifliches war.�…
4 Jul 2014
## AUTOREN
Josefine Janert
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Komische Oper Berlin
Cottbus
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