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# taz.de -- DDR-Wirtschaft und DDR-Geschichten: Mängel, Macken, Misswirtschaft
> Planer und Lenker der DDR-Wirtschaft treffen sich regelmäßig zum
> Erzählsalon. Die Stimmung ist gelöst. Niemand muss sich rechtfertigen.
Bild: Der ostdeutsche Trabi als Gegenstück zum westdeutschen Käfer: Im Berlin…
BERLIN taz | Hans Modrow schaut freundlich drein. Der ehemalige SED-Chef
des Bezirks Dresden sitzt zwischen anderen älteren Herren und hört
aufmerksam zu. Die Herren und die wenigen Damen in dieser Runde lassen
einander ausreden. Sie gehen höflich miteinander um. Doch als der Name
Günter Mittag fällt, schimpft jemand halblaut: „Was für ein Arsch!“ Viele
nicken. Günter Mittag hassen sie alle. Immer noch.
Günter Mittag saß in den obersten Gremien der SED. Im Herbst 1989 wurde er
als einer der ersten DDR-Politiker seines Amts enthoben. Bis dahin hatte er
in Wirtschaftsfragen mehr zu sagen als Hans Modrow, als alle Fachleute und
Betriebsdirektoren des „Arbeiter-und-Bauern-Staats“ zusammen. Nur Erich
Honecker hatte noch mehr Macht. Wenn ein Volkseigener Betrieb (VEB) den
staatlichen Plan nicht erfüllt hatte, soll Günter Mittag den
Generaldirektor nach Berlin einbestellt haben. Er schnauzte gestandene
Männer so an, dass diese den Tränen nahe waren. An Günter Mittag ist so
mancher Wirtschaftslenker verzweifelt.
Hans Modrow kennen die Anwesenden alle. Ständig wandern Blicke zu ihm, als
müsse man sich versichern, dass er noch da ist. Nach dem Rücktritt von
Erich Honecker im Wendeherbst 1989 wurde er Ministerpräsident der DDR. Nun
trifft er sich mit anderen ehemaligen Wirtschaftslenkern der DDR zu einer
dreistündigen Veranstaltung, die sich „Erzählsalon“ nennt. Von den
Schriftstellern, Schauspielern und Eiskunstläuferinnen der DDR ist bekannt,
was sie nach deren Ende taten und dachten. Von Günter Mittag ist bekannt,
dass er 1994 starb und wenige um ihn trauerten. Von und mit den
Wirtschaftslenkern hat jedoch kaum mehr jemand geredet.
„Wir wissen wenig über die DDR-Wirtschaft“, sagt die Organisatorin des
Erzählsalons. Katrin Rohnstock, Jahrgang 1960, hat in Jena Germanistik
studiert. Ihr Unternehmen, Rohnstock Biografien, hat sich darauf
spezialisiert, Firmengeschichten und die Lebensläufe von Privatpersonen
aufzuschreiben und zu publizieren. Nachdem Edgar Most, Vizepräsident der
Staatsbank der DDR, einen Vertrag mit Rohnstock unterschrieb, hat die
dunkelblonde Frau schrittweise Kontakte zu weiteren Wirtschaftslenkern
aufgebaut. Einmal im Monat treffen sie sich nun regelmäßig im Erzählsalon.
## Keine Porschefahrer unter den Anwesenden
So steht Katrin Rohnstock an einem Herbstnachmittag in ihren Berliner
Büroräumen und begrüßt ehemalige Generaldirektoren Volkseigener Betriebe,
leitende Mitarbeiter von Ministerien und die Verantwortlichen für die
staatliche Planung der DDR-Wirtschaft. Porschefahrer findet man unter ihnen
kaum. Zwischen 3.000 und 3.500 DDR-Mark verdienten sie im Monat.
Entsprechend niedrig sind die Renten. „Lenin sagte: Ein Betriebsdirektor
darf höchstens das Dreifache vom Gehalt eines Facharbeiters verdienen“,
bemerkt ein Herr. „Daran haben wir uns strikt gehalten.“
Die Stimmung im Erzählsalon ist gelöst. Niemand muss sich für seine
führende Position in der DDR rechtfertigen. Diskussionen darüber, ob der
Sozialismus grundsätzlich richtig war, gibt es ebenfalls nicht. Die
Veranstaltung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Katrin
Rohnstock begründet das damit, dass viele Laien die Fachbegriffe, die hier
fallen, nicht verstehen würden.
„Die meisten Menschen kennen nur die Klischees: Mangelwirtschaft,
Misswirtschaft, Kommandowirtschaft“, argumentiert Rohnstock. Sie selbst
habe erlebt, dass sich ihre Eltern und viele andere Menschen in ihren
Berufen stark engagierten. Es habe keine Arbeitslosen, keine Obdachlosen
und keine Existenzängste gegeben. Schon deshalb solle man sich die
DDR-Wirtschaft genauer anschauen.
## Kombinatsleiter in der Pharmaindustrie
Die Verantwortlichen für dieses Wirtschaftswunder haben inzwischen auf vier
Stuhlreihen Platz genommen. Ziemlich weit hinten sitzt Christa Luft, eine
hübsche ältere Dame. Im Herbst 1989 übernahm sie das
Wirtschaftsministerium. Katrin Rohnstock stellt nun den Mann vor, der im
Mittelpunkt dieses Erzählsalons steht. Jedes Mal ist ein anderer
Wirtschaftslenker mit seiner Branche dran. Heute ist es Winfried Noack,
Jahrgang 1937. Als Generaldirektor leitete er das Pharmazeutische Kombinat
Germed in Dresden. Nach der Wende wurde es zerschlagen. Einzelne Betriebe
bestehen jedoch bis heute. Auch Medikamente, die Germed entwickelte, sind
noch auf dem Markt.
Winfried Noack ist gut vorbereitet. Mit einem Stapel Papier sitzt er neben
Katrin Rohnstock auf einer schweren Ledercouch. Es kommt ihm auf die Fakten
an, das merkt man. Ideologische Diskussionen sind nicht seine Sache. Für
Noacks Sachverstand spricht, dass er bis zu seiner Pensionierung 2009 ein
Pharmaunternehmen mit 50 Mitarbeitern führte. Katrin Rohnstock nennt die
Eckpunkte seiner Biografie: Lehre in der Chemieindustrie, es folgten ein
Abschluss als Chemieingenieur und ein weiterer als Diplomwirtschaftler.
1979 besuchte er, wie es für Führungskräfte üblich war, einen Lehrgang an
der Parteihochschule. Dort teilte man ihm mit, dass er in Kürze Chef eines
Pharmakombinats werden würde.
Nun spricht Noack selbst von den 13 Produktionsbetrieben, drei Instituten,
dem Ingenieurbüro und dem Außenhandelsbetrieb, die zu seinem Kombinat
gehörten. Obwohl seine Kollegen und er von der Pharmaforschung im Westen
weitgehend abgeschnitten waren, pflegten sie Kontakte um den halben Globus.
Germed lieferte nach Kuba und in arabische Länder. Und mit westeuropäischen
Unternehmen verhandelte Noack über Lizenzen für Medikamente, die die DDR
benötigte.
## Die Mängelwirtschaft und Günter Mittag ertragen
Wie die anderen sozialistischen Staaten gehörte sie dem Rat für
Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) an. Er sollte ein Gegengewicht zu
westlichen Wirtschaftsbündnissen sein. Die Gründerväter des RGW hatten es
sich in den fünfziger Jahren so vorgestellt, dass ein Land eine Ware für
alle anderen herstellt. Diese sollten die Produktion dieses Guts
zurückfahren und sich auf anderes konzentrieren. Die Regelung galt nicht
nur für Medikamente, sondern war für alles möglich. Doch sie funktionierte
nicht, berichtet Winfried Noack. So sollte die Tschechoslowakei die
Mitglieder des RGW mit Antibiotika beglücken. Sie schaffte es aber nicht,
ausreichend zu liefern. Die DDR musste Antibiotika für Devisen einkaufen.
Germed baute schließlich ein eigenes Werk für Antibiotika auf. 1989 begann
der Probebetrieb, doch nach der Wende wurde es abgewickelt.
Eine seltsame Wirtschaft lebt in Noacks Erzählungen auf: Das Westfernsehen
flüsterte den DDR-Bürgern Wünsche ein, die ihnen die einheimischen
Apotheken nicht erfüllen konnten. Germed arbeitete zwar effektiv, doch das
reichte nicht aus, um die Nachfrage, etwa nach Gesundheitspflegemitteln zu
befriedigen. Über ein kompliziertes System musste das Kombinat mit dem
Staat abrechnen. Der sorgte dafür, dass jeder Patient jedes Medikament, das
ihm ein Arzt verschrieb, kostenlos in der Apotheke abholen konnte. Zwischen
1.800 und 2.000 Medikamente waren in der DDR erhältlich. 200 davon waren
für Tiere.
Heute gibt es nach Angaben des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller
13.500 Arzneimittelmarken allein in der Humanmedizin. Winfried Noack hat
seinen Vortrag beendet, und nun kreist die Diskussion um alle möglichen
Wirtschaftsprobleme. Auch andere Teilnehmer des Erzählsalons halten Notizen
in den Händen. Sie alle mussten sich mit dem Mangel an Rohstoffen, an
Baukapazitäten herumschlagen. Hans Modrow gibt eine Anekdote zum Besten: Da
auch die DDR-Bürger unbedingt Jeans tragen wollten, beschloss die Partei,
dass die DDR eine größere Zahl aus dem Westen einführen solle. Hans Modrow
schlug hingegen vor: „Wir importieren nicht die Hosen, sondern die
Maschinen, und nähen sie selbst.“ Für seine vorwitzige Bemerkung erhielt er
einen Dämpfer von ganz oben.
## Gelernt zu improvisieren
Mit Hans Modrow, darin sind sich die Teilnehmer des Erzählsalons wohl
einig, hätten sie die DDR ganz anders gestalten können. Er galt als
Reformer. Doch es kam bekanntlich anders, schon wegen Günter Mittag.
Es sind die Männer der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die sich in Katrin
Rohnstocks Erzählsalon versammeln. Schon als Kinder haben sie gelernt, mit
wenig auszukommen und zu improvisieren. Diese Fähigkeit haben sie in
komplizierten Netzwerken weiter miteinander kultiviert. Diese Männer
konnten die Zähne zusammenbeißen. So haben sie auch Günter Mittag ertragen.
Auch heute wollen sie gern mitreden über die Macken und Mängel der
globalisierten Wirtschaft. Mit Macken und Mängeln kennen sie sich
schließlich aus. Eine der wenigen Frauen im Erzählsalon, die ehemalige
Chefin eines Kosmetikbetriebs, sagt: „Heute kämpfen die kleinen und
mittelständischen Unternehmen mit den Vorgaben der Europäischen Union. Für
große Konzerne wird hingegen alles getan.“
23 Nov 2013
## AUTOREN
Josefine Janert
## TAGS
Zoom
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Wir sind das Volk
DDR
Die Linke
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