# taz.de -- Ortstermin zur Ost-Identität: Gefangen im Nachwende-Limbus | |
> Die Linkspartei erkundet in Berlin die ostdeutsche Seele – und hängt | |
> zwischen Himmel und Hölle fest. Seit den 90er Jahren hat sich daran wenig | |
> geändert. | |
Bild: Sind sie die ostdeutsche Seele? Pittiplatsch und Herr Fuchs haben ihr Lan… | |
Der Präsident hat wahrscheinlich eine. Die Kanzlerin auch. Ebenso der erste | |
Deutsche im Weltraum. | |
Eine ostdeutsche Seele. | |
Die Bundestagsfraktion der Linken will erkunden, ob es das spezifisch | |
Ostdeutsche gibt und wie es in Erscheinung tritt. | |
Gerade scheint das Interesse an solchen Fragen etwas größer als sonst, weil | |
Angela Merkel sich nicht so recht erinnern kann, was sie in der | |
DDR-Jugendorganisation FDJ gemacht hat. Im Spiegel sagt der | |
Stasiunterlagenbeauftragte Roland Jahn, die Kanzlerin sollte mehr aus ihrer | |
Vergangenheit erzählen. Sie habe aber wohl zu viel Angst, „Position und | |
Gesicht zu verlieren.“ | |
Angst? Zwanzig Jahre nach der Wende? | |
Ostdeutsche Identität ist auch immer DDR-Vergangenheit und die Frage, was | |
man in der letzten deutschen Diktatur eigentlich so gemacht hat. Ganz | |
Gegensatz dazu der Ort, an dem [1][die Linkspartei diskutieren ließ]. Das | |
Museum für Film und Fernsehen ist einer der gläsernen Zweckbauten am | |
Potsdamer Platz. 2000 fertig gestellt, historisch unberührt. | |
Im Publikum sitzen vor allem ältere Menschen – ostdeutsches Innenleben ein | |
Rentnerthema? Vielleicht müssen die Jüngeren an diesem Montagvormittag auch | |
einfach arbeiten. Auch Linken-Fraktionschef Gregor Gysi will gleich wieder | |
los, aber zuvor erklärt er in zwanzig Minuten noch kurz, woran die DDR | |
gescheitert ist: zu wenig Freiheit, zu wenig Demokratie, zu miese | |
Wirtschaftsleistung. | |
Und warum die Einheit keine Einheit ist – den Westdeutschen fehlt ein | |
ordentliches Vereinigungserlebnis. Um ein solches zu haben, hätte die BRD | |
damals die Polikliniken übernehmen sollen, das ostdeutsche Schulsystem, das | |
jetzt aufwändig aus Finnland reimportiert werde, oder doch wenigstens das | |
dichte Kitanetz. | |
## Den Wessi verstehen lernen | |
Gysi hat diese Rede leicht variiert schon oft gehalten: Er wirbt dafür, | |
dass die Ostdeutschen auch die Westdeutschen verstehen. Und er lobt die | |
Ostdeutschen dafür, was sie den Wessis an Erfahrungen voraus haben: das | |
Umgehen mit dem Wegfall vieler Arbeitsplätze, Schulsystem und Kitas eben, | |
mehr Frauen in Jobs. Sogar den Ausstieg aus der Atomenergie gab es in | |
Ostdeutschland schon 1990. | |
Es ist eine schöne Erzählung, nicht unwahr, aber eben stark eingefärbt. | |
Liest man sie als Äußerung einer ostdeutschen Seele, dann schwebt diese in | |
einem Raum zwischen Minderwertigkeitskomplex (Der Westen hat sich nicht für | |
uns interessiert) und Hybris (Hätten Sie mal, schließlich sind wir | |
Avantgarde). Sie ist weder im Himmel noch in der Hölle zu Hause. Schon gar | |
nicht aber in der normalen Welt. Sie existiert in einer Art Limbus, jenem | |
überirdischen Wartezimmer, in dem die Seelen bis zur endgültigen Klärung | |
ihres Aufenthaltsstatus festhängen. | |
Das Zwitterhafte und Geparkte dieses Wesens tritt noch deutlicher hervor, | |
als nach Gysi Menschen sprechen, die den Umgang mit der DDR und ihren | |
Nachkommen zum Beruf gemacht haben: Wissenschaftler, Netzwerker, Politiker | |
der Linken. | |
Katrin Rohnstock, die ihr Geld mit dem Schreiben von Biografien verdient, | |
ist ganz begeistert von den „heldenhaften“ Geschichten ostdeutscher | |
Wirtschaftslenker, die mit ihrem Eintreten für gemeinwohlorientiertes | |
Wirtschaften Vorbilder in der derzeitigen Finanzkrise sein könnten. | |
## Alte Verletzungen | |
Wie der Schrottzustand der DDR-Wirtschaft mit derlei Lobpreisungen in | |
Einklang zu bringen sei? Das können dann auch anwesende ExkonzernchefInnen | |
des Sozialismus nicht erklären. Sie wollen alte Verletzungen erkannt und | |
bedauert wissen. Auch als Ostdeutschem erscheinen einem diese Diskussionen | |
wie aus der Zeit gefallen, als hätte jemand einen Tunnel gegraben, | |
geradewegs zurück in die Mitte der 90er Jahre. | |
Selbst Jüngere wie Judith Enders vom Netzwerk [2][„3te Generation | |
Ostdeutschland“], die vor allem die zwischen 1975 und 1985 Geborenen | |
vertreten will, hängt rhetorisch („Wir wollen keine Jammerossis sein“) und | |
inhaltlich irgendwo im Stau fest. Ihre Forderung, im Westen arbeitende | |
ostdeutsche Jugendliche mögen bitteschön als Aufbauhelfer in ihre | |
Geburtsorte zurückkehren, ist nicht nur ziemlich alt. Es ist ein Versuch, | |
Menschen an ihrer Scholle festzuketten, als gehörte ihr neues Leben nicht | |
eben so zu ihnen wie ihre Herkunft. | |
Es ist der Versuch, Menschen in eben jenem Limbus festzuhalten, aus dem | |
professionelle Ostversteher nicht herauskommen. | |
11 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.die-linke-berlin.de/nc/politik/termine/detail/zurueck/termine/ar… | |
[2] http://www.dritte-generation-ost.de/3te_generation/index.html | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
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