# taz.de -- Deutsche Wiedervereinigung: Kampflos, das war das Schlimmste | |
> Plötzlich hatte der Feind gesiegt. Eltern, Lehrer – alle kapitulierten. | |
> Und versuchten nicht einmal zu erklären, warum das beste aller Länder | |
> verschwand. | |
Bild: Die Kinder waren bereit diese beste aller Länder zu verteidigen: Filmsze… | |
Diesen Text hätte ich als kleiner Junge schreiben müssen. Aber das hätte | |
ich nicht gekonnt. Damals war ich noch nicht so weich wie heute. | |
In einem der Sommer kurz bevor sich alles veränderte, vielleicht war es | |
1987, habe ich dem dicken Ricardo in den Bauch getreten. Wie ein gequälter | |
Hund schaute er durch seine Brille, er alleine, wir zu acht. Es war eine | |
lange Jagd gewesen, durch den Wald hinterm Dorf, über die Felder und im | |
verwinkelten Dunkel der alten Ställe hätten wir ihn beinahe verloren. Jetzt | |
lag er auf dem staubigen Weg. Er hatte unsere Bude verraten, sagte Kai, das | |
musste bestraft werden. Sieben Tritte hatte er schon, er heulte, wir hatten | |
gestern noch zusammen Schießen gespielt, aber ich sah die anderen und trat | |
zu. | |
Meine Ausbildung zum Neonazi habe ich später irgendwann abgebrochen, aber | |
zu dieser Zeit wusste ich noch sehr genau, wo der Feind stand. Dann ging | |
die Welt unter. | |
Das lief im Fernsehen, und wir schauten dabei zu. Meine Eltern, die | |
Nachbarn, das Dorf. Woanders, in den großen Städten machten sie mit, gingen | |
auf die Straße, sie schrien das Große Ende herbei. Ich sah mir das nicht | |
an. Ich konnte nicht. Mein Vater war Soldat, er sollte etwas tun. Panzer | |
gegen den Feind wollte ich, Panzer wie in China. Er tat nichts. Die anderen | |
Erwachsenen auch nicht. | |
Und so kam der Westen. | |
## Die, die nicht gewinnen durften | |
Was war der Westen? Matchbox-Autos, Tintenkiller – in der Schule verboten, | |
außer wenn Frau Fischer gute Laune hatte. Die langen Wunschlisten für die | |
Omas, die rüberfahren durften, die Enttäuschung, wenn das Geld wieder nur | |
für ein paar Schlümpfe gereicht hatte, das war der Westen. Das waren die | |
Autokarten, auf denen stand, sie kämen aus Altenburg. Aus der DDR. Und dass | |
es in der DDR selbst diese Karten nicht gab, das war auch irgendwie der | |
Westen. | |
Der Westen, das waren die, die nicht gewinnen durften. Das sagten die | |
Leute, die uns regierten, das sagte der 1. Mai in Berlin. Sie sagten es | |
auch in der Schule, die Geschichte lehrte es uns, Ernst Thälmann war | |
schließlich im KZ gestorben, drüben hatten sie keine Arbeit. In „Von Anton | |
bis Zylinder, das Lexikon für Kinder“ stand über den Westen: | |
„Monopolunternehmen und Großbanken beherrschen die Wirtschaft. Ihre | |
Vertreter sitzen auch im Bundestag und Bundesrat und bestimmen die Politik | |
der BRD.“ Es gebe nur eine Partei, die für Gerechtigkeit kämpfe, die DKP. | |
„Ihre Anhänger werden von den imperialistischen Machthabern verfolgt.“ | |
Der Westen war eindeutig der Feind. Und der Feind siegte. | |
Kampflos. Das war das Schlimmste. Der Verrat. „Und greift uns jemand an / | |
so hat er nichts zu lachen / die Volkssoldaten wachen / und stehen ihren | |
Mann.“ Ein Kinderlied, „Mein Bruder ist Soldat“, die dritte Strophe. Wer | |
ließ Kinder das singen und stand dann seinen Mann nicht, als es darauf | |
ankam? Unsere Lehrer, unsere Eltern. | |
Sie kapitulierten. Viele gleich mehrfach. Hinten bei den Garagen, da hatte | |
es schon immer ein paar Trinker gegeben. Nach dem Untergang machten sie es | |
sich schön. Sie legten Teppich in eine Garage, es kam ein Fernseher, es | |
kamen Sofas, es kamen immer mehr von ihnen. Nur Männer, die Frauen | |
verdienten das Geld für den Schnaps. Aber die Trinker waren wenigstens | |
laut. Die anderen schwiegen. | |
## Alle waren in ihren eigenen Ländern unterwegs | |
War überhaupt etwas passiert? Es gab tolles Spielzeug, miese Brötchen, | |
Metalliclack und jede Menge Post, die behauptete, man habe etwas gewonnen. | |
Fernsehen und Zeitung quollen erst über vor Freude, dann waren wir auf | |
einmal zu faul zum Arbeiten. Aber klar, kein Grund, sich zu wundern, das | |
Leben ging einfach weiter. | |
Gemeckert wurde natürlich, klar. Weil es schwer war, weil es neu war. | |
Gemeckert wurde vorher auch. „Die neue Zeit“ meine ich manches Mal gehört | |
zu haben, oder „im Westen ist das eben so“. Aber mehr war nicht. Eine | |
Erklärung, wenigstens ein Versuch – war nicht das beste aller Länder | |
verschwunden? Hätten nicht wir siegen sollen? Habt ihr die ganze Zeit | |
gelogen? – Fehlanzeige. | |
Meine Eltern sagen heute, jeder musste selbst sehen, wie er klarkam. Die | |
Erwachsenen hätten gedacht, die Kinder würden sich schneller und besser | |
anpassen als sie. Wir waren alle in unseren eigenen neuen Ländern | |
unterwegs. | |
Einmal noch, Jahre später, erinnere ich mich an einen Versuch, Kontakt | |
aufzunehmen. Ein Lehrer an der Schule in der Stadt sollte gefeuert werden. | |
Stasi-Vorwurf. Seine Kolleginnen baten uns, ihn zu unterstützen, es gab | |
wohl auch eine Unterschriftenliste. Da war sie noch mal, die DDR. Ich | |
mochte den Mann nicht, wütend war ich dennoch. Unterschrieben habe ich, | |
glaube ich, auch. Der Feind, der eigentlich schon gesiegt hatte, zeigte | |
sich, einmal noch, und dieses Mal kämpften sie. Wenigstens ein bisschen. | |
Der Mann blieb. | |
## Hatte er uns wirklich verraten? | |
Vielleicht war alles nur ein großes Missverständnis? Vom 1. Mai in Berlin, | |
den großen Aufmärschen kam eigentlich nur sehr wenig an bei uns im Dorf. | |
Und die Lehrerinnen, wenn ich versuche, mich an sie zu erinnern, rund und | |
gemütlich, interessierten sich mehr dafür, dass wir sauber waren und nicht | |
quatschten, als für den Sieg des Sozialismus. | |
Die anderen Jungs? Spielten mit den neuen Matchboxautos. Auch wir schwiegen | |
vom versunkenen Land. | |
Fand ich es als einziger schrecklich, dass die DDR verschwand? Vielleicht | |
weil ich so viel las. Kinderbücher, in denen Jungen mexikanischen | |
Revolutionären zum Sieg verhalfen. Geschichten aus Russland von fliegenden | |
Teppichen und Städten an weit entfernten Küsten. Ich wusste noch nicht, | |
dass man da gar nicht hindurfte. „Dort weit hinter dem Fluß“ von Juri | |
Korinez war so ein Buch, ein Junge und sein Onkel auf einer Wanderung weit | |
im Norden. Lachsfischen, wilde Floßfahrten, Bären aber im Haus der Eltern | |
des Jungen wohnt auch ein ehemaliger Grundbesitzer, der mit selbst | |
gepanschten Salben Menschen vergiftet. | |
Vielleicht lag es an der Sache mit den Autokarten. Wir konnten sehen, wie | |
unser Land etwas für den Feind herstellte, das es bei uns nicht gab. Diese | |
Schwäche. Kinder sind oft mit den Schwachen: Schneewittchen, Indianer, der | |
DDR. War es Mitleid? | |
Was den dicken Ricardo angeht, so ist mir beim Schreiben dieses Textes | |
aufgefallen, dass es kaum mehr als acht Jungen im Dorf gab. Wem soll er | |
erzählt haben, wo unsere Bude war? Hatte er uns wirklich verraten? Damals | |
fühlte es sich echt an. | |
9 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Daniel Schulz | |
Daniel Schulz | |
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