# taz.de -- Jochen Schmidt über sein neues Buch: „Wir waren ja total materia… | |
> Der Schrifsteller Jochen Schmidt über seinen neuen Roman | |
> „Schneckenmühle“, eine Jugend am Ende der DDR, die Nachwendezeit in | |
> Berlin und Lesebühnen. | |
Bild: Nicht Schneckenmühle, aber fast: Pionierferienlager in Kasachstan | |
taz: Herr Schmidt, sprechen wir gleich über Ihr neues Buch? | |
Jochen Schmidt: Bitte keine Fragen nach dem autobiografischen Gehalt oder | |
warum ich das Buch geschrieben habe und was man sonst immer so gefragt | |
wird. | |
Das hatte ich nicht vor. Aber ich würde gerne fragen, wie Sie es geschafft | |
haben, dass die Sprache der 14-Jährigen so authentisch klingt in Ihrem | |
Roman über das Ferienlager Schneckenmühle, in das auch Sie gefahren sind? | |
Das hat man für immer im Ohr, wie jede Sprache, die man mal gelernt hat. | |
Dass es eine eigene Sprache war, habe ich aber erst gemerkt, als ich damit | |
in Berlin fast zum Ausländer wurde. | |
War es schwierig, das aufzuschreiben? | |
Eigentlich unmöglich. Man hat ja immer anders berlinert – je nachdem, ob | |
man unter sich war, mit Erwachsenen geredet hat oder sogar mit einem | |
Mädchen. Meine Eltern sind Linguisten, die haben über das sogenannte | |
Berlinische gearbeitet. Der Streit zwischen uns war immer, ob man „dit“ | |
oder „det“ sagt – Auswärtige meinen sogar, man sagt „dette“. Nie im … | |
hat man bei uns „det“ oder „dette“ gesagt. Das ist so ein | |
Zille-Berlinerisch. Ich fand immer toll, dass ich schon als Sechsjähriger | |
meinem Vater sagen konnte, wie man wirklich spricht, jedenfalls im | |
Arbeiterbezirk Friedrichshain. | |
Gibt es denn nun einen Unterschied zwischen den Sprechweisen in Ost- und | |
Westberlin? | |
In Ostberlin gab es ein Berlinerisch für Intellektuelle, das geht mir heute | |
auf den Keks. | |
Wie geht denn das? | |
Alexander Osang redet so. Ich finde, Berlinern eignet sich für emotionale | |
Momente, es passt aber nicht zu intellektuellen Erörterungen. In Westberlin | |
haben Intellektuelle angeblich eher Hochdeutsch gesprochen. Vielleicht war | |
das im Osten eine Abgrenzung von der Partei. | |
Zurück zu den Erinnerungen: Sind Sie mal wieder nach Schneckenmühle | |
gefahren? | |
Proust rät vom Besuch von Erinnerungsorten ab, das könne nur enttäuschen. | |
Aber ich sehne mich schon sehr danach, das wiederzusehen. | |
Konnten Sie auf Tagebuchaufzeichnungen zurückgreifen? | |
Nein, ich war doch ein Junge. Ich habe mal versucht, mich zum Tagebuch zu | |
zwingen, dann schrieb ich immer: „Heute schon zehn Zeilen geschrieben.“ Ich | |
wusste einfach nicht, was ich schreiben soll. Die meisten Menschen ahnen | |
auch als Erwachsene nicht, was an ihrem Leben interessant sein könnte, da | |
muss man ihnen regelrecht die Augen öffnen. | |
Gibt es anderes, was Ihnen auf die Sprünge geholfen hat? | |
Meine erste Eintragung in einem alten Kalender, die ich entziffern kann, | |
ist: „Wir haben einen neuen Fernseher bekommen.“ (lacht) Ich muss mich an | |
Objekte halten. | |
Wie bitte? | |
Weil ich nichts wegschmeiße. Und da kommen immer wieder magische Dinge zum | |
Vorschein. Dokumente. Fotos. Das ist alles wichtig. Man braucht Originale. | |
Wie konnten Sie sich an all die pubertären Sprüche erinnern, die im Buch | |
auftauchen, zum Beispiel „Frigide sei mit dir“? | |
Wahrscheinlich bin ich noch in der Pubertät. Ich habe mich beim | |
Aufschreiben sehr an der Unreife dieser Jugendlichen gefreut. Man konnte | |
herrlich albern sein in der DDR. Wir waren einfach sehr unschuldig, auch in | |
unserer politischen Ahnungslosigkeit. Das war sehr poetisch. | |
Ist Ihr Buch ein Ferienlager-Roman? | |
Das war schon meine Hauptmotivation: dass alle, die das nicht erlebt haben, | |
neidisch werden und alle anderen noch mal hinreisen können. | |
Was fasziniert am Ferienlager? | |
Diese Wochen waren die intensivste Zeit. Das Ferienlager war eine der | |
positiven Seiten der DDR-Volksbildung. Gerade weil sie hier versagt hat. | |
Anders als die zentralen Pionierlager, wo es politischer zuging, gehörten | |
die Ferienlager zu ihren Betrieben. Dort war es total unpolitisch. Fast | |
noch unpolitischer als in meinem Buch. Selbst wenn es Orientierungsmärsche | |
im Wald gab, hat man da überhaupt keinen militärischen Zusammenhang | |
gesehen. Anders als manche heutige Jugendliche fanden wir ja Militär total | |
langweilig. | |
Lag das nicht auch an dem speziellen Ferienlager, das Sie beschreiben? | |
Schneckenmühle war das Ferienlager der Akademie der Wissenschaften. Wobei | |
die Hälfte der Kinder dort Kinder von Fahrern, Pförtnern und so weiter | |
waren. | |
So wie Eike in Ihrem Buch, der ziemlich verwahrlost wirkt? | |
Nein, Eike ist ein Schriftstellerkind. Intellektuellenkinder und | |
Funktionärskinder waren oft die am meisten verwahrlosten. | |
Woran lag das? | |
Vielleicht weil die Eltern zu beschäftigt waren. Akademiker waren auch | |
damals schon überfordert und verdienten weniger als Handwerker. Außerdem | |
hatten sie keine Beziehungen und mussten nach allen Sachen rennen – und | |
dann die Sitzungen. Echte Parteisoldaten gaben ihre Babys in die | |
Wochenkrippe, also Montagfrüh bis Freitagabend, weil sie auf Dienstreise | |
mussten. | |
Für die Kinder in Ihrem Buch scheinen die Eltern kaum ein Thema zu sein, | |
oder? | |
Wir haben uns als Kinder nicht dafür interessiert, was die Eltern der | |
anderen gemacht haben. | |
Aber ist es nicht rückblickend interessant? | |
Rückblickend ist im Leben alles interessant. Zum Beispiel, warum man sich | |
damals nicht dafür interessiert hat. Ich habe mich auch bei meinen Eltern | |
nicht so sehr dafür interessiert, was sie gemacht haben, auch wenn das sehr | |
in die Wohnung gewuchert ist in Gestalt von Zettelkästen und Bücherstapeln. | |
In Ihrem Buch gibt es ein Mädchen aus Sachsen, das als einziges zu den | |
Berlinern ins Ferienlager muss. Gab es die wirklich? | |
Ja, das war so. Da war immer ein Kind von der sächsischen Akademie der | |
Wissenschaften dabei. Und wir waren natürlich damals total rassistisch. Wir | |
hatten auch einen mit einer Brille, der immer so viel Post von seinen | |
Eltern bekommen hat, den nannten wir Professor. Das ist keine Idylle, wenn | |
Kinder zusammen sind. Das tut mir leid im Nachhinein. | |
Ist die kleine Romanze im Buch zwischen Peggy und Jens eine Art | |
Entschuldigung dafür? | |
Ich hätte nie den Charakter gehabt, mich mit einer Außenseiterin abzugeben. | |
Aber für Jens ist es ein Einschnitt, wie fast alles in dem Buch. Im Grunde | |
ist Peggy die Realität, das ist ja oft so mit Frauen. | |
Eine der lustigsten Stellen ist die Episode über den Polytechnischen | |
Unterricht – als Ihr Held wie alle Schulkinder in die Produktion geschickt | |
wird. | |
Jeder DDR-Schüler hat in einem Betrieb irgendetwas Seltsames hergestellt. | |
Griffe von Wimpeln für Staatskarossen oder Balkonblumentopfhalter. Bei mir | |
waren es Laichhöhlen für Aquarien im VEB Elektrokeramik Pankow, auf dessen | |
Gelände gerade Baugruppenhäuser geplant werden. Die Schüler verloren in den | |
Betrieben die letzten Illusionen über den Sozialismus, weil sie merkten, | |
dass auch die Erwachsenen keine mehr hatten. Es war lästig, arbeiten zu | |
müssen, aber toll, in der Kantine morgens um elf fettige Würstchen und | |
Rührei zu essen wie die anderen Arbeiter. | |
Ihr Buch ist sehr jugendlich aufgemacht. Ist es denn ein Jugendroman? | |
Wenn Jugendliche Bücher lesen würden, könnten sie damit vielleicht etwas | |
anfangen. | |
Hatten Sie Vorbilder? | |
Vielleicht einen Film. „Sieben Sommersprossen“, ein Jugendfilm über ein | |
Ferienlager, der Ende der 70er gedreht wurde. Wegen der Nacktszenen hatte | |
sich rumgesprochen, dass sich der Film lohnen könnte. Normalerweise hätte | |
ich mir damals keinen Defa-Film freiwillig angesehen. Das habe ich alles | |
erst nach der Wende schätzen gelernt. Was jetzt an Filmen über diese Zeit | |
gedreht wird, hat keinen Erkenntniswert. Man muss die Originale sehen, wie | |
bei Bildern. Mein Buch stellt da natürlich eine große Ausnahme dar. (lacht) | |
Lesen Sie Bücher über die DDR? | |
Eher die alte DDR-Literatur, wobei damals leider kaum jemand Tagebuch | |
geführt hat. Die DDR-Künstler hatten oft einen klassischen Kunstanspruch, | |
oder sie hätten Tagebücher nicht veröffentlichen können, weil der Alltag | |
viel zu brisant war. | |
In der Kritik hieß es öfters, Ihr Roman sei weniger einer über das | |
Ferienlager als über das Ende der DDR. | |
Oder dass ein bisschen mehr Blick auf die politischen Vorgänge dieser Zeit | |
nicht geschadet hätte. Aber gerade darum geht es doch! Mein Held ist in | |
einem Alter, wo er die Stagnation im Land noch nicht als bedrückend | |
empfindet. Er denkt, er wird schon irgendwie mal nach Paris kommen. | |
Irgendwie wird sich das schon regeln. | |
Es geht darum, dass auch in der DDR nicht alles Politik war? | |
Es geht darum, dass dieser DDR schon alle Messen gelesen waren. Was war das | |
für ein Land, mit dem sich die Jugendlichen so gar nicht identifizierten? | |
Wo man alles Eigene verachtet und alles aus dem Westen besser gefunden hat? | |
Wir waren ja total materialistisch. Wie alle Naturvölker, denen man bunte | |
Perlen anbietet. | |
Finden nicht auch heutige Jugendliche im eigenen Land alles blöd? | |
Die Jugendlichen heute konsumieren immerhin die Produkte ihrer eigenen | |
Kultur. Und sie sind schon früh sehr karrierebewusst. Das gab es bei uns | |
früher nicht. Das wirkliche Leben würde sich immer abseits eines mehr oder | |
weniger lästigen Berufsalltags abspielen, das war klar. | |
Sie waren die Generation, die das Berlin der legendären Neunziger erlebt | |
hat. | |
Nein, das habe ich verpasst. Ich war völlig überfordert von den Optionen | |
und man hatte ja kein Geld. Ich habe mich da überall nicht reingetraut, in | |
Kneipen oder Clubs. Das erste Mal vor einem Café in Kreuzberg dachte ich, | |
die kennen sich alle. Weil das bei uns so war, wenn irgendwo viele | |
zusammenhockten. Dabei musste man jetzt gar keinen mehr kennen, um | |
reinzugehen, man musste nur was konsumieren. Aber es war auch Trotz im | |
Spiel. In Ostberlin haben wir ja bis 1989 in der Nachkriegszeit gelebt. Ich | |
habe das total geliebt. | |
Immerhin haben Sie Ende der Neunziger mit der „Chaussee der Enthusiasten“ | |
eine der bis heute erfolgreichsten Lesebühnen der Stadt gegründet. | |
Und da haben wir dann davon erzählt, dass wir uns nicht zum Techno trauen, | |
und damit offene Türen eingerannt. (lacht) | |
Wie hat sich die Lesebühne verändert? | |
Damals gab es so eine Lücke: Wir waren karrieremäßig eine Lost Generation, | |
fühlten uns aber überhaupt nicht als Wendeverlierer, wir hatten ja einen | |
ungeheuren Reichtum an Erfahrung durch unsere Biografie. Diese Dinge wurden | |
nur damals nirgends erzählt. Irgendwann hatten wir dann im Schnitt 300 | |
Zuschauer. Komischerweise hat das in den Zeitungen immer zu regelrecht | |
hasserfüllten Kommentaren geführt, auch in der taz. | |
Und heute? | |
Heute schleppen verzweifelte Deutschlehrer aus Holland ihre Klassen auf | |
Berlinbesuch zu uns, weil wir Werbung für Deutschland machen sollen, indem | |
wir nicht so sind wie Deutschland. Und idealerweise gründet jeder | |
Lesebühnenbesucher in seinem Heimatort eine eigene Lesebühne. Viele gründen | |
aber auch eine Familie und haben dann keine Zeit mehr. | |
Und wie wird es weiter gehen? | |
Wir sind gerade erst ins Badehaus Szimpla gezogen, wunderbarerweise ein | |
Ableger eines Budapester Clubs. Das ist dort eine sogenannte Ruinenbar, ein | |
riesiger Komplex voller Schrott an den Wänden. | |
Hat die Lesebühne Ihre Karriere befördert? | |
So hätten wir nie gedacht. Wir wollten einfach sehen, ob wir das länger als | |
vier Wochen durchhalten. Im sogenannten Literaturbetrieb war „Lesebühne“ | |
eher ein Stigma für mich, man wird dann nicht mehr ernst genommen. | |
Wie würden Sie denn gern gesehen werden? | |
Ich erinnere mich an eine Signierstunde von Christoph Hein, vor 1989, da | |
stand eine Schlange von 200 Metern vor dem „Internationalen Buch“ am Alex. | |
Das lag daran, dass Schriftsteller mit die Einzigen waren in diesem Land, | |
die frei waren. Jedenfalls dachte man das. | |
Was ist davon übrig geblieben? | |
Man steht ziemlich alleine da, wenn man durchsetzen will, was man für | |
richtig hält. Andererseits muss man sich immer wieder erinnern, wie schön | |
es ist, ein Buch zu machen. Man muss von seinen Büchern träumen. | |
Das heißt, Sie sind trotzdem gern Schriftsteller? | |
Ich wäre auch gerne alles andere. Aber es ist wohl einer der wenigen | |
Berufe, die es einem ersparen, sich entscheiden zu müssen. Man kann jeden | |
Tag etwas ganz anderes machen. Am schwersten ist das, wenn man Erfolg | |
hatte. Davon bin ich bis jetzt zum Glück verschont geblieben. (lacht) | |
31 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
Susanne Messmer | |
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