# taz.de -- Neuer Roman von Christoph Hein: Hin und her zwischen Ost und West | |
> Christoph Hein erzählt von Westberlin vor dem Mauerbau. Und von | |
> Jugendlichen im Kalten Krieg. „Unterm Staub der Zeit“ heißt der neue | |
> Roman. | |
Bild: In Christoph Heins Roman geht es darum, nah an den Erfahrungen eines Juge… | |
Als die Mauer gebaut wird, ist der jugendliche Ich-Erzähler gerade auf | |
einem Ausflug in Dresden und muss sich entscheiden. Er stammt aus einem | |
Pastorenhaushalt der DDR, geht aber, da ihm im Osten die höhere | |
Schulausbildung verwehrt wird, in Westberlin aufs Gymnasium. Bis zum | |
Mauerbau ging so etwas noch, unter dem Radar der DDR-Sicherheitsbehörden. | |
Zunächst wohnt der Erzähler in einem kleinen Internat im Grunewald. Dann, | |
als seine Eltern von der ostdeutschen Kleinstadt nach Ostberlin ziehen, mit | |
ihnen wieder zusammen in Friedrichshain. Sein täglicher Schulweg mit der | |
S-Bahn führt nun hin und her zwischen Ost und West. | |
Christoph Hein erzählt davon nah an seiner eigenen Biografie in seinem | |
neuen Roman „Unterm Staub der Zeit“. Etwas in gutem Sinn Altmodisches | |
durchweht dieses Erzählen. Hein, inzwischen 79 Jahre alt, muss keine | |
Werbung machen für seinen Stoff, das Erzählte ist interessant genug, es | |
geht hier auch gar nicht um „Aufarbeitung“ oder „DDR-Debatte“, sondern | |
darum, nah an den Erfahrungen [1][eines damaligen Jugendlichen] zu bleiben. | |
Mit der ersten Fahrt ins Internat setzt der Roman ein. Der Vater begleitet | |
den 14-jährigen Daniel. Es sind nur ein paar Stationen mit der S-Bahn, und | |
zugleich ist es ein Übertritt zwischen zwei Welten. Wer einen Koffer bei | |
sich hat, wird kontrolliert. | |
Nach ihrer Ankunft im Westen sagt der Vater zu Daniel und dessen älterem | |
Bruder, der schon im Internat wohnt: „Hier seid ihr keine Außenseiter mehr, | |
hier seid ihr willkommen.“ In Guldenburg, ihrer Heimatstadt, wurden sie als | |
Vertriebene aus Schlesien von Schulkameraden als „Polacken“ beschimpft. | |
Doch so ganz unkompliziert wird das Leben im Westen auch nicht werden. | |
## Erste sexuelle Erfahrungen | |
Das Buch wird nun zu einem Internatsroman, die Lehrer werden beschrieben, | |
die Mitschüler, und da hätte man beim Lesen manchmal gern psychologisch | |
Genaueres gewusst. Christoph Hein ist kein akribischer Sezierer der | |
Gefühle, und so bleibt im Verhältnis der Schüler untereinander, etwa zum | |
Klassenprimus, den niemand mag, oder zum Außenseiter, der irgendwann Geld | |
stiehlt, vieles in anekdotischer Halbdistanz. Bei der Schilderung | |
[2][erster sexueller Erfahrungen] mit einer Schauspielerin wird es sogar | |
ein Stück weit altväterlich. | |
Das Buch wird aber auch zu einem Berlin- und Zeitroman, und da ist vieles, | |
gerade in seiner erzählerischen Redlichkeit, wirklich interessant. Daniel | |
muss Geld dazuverdienen und verkauft Tageszeitungen in Kneipen und | |
Restaurants. Wie das organisiert ist, mit sorgfältig abgezirkelten | |
Verkaufsgebieten und manchen Beschiss lohnenden Abrechnungsregeln, | |
beschreibt Hein genau. | |
Das sind Szenen, in denen das Zeitkolorit dieser so seltsamen Frontstadt | |
Westberlin aufblitzt und Hein zugleich die kleinen Alltagserfahrungen vor | |
dem vorschnellen Einschmelzen ins große, allgemeine Ost-West-Thema rettet. | |
„Die Ära des Kalten Krieges […] ging an uns vorbei, dafür waren wir zu ju… | |
und zu sehr an anderen Dingen des Lebens interessiert“, rekapituliert der | |
Erzähler. Ein Auftritt des [3][Erweckungspredigers Billy Graham] am | |
Brandenburger Tor, ein aus dem Ruder laufendes Konzert von Bill Haley im | |
Sportpalast, Probenbesuche in der Vagantenbühne, das sind die Dinge, die | |
den Erzähler interessieren. | |
## Infiziert vom Russenvirus | |
Aber das Ost-West-Thema spielt immer hinein. So bleiben die Ostschüler auf | |
dem Westgymnasium unter sich. Manche Westeltern verbieten ihren Töchtern | |
jeglichen Kontakt mit ihnen, weil man ja nicht wisse, wie weit sie „mit | |
diesem russisch-verbrecherischen Virus infiziert“ seien. [4][Der | |
Antikommunismus war rigide.] | |
Am Schluss, als die Mauer gebaut ist, entscheidet sich Daniel dafür, bei | |
den Eltern in Ostberlin zu bleiben. Ab jetzt ist er wirklich ein Bürger der | |
DDR. In den Schlussszenen vermittelt Hein einen Eindruck davon, wie | |
kleinteilig und kleingeistig dort in die Lebensführung der Menschen | |
hineingeredet wurde. | |
17 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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