| # taz.de -- Letztes Mal Chaussee der Enthusiasten: Tschüss, Chaussee! | |
| > Berlins wohl bekannteste Lesebühne tritt nach 16 Jahren in den Ruhestand. | |
| > Sechs ehemalige und aktuelle Autoren und Gäste erinnern sich | |
| Bild: Die Lesebühne 2008: Stephan Serin, Robert Naumann,Dan Richter, Kirsten F… | |
| Danke für die Groupies | |
| Wenn ich heute den Text lese, mit dem ich mich am 11. November 1999 am Open | |
| Mic der Chaussee der Enthusiasten zum ersten Mal dem Publikum und meinen | |
| späteren Kollegen präsentierte, dann erschrecke ich ob der Qualität meiner | |
| Geschichte. Umso dankbarer bin ich, dass dies die Gründer der Lesebühne | |
| nicht davon abhielt, mich kurz darauf als Gast einzuladen und mir später | |
| anzubieten, festes Mitglied zu werden. | |
| Ich zögerte, denn ich hatte große Zweifel, ob ich auch nur einen Monat lang | |
| jede Woche zwei neue Texte verfassen könnte. Zum Glück gab ich meinen | |
| Bedenken nicht nach. Mein Leben wäre um etwa 800 Auftritte ärmer. Ich hätte | |
| nie über 1.500 Geschichten geschrieben. Ich hätte nie Bücher | |
| veröffentlicht. Ich hätte andere Bücher gelesen, andere Filme gesehen, | |
| andere Musik gehört. | |
| Vielleicht würde ich nicht mehr in Berlin leben, denn die Chaussee war für | |
| mich immer ein Grund zu bleiben. Ohne meine Aura als Lesebühnenautor hätte | |
| ich nie so gut von meiner Spießigkeit ablenken können und – das gebe ich in | |
| aller Eitelkeit zu – nie Groupies gehabt. | |
| Und vor allem wäre ich nicht mit Menschen aufgetreten, deren Geschichten | |
| mich in 16 Jahren fast nie gelangweilt haben, mit denen ich Gespräche, | |
| trotz aller Spannungen, die es in jeder Band irgendwann gibt, immer | |
| inspirierender fand als mit den meisten Personen, die ich sonst getroffen | |
| habe. Ich weiß nicht, ob viele die Chaussee vermissen werden. In meinem | |
| Leben wird sie sich nicht einfach ersetzen lassen. Stephan Serin | |
| Unenthusiastisch heimisch | |
| Im Dezember 2007 war ich das erste Mal in der „Chaussee der Enthusiasten“. | |
| Es war nach Weihnachten. Jochen hatte mich eingeladen. Wir kannten uns, | |
| deshalb war es auch nicht so stressig. Es war ganz schön schwierig, den | |
| Veranstaltungsort auf dem RAW-Gelände zu finden. Mehr als 100 Zuschauer | |
| waren da. Wir waren zu siebt; das Supatopcheckerbunny war auch dabei. Ich | |
| fühlte mich wie ein Star. Jeder las zweimal acht Minuten ungefähr. Der | |
| Abend war gut und auch gut bezahlt (90 Euro). Es war toll, direkt nach der | |
| Arbeit Geld zu bekommen. Manche kauften sogar Bücher. | |
| Erst später fiel mir ein, dass ich in der Aufregung immer vergessen hatte, | |
| die Leute, die nach mir lasen, anzusagen. Das zog sich so durch: Ich las | |
| fünf- oder sechsmal in der Chaussee, und fast jedes Mal vergaß ich, | |
| Andreas, Stephan, Robert oder Dan anzusagen. Die Auftritte waren | |
| unterschiedlich. Das erste Mal hatte ich nur Hits gelesen, dann hatte ich | |
| mich immer viel zu lange vorbereitet. | |
| Später ging’s besser. Ich las vor allem Texte, die ich in den letzten | |
| Wochen geschrieben hatte, und immer auch einen, der ganz neu war. Ich fühle | |
| mich in der Chaussee heimisch, auch wenn ich gar nicht enthusiastisch bin. | |
| Die letzten Male hatte ich immer unangekündigt gelesen, wenn jemand | |
| ausfiel; man fühlt sich als Überraschungsgast wie David Bowie. Das Publikum | |
| war immer prima gewesen. Leider kamen nachher nicht mehr so viele Leute. | |
| Ich vermisse die Chaussee sehr. Detlef Kuhlbrodt | |
| Dem Irrsinn entkommen | |
| Wie lange wir machen würden, wussten wir nie. Nun sind es 16 Jahre | |
| geworden, fast waren wir also volljährig. Jede Woche neue Texte, Lieder, | |
| Dialoge, Fotoserien, Gespräche. Von manchen Autoren heißt es, sie schrieben | |
| experimentell, für mich war es ein wöchentliches Experiment, | |
| Publikumsschriftsteller zu sein – da eine unsubventionierte Leseshow, die | |
| kaum Rückhalt in den Medien hat, ihr Publikum pflegen muss – und sich | |
| trotzdem literarisch „nach oben“ zu orientieren. | |
| Das ging nicht ohne Humor, was uns von Anfang an für den Literaturbetrieb | |
| disqualifiziert hat. Ich war aber immer überzeugt davon, dass Kafka, | |
| Beckett oder Tschechow sich bei uns gut gemacht hätten. Schade, dass sie | |
| schon tot waren. Warum hören wir auf? | |
| Eigentlich weiß ich es nicht. Für die Chaussee habe ich immer zum Spaß | |
| geschrieben, das geht leider nicht mehr, weil die Familie und der Brotberuf | |
| als Schriftsteller zu viel Zeit fordern. Um Miete und Essen für die Kinder | |
| zu bezahlen, muss ich nachts schreiben und mich mit Nähnadeln piksen, um | |
| wach zu bleiben. | |
| Es wurde auch immer schwerer, einen geeigneten Raum für unsere Lesungen zu | |
| finden, bezahlbar, aber im Winter trotzdem beheizt und mit funktionierenden | |
| Toiletten. Es tat gut, dem Irrsinn der Welt einmal in der Woche zu | |
| entkommen. Ich hoffe, wir haben vielen Menschen das Herz gewärmt, uns auf | |
| jeden Fall. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt mit meinen ganzen Ideen für | |
| Chaussee-Texte machen soll. Jochen Schmidt | |
| Die Versöhnung fiel aus | |
| Es war ein alberner Text. Hannelore Kohl selig ist darin vorgekommen. Es | |
| war nicht mein bester Text. Das war aber nicht der Grund, warum ich mitten | |
| im Text aufgehört habe zu lesen. Der Grund saß neben mir auf der Bühne. | |
| Einer der Gründungsenthusiasten, ein Fan des BFC Dynamo, hatte so etwas wie | |
| ein Fanzine zusammengestellt. Vertrieben hat er es an den Leseabenden und | |
| im Stadion. Vor allem die Stelle, an der es um den Sturm der Fans auf ein | |
| Asylbewerberheim in Greifswald ging, hat mich abgestoßen. | |
| Ebenso die Anzeige eines Labels, in der für die Band „Bierpatrioten“ | |
| geworben wurde. Die hatte schon mal recht unverhohlen zur Jagd auf Hippies | |
| aufgerufen. Für mich war das Nazimusik. Damit und mit dem Autor wollte ich | |
| nichts zu tun haben. Das habe ich dann gesagt, nachdem ich den Hannelore | |
| Kohl-Text abgebrochen hatte. Wer meiner Meinung sei, könne mit mir nach | |
| oben in den Schankraum gehen und mit mir über meine Bedenken diskutieren. | |
| Ich saß dann oben. Allein. Meine Zeit als Enthusiast war zu Ende. | |
| Der Mann, neben dem ich nicht lesen wollte, durfte kurz darauf ein Buch im | |
| Aufbau Verlag veröffentlichen und darin über Türken witzeln, die Angst vor | |
| Leuten mit „Badekappenfrisuren“ hatten. Er war auch nicht lange Enthusiast. | |
| Irgendwann wollte ich mich mit den Enthusiasten versöhnen. Die lasen längst | |
| in einer riesigen Halle. | |
| Kurz vor dem Ende der Show hat mich ein Hund gebissen. Die Versöhnung fiel | |
| dann aus. Andreas Rüttenauer | |
| Verkaterte Fruchtfliege | |
| Jede größere Lesebühne in Berlin entwickelte irgendwann ihren Spirit. | |
| Etwas, das kaum greifbar ist. Für mich garantierten in den sechzehn Jahren | |
| der Chaussee der Enthusiasten zwei Konstanten den Geist der Freiheit: | |
| 1. Die knochentrockene, präzise, humane, quasibuddhistische und wahnsinnig | |
| komische Authentizität des schwerhörigen Robert Naumann. In einem Text | |
| warnt er eine Fruchtfliege über die Folgen des Weintrinkens und schaut | |
| später gemeinsam mit dem verkaterten Insekt auf der Schulter in den | |
| Sonnenuntergang, um sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen. | |
| 2. Jochen Schmidts bedingungslose Liebe zum Text. Im Gegensatz zum Klischee | |
| ist es nicht besonders schwer, Komik zu schaffen. Wirklich schwer ist es, | |
| die Zuhörer mit etwas Lustigem emotional zu berühren. Das gelingt nur ganz | |
| wenigen Künstlern. Jochen Schmidt ist einer von ihnen. | |
| Eingerahmt von diesen beiden Protagonisten künstlerischer Wahrhaftigkeit | |
| fühlte ich mich geborgen genug, um meine Experimente zu wagen: Texte, | |
| Theaterstücke, Lieder, Performances, Interaktionen mit dem Publikum. Ich | |
| werde auch nach dem Ende der Chausseeschreiben, improvisieren und singen.Ob | |
| mit diesem enthusiastischen Gefühl der Freiheit, das weiß ich nicht. | |
| (Andreas Gläser, Stephan Zeisig, Andreas Kampa, Volker Strübing und Kirsten | |
| Fuchs: entschuldigt, dass ich euch in diesem kurzen Text nicht erwähne. Die | |
| taz brauchte den Platz wahrscheinlich für wichtige Anzeigen.) Dan Richter | |
| In Hochform abtreten | |
| „Solange es die Chaussee gibt, ist die Welt noch in Ordnung“, sagt Jochen | |
| Schmidt. Jetzt gerät die Welt endgültig aus den Fugen, die Chaussee der | |
| Enthusiasten hört auf. Sie bestand ausschließlich aus Ostlern, die | |
| hauptsächlich von einer Spezialschule für Mathematik und einer | |
| Behindertenschule kamen. War es diese Mischung, die den Erfolg ausmachte? | |
| 1999 gegründet, hatte die Chaussee über 100 Zuschauer, 2003 über 200, 2004 | |
| über 300, 2008 über 400, Donnerstag für Donnerstag. Die Chaussee der | |
| Enthusiasten war lange die erfolgreichste Lesebühne des Landes. Aber nicht | |
| für immer, heute ist Schluss. Immerhin geht die Chaussee in Hochform ab, | |
| zeigt noch mal die verspielte Vielfalt, mit der sie Tausende amüsierte. | |
| Die Autoren begannen 1999 im Cube Club, dem Keller der Kneipe tagung in | |
| Friedrichshain, sie gastierten in Amsterdam, Chemnitz, Lille, Sibirien, | |
| Innsbruck, Schanghai, Peking. Ihre Abschiedstournee endet heute in Berlin | |
| in der Alten Kantine der Kulturbrauerei. | |
| In der Chaussee traten Stars wie Thomas Kapielski, Kurt Krömer, Flake von | |
| Rammstein und Ol auf, lange war die Show ein Vorbild für viele Studenten | |
| und Schriftsteller. Aber auch feste Mitglieder wie Jochen Schmidt, Volker | |
| Strübing, Andreas Rüttenauer, Kirsten Fuchs, Stephan Zeisig alias Serin und | |
| Dan Richter wurden zu Literatur- und Slam-Stars. Enden wird die letzte Show | |
| mit dem Outro-Dialog, wir wünschen uns, dass die überlange, ausufernde | |
| Absage, die früher das Publikum so stark polarisiert hat, niemals endet. | |
| Falko Hennig | |
| 9 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Stephan Serin | |
| Jochen Schmidt | |
| Andreas Rüttenauer | |
| Detlef Kuhlbrodt | |
| Dan Richter | |
| Falko Hennig | |
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