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# taz.de -- Buch über Erziehung in der DDR: Schläge und Einzellarrest im Heim
> Silke Kettelhake gibt in „Sonja 'negativ-dekadent'“ düstere Einblicke in
> die Erziehungsmethoden eines repressiven Systems.
Bild: Schlimmer als der Knast: Dunkelzelle im Jugendwerkhof Torgau.
Geschlossener Jugendwerkhof Torgau, DDR. Sonja und viele andere Mädchen
drehen am 1. Juni 1968 früh morgens endlose Runden auf dem Hof. Sonja
erinnert sich: „Keine von uns wusste, wie lange für sie die Verurteilung
gelten würde. Keine wusste, ob es Winter werden würde und wir weiter unsere
Runden im Trillerpfeifentakt drehen müssten. Oder in anderen Knästen der
DDR für immer verschwanden.“
Zu essen gab es wenig, und immer drohten den Mädchen Schläge und
Einzellarrest. Dabei wussten viele von ihnen nicht einmal, warum sie im
Arbeiter-und-Bauern-Staat eigentlich eingesperrt waren. Autorin Silke
Kettelhake hat Sonjas Geschichte aufgeschrieben, zusammengetragen aus
persönlichen Gesprächen und Aktenrecherche. So wechseln sich Erzählung und
Originaldokumente im Buch ab und geben einen umfassenden Blick auf Sonjas
Leben.
Geboren ist sie Anfang der 1950er Jahre in Rostock. Der Vater hat die
Familie Richtung Westen verlassen, da war Sonja zwei. Die Mutter, jahrelang
Spitzel für die Stasi, kann das Kind, das sie mit den Augen des Vaters
anschaut, nicht lieben. Auch ihr neuer Mann, ein Chorleiter, erschafft
nicht die von Sonja ersehnte Familienidylle. Als Sonja ihm einen Brief
schreibt und fragt, wie sie ihn nennen solle, „Papa oder Papi?“, lacht die
Mutter sie aus.
Sie und ihr neuer Mann lassen Sonja oft allein zu Hause, gehen aus oder auf
Konzertreise, fühlen sich wohl in der Rostocker Gesellschaft in der noch
jungen DDR. Sonja träumt sich weg, liest viel und versucht, die Einöde zu
verdrängen. Sie gibt sich alle Mühe, alles richtig zu machen und geliebt zu
werden. Damit kann sie nur scheitern.
Als Sonja älter wird, gerät sie in einen Strudel von Renitenz und
Verhaftung. Trotz eines Verbots will sie ihre erste Liebe in Berlin
besuchen und wird inhaftiert: Erste Station „Durchgangsheim“. Später steht
sie mit Freunden am Stadtbrunnen in Rostock, hört Musik aus dem Westen,
wieder: ab ins Durchgangsheim. Etwas wirklich Schlimmes hat Sonja nicht
verbrochen. Doch irgendwann kommt die Polizei in ihre Schule und verschafft
sie nach Torgau, Spezialkinderheim.
## Kein gegenseitiges Mitgefühl
Im Geschlossenen Jugendwerkhof bleibt sie für vier Monate. Die Behandlung
durch die AufseherInnen ist schikanös, trotz Misshandlungen gibt es unter
den jugendlichen Häftlingen kein gegenseitiges Mitgefühl. Nächste Etappe
ist der „normale“ Jugendwerkhof. Dort wird Sonja ausgebildet,
Industriewaschmaschinen zu bedienen. Als sie endlich nach Hause darf, geht
wieder alles schief.
Unter ständiger Beobachtung durch den Staat landet sie immer wieder in
Haft. Ihr erster Mann soll die ersehnte Geborgenheit bringen. Aber auch das
klappt nicht, sie lassen sich scheiden, da hat Sonja bereits einen Sohn.
Sie lernt ihren zweiten Mann kennen, verlässt Rostock: „Und ich dachte,
wenn ich erst auf dem Land wohne als Hausfrau in Neubukow und weggetaucht
bin, dann lassen sie mich schon in Ruhe, dann haben sie mich aus den Augen
verloren, dann kann mir keiner mehr was.“
Von Depressionen geplagt versucht sie, als Ehefrau und Mutter zu
funktionieren: „Diese panische Angst, dass sie mich in die Irrenanstalt
stecken, dass ich für immer verschwinde, wollte nicht von mir weichen.“
Über Torgau hatte sie damals mit niemandem gesprochen. Als die DDR in
Umbruch gerät, schöpft Sonja neue Hoffnung. Sie schließt sich der
demokratischen Opposition im Neuen Forum an: „Nun hatte ich die einmalige
Chance zu gestalten, zu wirken, damit kein VPler mich mehr anhalten kann
und ich für immer in ihrer Hand bleibe.“
Silke Kettelhake hat sich schon zuvor mit interessanten Frauenfiguren
beschäftigt, etwa der Miederwarenverkäuferin Heide Meier oder der
Bildhauerin Reneé Sintenis. Sonjas Geschichte übte auf Kettelhake jedoch
einen besonderen Reiz aus: „Mich hat das an den Film ’Eine Frau unter
Einfluss‘ von John Cassavetes erinnert“, sagt sie im Gespräch, „in dem G…
Rowlands eine Frau spielt, die immer alles richtig machen möchte, aber es
gelingt ihr nicht.“
## Jugendliche und staatliche Repression
Sonjas Erfahrung steht in einem krassen Gegensatz zum „Nicht alles war
schlecht“ vieler DDR-Retrospektiven. Kettelhake will trotzdem keine
Generalanklage gegen die DDR aussprechen: „Es ist zwar exemplarisch für die
DDR, aber steht auch für etwas Universales: das klassische Aufbegehren von
Jugendlichen und die staatliche Repression. Das gab es auch im Westen,
heute vor allem in China, Nordkorea. Aber diese Angst des Staates vor der
Jugend war schon was Einmaliges in der DDR.“
Kettelhake erzählt sehr eindringlich von einer Jugend, der durch Willkür
und autoritärer Blödheit Drastisches widerfahren ist. „Sonja ’negativ
dekadent‘ “ ist keine leichte Kost, beleuchtet aber sehr eindrucksvoll ein
dunkles Kapitel der DDR.
16 May 2014
## AUTOREN
Julia Brummert
## TAGS
Familie
DDR
Jugendhilfe
Jugendhilfe
Heimkinder
Kinderheim
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