| # taz.de -- Sozialpädagoge über Jugendhilfe: „Wir erleben ein Rollback“ | |
| > Manfred Kappeler initiierte mit Ulrike Meinhof die Heimkampagne. Er | |
| > begründete eine Reform der autoritären Erziehungsvorstellungen. | |
| Bild: „Heute geht es um andere, nicht weniger diskriminierende Bilder von erz… | |
| taz: Herr Kappeler, warum kommen immer mehr Kinder und Jugendliche in | |
| geschlossene Heime? | |
| Manfred Kappeler: Die Kolleginnen in den Jugendämtern sind überfordert und | |
| wissen oft nicht, was sie machen sollen. Das hängt auch damit zusammen, | |
| dass die Jugendhilfe finanziell nicht entsprechend ausgestattet ist, um | |
| eine Hilfe zu entwickeln und Umfelder zu organisieren, die solche Kinder | |
| brauchen. So ist die schnelle Lösung: aus der Familie rausnehmen und | |
| wegschließen. | |
| Die Geschichte lehrt, dass diese Institutionen besonders anfällig für | |
| Missbrauch sind. Ist das alles vergessen? | |
| Diese Debatte läuft seit 100 Jahren. Schon früher wurden diese | |
| Einrichtungen kritisiert und Alternativen ausprobiert. Ich selber habe in | |
| den 60er Jahren ein Heim mitentwickelt, das Jugendliche aufgenommen hat, | |
| die in den Fürsorgeerziehungsanstalten als nicht mehr erziehbar definiert | |
| wurden. | |
| Wie sah das aus? | |
| Offene Bungalows, keine geschlossenen Türen, keine geschlossenen Fenster. | |
| Und es sind kaum Jugendliche weggelaufen. Sie wussten, dass sie | |
| wiederkommen konnten. Sie mussten keine Strafen befürchten. Was aus diesen | |
| Jugendlichen später geworden ist, als sie sich entfalten konnten, war sehr | |
| erfreulich. Aber das Konzept galt als zu teuer. Doch vor allem hat es das | |
| bestehende System infrage gestellt. Und so blieb es lediglich bei einzelnen | |
| Modellen. | |
| Dennoch beurteilten Pädagogen die geschlossene Unterbringung damals | |
| deutlich kritischer als heute. | |
| Ja. Die geschlossene Unterbringung, die hat es bis 1990 im Gesetz gegeben. | |
| Dann wurde das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz eingeführt. Dort war die | |
| geschlossene Unterbringung gestrichen. | |
| Aber nun kamen die Kinder und Jugendlichen über den Umweg des Bürgerlichen | |
| Gesetzbuches ins Heim. | |
| Ja, aber entscheidend sind die Familiengerichte. Und das ist jetzt die | |
| große Frage, wie die Familiengerichte heute eigentlich aufgestellt sind. | |
| Wie sind sie aufgestellt? | |
| Im Gesetz stand, dass die Jugendlichen und Eltern von den Richtern gehört | |
| werden sollen. Das ist alles nie passiert. Es wird fast immer aufgrund von | |
| Aktenmappen entschieden. Im Gesetz stand auch, dass die | |
| Vormundschaftsrichter den Werdegang des Kindes begleiten und kontrollieren | |
| müssen. Das haben die nie gemacht. | |
| Die Zwischenschaltung der Familiengerichte bot also nicht den erhofften | |
| Schutz? | |
| Nein, auch deswegen nicht, weil die Richter an Familiengerichten nicht | |
| qualifiziert sind. Die müssten eigentlich für diese Aufgabe eine spezielle | |
| Ausbildung bekommen, damit die in der Lage sind, sich auch selbstständig | |
| ein Bild zu machen. | |
| Die Gesetze entsprechen den Reformwünschen, trotzdem existieren die | |
| Probleme. Wieso wurde da nicht nachjustiert? | |
| In den 70er, 80er Jahren fand ein Paradigmenwechsel im Denken der Praktiker | |
| und Träger statt. Mit der Verabschiedung des Kinder- und | |
| Jugendhilfegesetzes (KJHG) kam es zur Ausdifferenzierung der Jugendhilfe. | |
| Das führte zu einer Kostenexplosion, die von den Kommunen nicht mehr | |
| bewältigt werden konnte. Der Jugendhilfeetat wurde nicht erhöht. Der war | |
| schon um 1990 gedeckelt. Das schöne Gesetz ist am Widerstand der Kämmerer | |
| in den Kommunen gescheitert. | |
| Diese Fehler führten zur Rückkehr repressiver Pädagogik? | |
| Es folgte eine politische Umdeutung. Die tollen Reformideen, die da in | |
| Paragrafen gegossen waren, funktionierten so nicht. Also wurde Stück für | |
| Stück auf repressive Maßnahmen zurückgegriffen. Es ist uns nicht geglückt, | |
| dieses Rollback zu verhindern. | |
| Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1990. Welche Rolle spielte dabei die | |
| deutsche Einigung nach 1989? | |
| Mit Ost und West prallten Kulturen aufeinander, die eigentlich überhaupt | |
| nicht vereinbar waren. Das hat große Verwerfungen provoziert. Das neue | |
| Kinder- und Jugendhilfegesetz war fertig, als die Mauer fiel und trat am 1. | |
| Oktober 1990 in Kraft. Am 3. Oktober war die Wiedervereinigung. Dieses | |
| Gesetz ist gemacht worden für Verhältnisse in der alten Bundesrepublik. | |
| In der DDR hatte es kein 68 und keine Reformpädagogik gegeben. War das | |
| repressive Vorgehen gegen Jugendliche in der ostdeutschen Diktatur auch | |
| politisch motiviert? | |
| Das deutsche Institut für Jugendforschung in Leipzig hatte Mitte der 80er | |
| Jahre festgestellt, dass es zu immer größeren Loyalitätsbrüchen von | |
| Heranwachsenden mit der DDR-Kultur kam. Es kam zu Verfolgungen von | |
| autonomen Jugendkulturen. | |
| Und plötzlich kam die Wiedervereinigung. | |
| Auch die Einrichtungen der offenen Jugendarbeit der FDJ, Jugendclubs und | |
| Jugendhäuser, wurden abgewickelt. Und dann kamen diese Probleme mit der | |
| rechten Jugendszene in der DDR. Die Bundesregierung legte ein Programm auf | |
| gegen Gewalt und Rassismus. Da wurden Millionen reingepumpt. Was finanziert | |
| werden sollte, musste diesem präventiven Gesichtspunkt genügen. Alles stand | |
| unter der Überschrift Gewaltprävention. Und das führte zu einer umfassenden | |
| Stigmatisierung der Jugendlichen. Heute müssen Sie Prävention versprechen, | |
| damit Sie überhaupt noch Geld bekommen. Wenn Sie sagen: Wir sind ein | |
| gesellschaftlich unabdingbares Sozialisationsangebot, was nicht primär | |
| unter Gesichtspunkten der Gefahrenabwehr gesehen werden darf, sondern eine | |
| Unterstützung für ein gutes Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen in | |
| dieser Gesellschaft, dann wird es schwierig. | |
| So veränderte sich das Bild über die Jugendlichen? | |
| Wenn eine Gesellschaft Kinder und Jugendliche primär unter dem Aspekt des | |
| Risikos betrachtet, dann wird der Blick total verengt. Kollegen, die die | |
| vorherige Reformdebatte mitgemacht hatten, stiegen reihenweise aus und | |
| gingen in die innere Emigration. Es gab eine große Frustration. | |
| Wie kommt es, dass sich die kirchlichen Heime der alten Bundesrepublik und | |
| die Jugendwerkhöfe der DDR so frappierend in ihren Misshandlungen ähnelten? | |
| Der Erziehungspraxis wurde zwar politisch jeweils unterschiedlich begründet | |
| in Ost und West, aber im Kern gab es keinen Unterschied. Der Wille sollte | |
| gebrochen werden. Wer die normativen Erwartungen der jeweiligen | |
| Gesellschaft nicht erfüllte, musste bestraft und angepasst werden. Damit | |
| sie wissen, was ihnen droht, musste gegenüber anderen Kindern und | |
| Jugendlichen ein Exempel statuiert werden. Heute befinden wir uns wieder | |
| auf dem Weg dorthin. Das ist das Problem. | |
| Die Geschichte wiederholt sich also? | |
| Lebensgeschichtlich ist das für mich eine harte Erfahrung. Ich habe in den | |
| 80er Jahren geglaubt, dieser Umgang mit Jugendlichen sei überwunden. Doch | |
| es geht alles wieder los. Ich bin schockiert, wenn ich mit Kollegen und | |
| Kolleginnen aus den Jugendämtern rede oder auch mit Therapeuten. | |
| Welches Menschenbild wieder herrscht? | |
| Wir haben damals geglaubt, wir hätten die Sprache verändert. Wir haben den | |
| Verwahrlosungsbegriff abgeschafft. An den Fachhochschulen und Universitäten | |
| wurde gelehrt, wie man über ein Kind, eine Familie so berichten | |
| beziehungsweise schreiben kann, damit es nicht diskriminierende Vermerke, | |
| Berichte und Gutachten in den Jugendamtsakten gibt. Wir haben Fallseminare | |
| gemacht und Akten der Jugendämter studiert. Wir sahen uns alle Beteiligten | |
| an, die mit dem Kind zu tun hatten. | |
| Aus dieser normativen Arbeit ist heute eine Art Dienstleistung geworden. | |
| Die Jugendämter haben sich von Unternehmensberatungsgesellschaften | |
| informieren lassen, wie sie nach Gesichtspunkten von Unternehmen | |
| organisiert werden können. Und dazu gehörte ein striktes Zeitmanagement. | |
| Ein sogenannter Produktkatalog wurde eingeführt. Die Jugendämter haben | |
| alles, was sie unternahmen, als Produkte definieren müssen. Damit wurde der | |
| Prozesscharakter, die notwendige Ergebnisoffenheit sozialpädagogischen | |
| Handelns stark eingeschränkt. | |
| Ergebnisoffenheit? | |
| Ja, denn Jugendhilfe ist ein prozessuales Geschehen, das offen gehalten | |
| werden muss, dessen Ergebnisse nicht schon am Anfang festgelegt werden | |
| dürfen, dessen Verlauf immer wieder zusammen mit dem Kind oder dem | |
| Jugendlichen reflektiert, überprüft und gegebenenfalls verändert werden | |
| muss. In autoritären Einrichtungen wie den Heimen der Haasenburg ist das | |
| schon strukturell ausgeschlossen, bewusst nicht gewollt. Das gilt für alle | |
| Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die glauben, Heranwachsende mit | |
| Freiheitsentzug auf ein gelingendes Leben in Freiheit vorbereiten zu | |
| können. | |
| Warum ist es dann so angelegt? | |
| Die Formulierung eines Produkts als Ergebnis einer Jugendhilfeintervention | |
| ist gesetzlich nicht zulässig, da das geltende Kinder- und | |
| Jugendhilfegesetz vorschreibt, dass alle an der Erziehung und Entwicklung | |
| eines Kindes Beteiligten in Hilfekonferenzen und in der Hilfeplanung | |
| darüber nachdenken, was die jeweils richtige Unterstützung wäre. An diesem | |
| Aushandeln muss das Kind in einer seinen Möglichkeiten entsprechenden Weise | |
| beteiligt werden. | |
| Das wurde abgeschafft? | |
| Noch nie in meiner über 50-jährigen Jugendhilfearbeit ist die Schere | |
| zwischen einer entwickelten Sprache auf der einen Seite und einer dem | |
| widersprechenden Praxis auf der anderen Seite so groß gewesen wie heute. | |
| Wie lässt sich das ändern? | |
| Die Beurteilungskriterien sind immer von der Dominanzkultur einer | |
| Gesellschaft abhängig. Also wenn in den 60er Jahren ein Mädchen einen | |
| Minirock trug und mit einem Jugendlichen auf dem Moped abends um zehn durch | |
| die Gegend fuhr, konnte es passieren, dass es als sexuell verwahrlost dem | |
| Jugendamt gemeldet und in ein Erziehungsheim gebracht wurde. Heute geht es | |
| um andere, nicht weniger diskriminierende Bilder von erziehungsschwierigen | |
| Mädchen und Jungen. Die Jugendhilfe muss diese Bilder stets kritisch | |
| hinterfragen und darf die Sprache, in der sie verbreitet werden, nicht | |
| übernehmen. | |
| Was fordern Sie? | |
| Es muss unabhängige Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und | |
| ihre Familien geben. Vom ersten Kontakt mit dem Jugendamt bis zum Beschluss | |
| einer Maßnahme. Die positiven gesetzlichen Regelungen der Kinder- und | |
| Jugendhilfe können nur realisiert werden, wenn es Instanzen gibt, die das | |
| kontrollieren. Doch die staatliche Kontrolle ist innerhalb dieser Systeme | |
| selbst angesiedelt. Gerade das Beispiel des Versagens der brandenburgischen | |
| Heimaufsicht, einschließlich des zuständigen Jugendministeriums gegenüber | |
| der Haasenburg, zeigt, was dies für katastrophale Folgen für Kinder und | |
| Jugendlichen haben kann, die in so einer Einrichtung leben müssen. | |
| Dort überwachten drei Leute Hunderte von Heimen. | |
| Eines der wesentlichen Ergebnisse der Analyse der Geschichte der | |
| Heimerziehung ist ja, dass alle Kontrollinstanzen, die es stets gegeben | |
| hat, versagten. | |
| Gibt es keine Kritiker der gegenwärtigen Entwicklung? | |
| Auf den Kinder- und Jugendhilfetagen der Arbeitsgemeinschaft für | |
| Jugendhilfe – das ist die Dachorganisation der Kinder- und Jugendhilfe in | |
| Deutschland – wurde in den letzten Jahren eine Repolitisierung der | |
| Jugendhilfe gefordert. Gegenwärtig entstehen an vielen Orten | |
| Zusammenschlüsse kritischer Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen. Nur | |
| durch solche Vernetzungen können sich Kollegen und Kolleginnen in | |
| Jugendämtern und in Einrichtungen aus der frustrierenden | |
| Einzelkämpferposition befreien, Zumutungen zurückweisen und Veränderungen | |
| im Interesse der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen durchsetzen. Da | |
| wächst etwas. Gleichzeitig gibt es aber auch immer mehr Befürworter der | |
| geschlossenen Unterbringung. | |
| Und die Politik? | |
| Selbst Mitglieder der Grünen im Bund, in den Ländern und Kommunen, sind | |
| nach der Haasenburgdebatte auf die Idee gekommen, dass die | |
| freiheitsentziehenden Maßnahmen nun gesetzlich geregelt werden müssten. Das | |
| ist eine Katastrophe. Diese Leute sagen, die freiheitsentziehenden | |
| Maßnahmen werden missbraucht. Aber: tatsächlich sind diese Maßnahmen selbst | |
| der Missbrauch. | |
| Würde es helfen, die Jugendhilfe zu verstaatlichen? | |
| Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wesentliche Innovationen in der | |
| sozialen Arbeit nur im außerstaatlichen Bereich möglich waren. Ich war 25 | |
| Jahre in der Praxis, bevor ich Professor wurde, und in dieser Zeit habe ich | |
| nur in alternativen Projekten gearbeitet, die, bis auf zwei Ausnahmen, bei | |
| freien Trägern und Initiativen möglich waren. Im Prinzip halte ich die in | |
| Deutschland bestehenden Regelungen für das Verhältnis von Staat und | |
| Verbänden/Initiativen in der sozialen Arbeit für gut. Und in der Kinder- | |
| und Jugendhilfe hat der Staat, das heißt die Jugendämter, die | |
| Landesjugendämter und die zuständigen Ministerien, sowieso die gesetzlich | |
| festgeschriebene Gesamtverantwortung. Er müsste sie nur auch verantwortlich | |
| wahrnehmen. Stattdessen zieht sich der Staat immer mehr aus seinem im | |
| Grundgesetz Art. 6 formulierten „Wächteramt für das Kindeswohl“ zurück u… | |
| überlässt es einem angeblich sich selbst regulierenden Markt der Kinder- | |
| und Jugendhilfe, der stark von Profitinteressen bestimmt wird und so | |
| Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu Objekten von Marktstrategien | |
| macht. | |
| 3 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
| Kai Schlieter | |
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