# taz.de -- Konferenz der Straßenkinder: Auf der Straße braucht man Geld | |
> Ein halbes Jahr lang war Niels obdachlos. Nun bereitet er einen Kongress | |
> für die Rechte von Straßenkindern vor. Denn es muss sich was ändern. | |
Bild: Niels, an der Stresemannstraße in Hamburg Altona | |
Es geht nicht mehr. Er muss weg. Steigt einfach in den Zug, mit nichts als | |
60 Euro und dem defekten Smartphone seiner Tante im Gepäck, und fährt von | |
seinem Heimatort nahe der dänischen Grenze zum Hamburger Hauptbahnhof. Über | |
ein Internetforum hat er angefragt, ob ihn jemand da abholt. Und | |
tatsächlich stehen ein paar Leute am Gleis. Hamburg, hat Niels* gehört, sei | |
eine große und offene Stadt. | |
Schlafen ist erst mal kein Problem. Er findet einen Platz, auf dem im | |
Sommer 2013 sechs kleine Hütten und ein paar Zelte stehen. Die Fläche liegt | |
brach, weil ein Investor hier 300 Wohnungen bauen will. Mehr aus Jux haben | |
Studenten einer WG vor einigen Monaten eine erste Hütte zum „Partyfeiern“ | |
gebaut. Inzwischen leben fast 40 junge Obdachlose hier, „meist aus der | |
Punkerszene“, wie das Stadtteilforum Altona-Nord schreibt. Abends gibt es | |
Lagerfeuer. In einer der Hütten steht ein altes Sofa. | |
Niels fragt, ob es okay ist, wenn er da pennt. Er freundet sich mit dem | |
20-jährigen Fred* an. Morgens nach dem Aufstehen kochen sich einige Kaffee. | |
Niels und sein Freund beginnen den Tag mit Bier. Der Alkohol dämpft die | |
Gefühle. Den Stress, nicht zu wissen, wo das Essen herkommt. Der Platz ist | |
nicht legal. Die Polizei sagt, es sei Landfriedensbruch. Es gibt kein | |
fließend Wasser, keinen Strom, keine Toiletten. Man nutzt ein | |
unverschlossenes Dixie-Klo an einer Baustelle. | |
Und alle gehen schnorren, wer auf der Straße lebt, braucht Geld. Niels | |
raucht Kette und trinkt neben viel Bier auch Schnaps. Er bettelt auf der | |
Straße, stellt sich vor Aldi oder Edeka. 20 Euro am Tag sind das Minimum, | |
was er braucht. Manchmal hat er die Summe nach einer halben Stunde | |
zusammen, manchmal dauert es Stunden. Er nimmt sich was zu lesen mit, setzt | |
sich auf die Decke und stellt einfach den Pappbecher hin. Krimis oder Texte | |
über Anarchie, das Känguru-Manifest, das „Kapital“ von Karl Marx. | |
Durchgelesen und nichts verstanden. Dann noch mal zusammen mit Fred. Der | |
versteht Marx. | |
Niels ist politisch interessiert. In seiner kleinen Stadt gibt es eine | |
Initiative gegen Nazis und gegen Tierquälerei. Da machte er schon mit 13 | |
mit. Nun, mit 17, sucht er auch in Hamburg Kontakt zu Leuten, die | |
interessiert sind wie er. Geht auf Demos, zu Lesungen in die ehemals | |
besetzte „Rote Flora“. Er geht zum „Kids“, einer Hilfseinrichtung für | |
Straßenkinder. Da kann er duschen oder mal im Internet Mails checken. Seine | |
Eltern wissen nicht, wo er ist. | |
## Der schwierige Sohn | |
Er war der schwierige Sohn, der in der Schule nur Probleme hat. Zuerst auf | |
dem Gymnasium, die Lehrer verstehen ihn nicht, mögen ihn nicht. Er lässt | |
sich nichts sagen, muss die 6. Klasse wiederholen. Manchmal geht er auf | |
andere Schüler los. Dann heißt es, er hat ADHS. Der Zwölfjährige schluckt | |
Ritalin. Die Mutter achtet ängstlich darauf, dass er die Tabletten nimmt. | |
Der Wirkstoff verändert ihn. Er kann sich auf die Schulaufgaben | |
konzentrieren. Er ist sehr allein. Verliert Gewicht, kommt wegen Magersucht | |
in die Klinik. | |
Sein Haar ist raspelkurz. Der Rand der schwarzen Kapuzenjacke ist in | |
akkurat gleichen Abständen mit umgeknickten Kronenkorken verziert. | |
Das Ritalin setzt er mit 13 Jahren heimlich ab. Er lernt andere Wege, sich | |
zu beruhigen, hört Musik oder geht spazieren, wenn ein Streit mit den | |
Eltern eskaliert. Es gab viel Streit. Der Stiefvater, ein gelernter | |
Tischler, der in einer Fensterfirma arbeitet, geht jeden Tag nach der | |
Arbeit in den Keller zum Trinken. Die Mutter leidet an Depressionen und ist | |
sehr auf die kleine Schwester fixiert. Ein Familienleben gibt es für Niels | |
nicht. Er wird ein Punk, lässt sich einen 30 Zentimeter langen | |
Irokesen-Schnitt stehen. Wechselt von einer Schule zur anderen und besucht | |
schließlich einen Kurs für Schüler ohne Abschluss. Die Mitschüler schlagen | |
ihn, beleidigen ihn. | |
Zu Hause ist es noch schlimmer. Der Stiefvater rastet aus, als er den | |
Haarschnitt sieht. Niels: „Er schlug mich mit dem Kopf gegen die | |
Küchenwand.“ | |
Bald danach soll der mittlerweile 15-Jährige in eine Jugendwohnung ziehen. | |
Ob er das möchte, fragt keiner. Hier haben junge Erzieher und | |
Sozialpädagogen das Sagen, die ihr Wissen nur aus Büchern kennen, wie Niels | |
findet. Es gibt neun Jugendliche, es gibt 80 Euro Taschengeld. Es gibt | |
strikte Zeiten für alles und Dienste wie Abwaschen, Unkrautzupfen und | |
Rasenmähen. Der Junge nimmt sich seine Freiheiten, geht am Wochenende auf | |
Konzerte. Und jedes Mal, wenn er einen Dienst nicht erfüllt, gibt es | |
Taschengeldabzug. Als kein Geld mehr übrig ist, nehmen sie Niels den | |
Zimmerschlüssel weg. So entfällt die letzte Rückzugsmöglichkeit. | |
Er ruft seine Mutter an. Entweder sie nimmt ihn zurück oder er lebt auf der | |
Straße. Die Familie versucht es noch ein paar Monate. Aber es kommt so oft | |
zu schlimmem Streit, dass der Junge dann doch das Leben auf der Straße | |
vorzieht. | |
Hamburg im Sommer, das ist wie Urlaub. Aber auf Dauer schläft er auf dem | |
Sofa schlecht. Nach zwei Wochen ruft Niels seine Eltern an, teilt ihnen | |
mit, wo er ist, und dass er Geld für ein Zelt und einen Schlafsack braucht. | |
Sie schicken ihm das Kindergeld. Niels kauft ein reduziertes Markenzelt und | |
einen dicken Schlafsack. Auch Freund Fred wohnt im Zelt. Zu zweit ist es | |
wärmer. Aber das Leben auf der Straße bleibt ein nervenraubender Kampf. | |
Zwar finden sich Lösungen, ein Nachbar liefert Strom durch ein Kabel, ein | |
asiatisches Restaurant verschenkt übrig gebliebene Reisgerichte. Doch fast | |
täglich kommt wieder der Polizist vorbei. Eine Stresssituation. Einige | |
Bewohner haben Ärger mit der Justiz. | |
## Es wird langsam kalt | |
Niels merkt, dass sein Körper leidet. Ab und zu versucht er, einen Tag lang | |
nichts zu trinken. Manchmal sprechen ihn Erwachsene beim Schnorren an. Ob | |
er 20 Minuten Zeit hat, sich mit ihnen zu unterhalten? Er bekäme auch sein | |
Geld. Was er im Leben für Ziele hat? Er entwickelt verschiedene | |
Schnorrtechniken. Manchmal sagt er einfach ehrlich, dass er Geld für | |
Alkohol braucht. | |
Am 23. September 2013 befasst sich das Stadtteilforum Altona-Nord mit dem | |
Hüttendorf. Die Bewohner seien freundlich, die Lage auf dem Platz sei aber | |
zu gefährlich, findet ein Politiker. Aus dem Publikum wird nachgefragt, ob | |
man die jungen Leute dort nicht erst mal wohnen lassen könnte, schließlich | |
werde auf dem Platz nicht gebaut. Die Antwort ist nein. Die meisten | |
Platzbewohner seien nicht auf den Ort fixiert, sondern auch für alternative | |
Angebote offen. | |
Es wird November und langsam kalt. Straßensozialarbeiter halten den | |
Kontakt. Es gibt ein Wohnhaus für ehemals obdachlose Punks. Ein WG-Zimmer | |
wird frei, Niels nimmt seinen Freund mit, sodass sie zu viert in einer | |
Dreizimmerwohnung leben. Auch andere Hüttenbewohner setzen durch, dass sie | |
eine feste Bleibe bekommen. Ende Januar löst der Bezirk das ganze Dorf auf. | |
Nun gilt es für Niels, seine Existenz zu sichern. Die Stadt stellt für | |
diese Jugend-WG nur eine lose Betreuung durch Sozialarbeiter. Das findet er | |
gut. Es ist lockerer als in der alten Jugendwohnung, wo er sich von | |
Erziehern rund um die Uhr gegängelt sah. So lernt er Selbstständigkeit. | |
Doch für Miete und Lebensunterhalt braucht er jetzt Hartz VI. Und auch das | |
ist für Jugendliche ein Kampf. Sie müssen begründen, warum sie nicht bei | |
den Eltern leben. Als Niels das erste Mal zum Jobcenter geht, bleibt er | |
stumm und geht wieder. Beim zweiten Mal kommt ein Sozialarbeiter mit, der | |
in passender Sprache vorträgt, in welcher prekären Lage der Junge ist. | |
Seit er ein Zimmer hat, trinkt Niels kaum noch Alkohol. Nur mal ein | |
Feierabendbier. Er hat nach zwei Monaten sein Hartz IV durchgesetzt und ist | |
stolz drauf. Er will aber eine Zukunft mit Familie und richtigem Beruf – | |
vielleicht sogar Sozialpädagoge. Das hat er sich überlegt. Er blüht auf, | |
sieht sich als politisch aktiver Mensch. Im Winter fährt er zu einem | |
Treffen von 15 Straßenkindern, die eine große Konferenz vorbereiten. Dort | |
trifft er 20-Jährige, die sogar seit drei oder vier Jahren auf der Straße | |
leben. Sie entwickeln Forderungen gegen restriktive Pädagogik und Ämter und | |
hoffen auf Gehör in der Gesellschaft. Dass einmal wahrgenommen wird, dass | |
viele junge Menschen auf der Straße sind. | |
Ein Jahr nur, maximal zwei kann der mittlerweile 18-jährige Niels in seinem | |
Zimmer bleiben, dann muss er auf dem Wohnungsmarkt etwas finden. In Hamburg | |
– das weiß er nach über 40 Besichtigungen – haben Leute wie er kaum eine | |
Chance. | |
Es muss sich einiges ändern, findet Niels. | |
9 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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