# taz.de -- Heimerziehung: Systemübergreifend gequält | |
> Die Senatsverwaltung für Bildung stellte einen Bericht über Heimerziehung | |
> in Berlin vor. Entschädigungszahlungen für Ostberliner Opfer bleiben | |
> weiter aus. | |
Bild: Warten immer noch auf Entschädigung: Protest-T-Shirts von ehemaligen Hei… | |
Über die Heimerziehung in Berlin seit 1945 ist wenig bekannt. Akten sind | |
nur begrenzt erhalten - sofern sie überhaupt geführt wurden. Über | |
Misshandlungen in den sowohl öffentlichen als auch kirchlichen Kinder- und | |
Jugendheimen ist lediglich aus Einzelberichten zu erfahren. Eine genaue | |
Zahl derjenigen, die Opfer von sogenannten Besserungsmaßnahmen geworden | |
sind, ist bis heute nicht ermittelbar. Die Senatsverwaltung für Bildung | |
will deshalb mit der Veröffentlichung des Sammelbandes "Heimerziehung in | |
Berlin" eine gesellschaftliche Debatte über dieses dunkle Kapitel der Stadt | |
anstoßen. Ein schwacher Trost dürfte das für Betroffene aus Ostberlin | |
bleiben. Sie warten bis heute auf Entschädigungszahlungen. | |
"Einen ersten Versuch einer Annäherung", so bezeichnete Bildungssenator | |
Jürgen Zöllner (SPD) den am Freitag vorgestellten Band. Der dokumentiert | |
die demütigenden Methoden, mit denen Kinder und Jugendliche in West- und | |
Ostberliner Erziehungsheimen seit 1945 gequält wurden: Dunkelzellen, | |
Strafaktionen, sexueller Missbrauch. Auf über 250 Seiten wird erstmals ein | |
Licht auf einen bislang blinden Fleck der Geschichte Berlins geworfen. | |
Deren Aufarbeitung hat bis heute nur unsystematisch stattgefunden. | |
Zusätzlich kündigte Zöllner die Einrichtung einer Anlaufstelle für | |
Betroffene und weitere Unterstützung bei der Dokumentation und Aufarbeitung | |
des Themas an. | |
Dokumentiert wurden innerhalb eines Jahres unter Beteiligung verschiedener | |
ForscherInnen und ZeitzeugInnen Strukturen, Methoden und Gesetzeslagen, die | |
der Heimerziehung in Berlin zugrunde lagen. In den sieben biografischen | |
Berichten und fünf Beiträgen wird von unmenschlichen | |
Disziplinierungsmaßnahmen und körperlichen Misshandlungen in den Heimen | |
berichtet, die noch lange nach Kriegsende den Alltag vieler Kinder und | |
Jugendlicher prägten - und von staatlichen Behörden passiv geduldet wurden. | |
"Hier ist kein Unterschied in den Erfahrungen der Betroffenen trotz | |
unterschiedlicher politischer Vorzeichen zu machen. Eine Hierarchisierung | |
der Opfer ist da nicht zulässig", erklärte Manfred Koppeler, emeritierter | |
Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Berlin. | |
Und doch wird der Band diesem Anspruch in seiner Gewichtung nicht gerecht. | |
170 Seiten widmen sich der 30-jährigen Geschichte Westberliner | |
Heimerziehung von 1945 bis 1975. Hier werden nicht nur die Zustände in den | |
Heimen beschrieben, sondern auch deren Reformierung unter | |
außerparlamentarischem Druck dargestellt. Auch die Journalistin und spätere | |
RAF-Terroristin Ulrike Meinhof beschäftigte sich mit diesem Thema in ihrem | |
Drehbuch "Bambule" zum gleichnamigen Fernsehfilm von 1970. Diesem | |
umfangreichen Material stehen nur rund 50 Seiten gegenüber, die das | |
Vorgehen der Ostberliner Behörden in 45 Jahren dokumentieren. | |
"Disziplinierung im Kollektiv zur gesellschaftlichen Teilhabe" sei hier die | |
oberste Maxime gewesen, erklärte Karsten Laudien, Professor für | |
theologische Ethik an der Evangelischen Hochschule Berlin, den | |
ideologischen Hintergrund der Heimerziehung in der ehemaligen DDR. | |
In gewissem Maße steht der vorgestellte Band in einer Linie mit der | |
jüngsten Politik des Bundes. Der Bundestag hatte vor kurzem einen | |
120-Millionen-Euro-Entschädigungsfonds für betroffene Heimkinder aus der | |
Bundesrepublik beschlossen. Die ostdeutschen Länder blieben hierbei außen | |
vor. Bildungssenator Zöllner betonte die Notwendigkeit eines ähnlichen | |
Modells für die neuen Bundesländer. | |
5 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Werner Krause | |
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