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# taz.de -- Abzug aus Deutschland 1994: Sehnsucht nach Russland
> Vor zwanzig Jahren verließen die letzten russischen Truppen Deutschland.
> Viele trauern den „Freunden“ noch heute hinterher.
Bild: Abschied von der Spree: Russische Soldaten 1994.
DÖRNITZ/DREWITZ taz | Die Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft,
kurz Straße der DSF, in Dörnitz liegt verwaist. Der Bürgersteig ist
schnurgerade, der Asphalt glänzt und im Haus Nr. 16 findet an diesem
Nachmittag eine kurze feierliche Lesung statt. „Die zehnte
Rotbanner-Garde-Panzerdivision, das einundsechzigste
Rotbanner-Panzerregiment …“
Reinhold Bewersdorf hat sich in den Keller seines Hauses zurückgezogen, hat
schon viel über die Sowjetarmee geredet und liest nun die Namen der
sowjetischen Regimenter und Brigaden, die hier in der Garnison Altengrabow
stationiert waren. Bis zu 60.000 Soldaten, Familienangehörige und
Zivilangestellte lebten hier zwischen Magdeburg und Berlin, in einer Stadt
so groß wie Weimar im Osten Sachsen-Anhalts, versteckt zwischen Kiefern und
Moos.
Bewersdorf, ein hagerer Typ mit schütterem Haar, ist einer der
Organisatoren, die mit Abendveranstaltungen an den Abzug der Russen vor
zwanzig Jahren erinnern. „Ein epochales Ereignis auch im Jerichower Land“,
vermerkt der Handzettel. Im Nachbardorf findet heute Abend das Finale
statt: „Persönliche Erfahrungen und Erlebnisse mit den Mitbürgern aus der
ehemaligen Sowjetunion“ stehen an. Über seine persönlichen Erfahrungen hat
Bewersdorf schon mehr als eine Stunde lang geredet. In einen Jogginganzug
gekleidet, liest er nun die klangvollen Bataillonsnamen, als handelte es
sich um eine Ahnentafel.
Bewersdorfs Erinnerungen sind durchweg positiv. „Wir hatten ein supergutes
Verhältnis zu den Russen“, schwärmt er. „Jeder hat hier profitiert.“ Die
Nähe zu den Russen war von Nutzen. Ob es die immer knappen Kohlen waren,
die man bekam, oder Orangen. „Natürlich die guten.“ Es war eine
segensreiche Zeit, und Reinhold Bewersdorf gestaltete sie nach Kräften mit.
Besonders als er, kaum dreißigjährig, 1983 Dorfbürgermeister wurde. Der
junge Ortsvorsteher belebte die Zusammenarbeit mit den „sowjetischen
Freunden“, organisierte Platzkonzerte mit der Militärkapelle. „Rosamunde
haben die am liebsten gespielt.“
Irgendwann hat Bewersdorf erfahren, dass noch ganz andere musikalische
Schätze in der Kaserne verborgen sind. „Wir haben doch eine Bigband mit
zwei Sängerinnen“, habe ihm ein Kommandeur eröffnet. „Ach, wenn die sich
geschminkt haben, sahen die aus wie Modepuppen.“ Und die Offiziersfrauen!
„Rosenduft und Knoblauchduft.“ Bewersdorf lächelt in sich hin ein. „Ja, …
war so ihre Mentalität.“
Bewersdorf scheint in ein Traumreich versunken. In Vitrinen hinter ihm
liegen DDR- und Sowjet-Embleme beieinander, Medaillen, Orden und Abzeichen.
Ehrendolche, Schützenschnüre, Fahnen, Feldtelefone, Landkarten, Stahlhelme.
An den Wänden hängen Uniformen wie Puppen, Tellermützen obenauf. Der Raum,
der Reinhold Bewersdorf besonders inspiriert, ist eine Mischung aus
Kellerbar und Armeemuseum – und Bewersdorf ist Teil der Schau. Er hat sich
erhoben, weist auf ein Textil. „Meine Uniform.“ Eine silbergraue Montur, am
Ärmel der Schriftzug: „Wach-Rgt. F. Dzier-zynski“. Das Wachregiment war dem
Ministerium für Staatssicherheit unterstellt, entlassen wurde er als
Unterleutnant.
1994 sind die letzten Soldaten von hier abgezogen. „Eine Totenstille ist
das heute“, seufzt Bewersdorf und weist mit der Hand ins Leere. Gleich
hinterm Haus lag ein Sportplatz, daneben waren die Ställe, wo die Schweine
der Garnison gemästet wurden. Wenn Reinhold Bewersdorf über die sowjetische
Garnison spricht, klingt es, als würde er über einen Nachbarn reden, mit
dem er jahrelang alles geteilt hat, der dann aber Hals über Kopf
verschwand. Bis jetzt. Nun sind die Russen wieder da – zumindest in den
Zeitungen und Nachrichten. Und mit ihnen kehrt im Westen die Angst zurück.
## "Putin schafft Fakten - knallhart"
„Angst?“ Bewersdorf ist überrascht. Wer sollte Angst haben vor den Russen?
„Der Pole?“ Bewersdorf, der eben in Erinnerungen schwelgte, ist hellwach.
Die drei Streifen am Jogginganzug wirken plötzlich militärisch. „Der Russe
wird doch nicht in Polen einmarschieren!“ Er tippt sich an die Stirn. Das
Hauptproblem sei der Expansionsdrang der Nato. Aufnahmewünsche hin oder her
– keiner habe das Bündnis gezwungen, die baltischen Staaten aufzunehmen.
Heute gehe es einzig und allein um die Krim. „Die Krim ist der Zugang zum
Meer. Die war immer russisch.“ Jetzt ist sie es wieder.
Höhen und Tiefen habe das russische Volk erlebt. Auch der Abzug vor zwanzig
Jahren war eine Schmach. Die Bundesregierung verabschiedete die russischen
Soldaten abgesondert von den Westalliierten, als wären sie Aussätzige.
Arrogant und unwissend seien die Deutschen aufgetreten, allen voran die
Bundeswehr. Dabei war der russische Truppenabzug allein schon eine
logistische Meisterleistung. Dagegen sei der Abzug der Deutschen aus
Afghanistan ein Kinderspiel. Überhaupt, die Bundeswehr! „Eine komische
Armee“, entfährt es Bewersdorf. Zu allem Überfluss jetzt mit einer
ungedienten Frau an der Spitze. Warum aber hat Russland die ukrainischen
Soldaten auf der Krim aus den Kasernen gejagt wie Räuber? Darauf weiß auch
Bewersdorf keine Antwort. Er nimmt einen Schluck Kräutertee.
Egal, er stehe zu den Russen und zu ihrem Präsidenten. „Ich bin ein großer
Sympathisant von Wladimir Putin“, gesteht Bewersdorf. Die Krim-Annexion
scheint ein Lehrstück. „Was macht Putin?“, fragt er und antwortet
triumphierend: „Er schafft Fakten, knallhart! Und die westliche Welt? Die
schafft keine Fakten.“ Sein Gesicht ist für einen Augenblick mitleidig.
Nun ist Bewersdorf sechzig Jahre alt. Wäre das anders, er wäre fortgezogen
wie Mose. „Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich nach Russland
auswandern“, gesteht Bewersdorf. War er denn schon mal dort? Ja, einmal,
vor vielen Jahren, in Moskau und Leningrad. Öfter nicht. Warum auch? „Wir
hatten hier ja unser Russland.“
## Wahre Freundschaft
„Steh auf, steh auf, Du Riesenland! Heraus zur großen Schlacht! Den
Nazihorden Widerstand! Tod der Faschistenmacht!“ Die alte Fronthymne
erschallt, die Jugendfeuerwehr zieht, als Sowjetsoldaten verkleidet, ein
und nimmt unter einer roten Fahne mit Leninporträt Aufstellung. Reinhold
Bewersdorf ist am Abend nicht ins Nachbardorf Drewitz gefahren. Seine
Gesundheit ist angeschlagen. Ein bisschen ist er auch verstimmt über die
Veranstaltung der Vorwoche. Ein Oberstleutnant a. D. der Bundeswehr hatte
die Frechheit besessen, zu sagen, er sei froh, dass die Russen fort sind.
Das Missfallen war erheblich.
Widerworte muss heute niemand befürchten. Gut hundert, meist ältere Gäste
sitzen erwartungsvoll an Tischen. „Wir sind mit den Freunden aufgewachsen,
und die sind mit den Amis aufgewachsen! Die kannten das gar nicht!“, ein
ehemaliger NVA-Offizier klopft das Weltbild wieder zurecht. Die Bundeswehr
hat heute überhaupt einen schweren Stand, und je länger sich der Abend
hinzieht, umso leuchtender schält sich das Bild einer wahrhaft
deutsch-sowjetischen Freundschaft heraus.
## Beamtenseelen vom Bund
Die Zeitzeugen, einstige Funktionsträger, viele – wenn nicht alle –
ehemalige SED-Genossen, scheinen sich übertreffen zu wollen mit ihren
Lobpreisungen von heroischen Ernteeinsätzen, kleinen Gefälligkeiten und
wahrer Freundschaft. Fast klingt es so, als wünschte man sich die Russen
zurück – einfache gradlinige Menschen, die nicht lange fackeln, die
gutherzig sind, unkompliziert und allen selbstlos helfen. Nicht so wie
diese Beamtenseelen von der Bundeswehr, die nicht in der Lage oder nicht
willens sind, mit einem Räumpanzer fix die schneeverwehte Straße
freizumachen, die Dienstvorschriften und Gesetze hochhalten und sich um die
Dorfgemeinschaft nicht kümmern.
Ein ehemaliger Produktionsleiter zollt den sowjetischen Offiziersfrauen,
die in seiner LPG gelegentlich bei der Kartoffelernte ausgeholfen haben,
„hohe Anerkennung bei der Sortierleistung“. Es klingt wie auf einer
Parteiversammlung. „Die Freunde, ich muss diese Wort sagen, und wir, wir
haben uns zusammengeschweißt“, ruft der Mann ins Mikrofon. „Für uns war d…
Anrede immer ’die Freunde’. ’Russen’ hatte einen negativen Klang“, er…
sich ein anderer.
„Die Freunde“ – das arglose Wort hatte bis 1989 meist einen ironischen, o…
sarkastischen, zumindest einen distanzierten Klang, wenn es um Russen ging.
Dieser Unterton ist wie weggeblasen. Es wirkt, als ob der „unverbrüchliche
Bruderbund“ jetzt, wo Moskau wieder Macht und Größe demonstriert, ganz
wunderbare neue Blüten treibt.
Einer der Zeugen erzählt immerhin, wie ein Soldat am Kasernentor vor
versammelter Mannschaft mit Koppel und Kochgeschirr vom Offizier
zusammengeschlagen wurde. „Es hat mich wirklich entsetzt“, räumt er
betroffen ein, fügt aber sachlich an: „Ich weiß natürlich nicht, was der
ausgefressen hat.“ 80 Prozent der Menschen hier würden bedauern, dass die
Russen weg sind, hatte Reinhold Bewersdorf am Nachmittag behauptet. Das war
eine Untertreibung.
Vielleicht hätte man noch ein, zwei andere Zeitzeugen einladen sollen. Eine
Verkäuferin aus der Kreisstadt. Sie hätte erzählen können, wie der Ansturm
der Offiziersfrauen auf das schmale Warenangebot regelmäßig zu Spannungen
mit deutschen Frauen führte. Oder einen Hausbesitzer, dessen Hauswände ein
ums andere Mal von sowjetischen Lkws eingedrückt wurden. Immerhin, auch
drei „Freunde“ sind angereist. Ein Major hat in Altengrabow gedient und
erzählt, Ausflüge nach Magdeburg gab es nur im Kollektiv und unter Führung
des KGB. Deswegen habe er sehr wenig vom Land gesehen, bedauert er. Geiseln
wären alle im Falle eines Krieges gewesen, Russen wie Deutsche. Von
Freundschaften berichtet er nichts. Überhaupt scheint er ein wenig
verwundert über so viel Zuneigung.
10 Apr 2014
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
Russland
Konversion
DDR
DDR
Bundeswehr
Schwerpunkt AfD
Gerhard Schröder
Russland
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