| # taz.de -- Konflikt um die ukrainische Halbinsel: Sehnsucht nach der Krim | |
| > Warum ist die Krim so beliebt? Fürsten, Zaren und Künstler entdeckten | |
| > dort einst einen Hauch von Orient. Geblieben ist nur der Mythos. | |
| Bild: Lädt zum Träumen ein: Badeabend auf der Krim. | |
| Die Sektlieferung kam aus Russland. Ein Fürst hatte sie nach Paris | |
| mitgebracht. Die Franzosen rümpften die Nase. Wie absurd! Gab es dort | |
| überhaupt Rebstöcke? Das änderte sich, als sie die ersten Flaschen geleert | |
| hatten. Das Urteil der Experten war eindeutig: Diesem Sekt gebührt der | |
| Grand Prix. Die Weltausstellung von 1899 hatte ihre Sensation: Der | |
| Champagner war entthront. | |
| Fürst Lew Golitzyn studierte in jungen Jahren an der Sorbonne, genoss | |
| Savoir-vivre und machte später in St. Petersburg Karriere. Auf der Krim | |
| kaufte er sich ein Gut und experimentierte mit der Sektherstellung. Landgut | |
| und Sekt trugen den Namen „Novyj Svet“, zu deutsch: Neue Welt. | |
| Und es war eine neue Welt, die Katharina II. 1783 für Russland annektierte. | |
| Taurien, wie die Zarin den südlichen Zipfel nannte, war der schönste | |
| Edelstein in der Krone. Mit ihren schroff ins Meer abfallenden grünen | |
| Bergen, ihrer subtropischen Küste und ihren Palmen war sie eine Attraktion | |
| im kalten Russland. Ein Hauch von Orient wehte nach St. Petersburg. | |
| Von Alexander I. bis Nikolaus II. hatte jeder Zar auf der Halbinsel seine | |
| Residenz und führte im Sommer hier die Regierungsgeschäfte. „Uns allen | |
| blieb die Sehnsucht nach der Krim“, seufzt Nikolaus II. im Dezember 1913 im | |
| verschneiten St. Petersburg. | |
| ## Ein Paradies für Nudisten | |
| Doch nicht nur der Adel fand an der „russischen Riviera“ sein Arkadien. | |
| Auch die Künstler kamen. Puschkin schwärmte als erster. Später suchte Anton | |
| Tschechow dort Linderung von seiner Tuberkulose. | |
| Anarchisch war die Kommune von Maximlian Woloschin. Der Literat und | |
| Kunstkritiker, an Buddhismus und Theosophie interessiert, baute sich im | |
| Dörfchen Koktebel ein seltsames Haus – halb Bungalow, halb Kirche. Es wurde | |
| Adresse freier Geister. Der Dichter Ossip Mandelstam ging ein und aus, die | |
| Schriftsteller Andrej Bely, Michail Bulgakow, Maxim Gorki. Den Schwestern | |
| Marina und Anastasija Zwetajewa waren so angetan, dass sie sich Wohnungen | |
| mieteten. Das freie Leben aber beschränkte sich nicht nur auf Diskussionen. | |
| Am Abend warfen sich alle hüllenlos in die Fluten. Welch ein Skandal! Noch | |
| heute hat Koktebel den längsten FKK-Strand auf der Krim – und ist ein | |
| Paradies für Nudisten. | |
| Sonst ist von der Künstlerkolonie wenig geblieben. Das Jazz-Café Boheme | |
| hält die Fahne hoch. Enver Izmajlow, der Stolz aller Krimtataren, tritt mit | |
| seiner Gitarre regelmäßig auf, spielt die Saiten über den Gitarrenhals und | |
| entlockt dem Instrument ganz fremde, sonderbare Klänge. | |
| ## Wundersame Geschichte | |
| Wirklich freies Leben praktizieren Aussteiger nur noch auf der Gotenfestung | |
| Mangup-Kale unweit von Sewastopol. Sie glauben an besondere Kraftfelder und | |
| zelebrieren esoterische Happenings. | |
| Der verwunschene Ort war nicht immer so harmlos. 1941 hat Erich von | |
| Manstein von dort oben die Belagerung Sewastopols kommandiert. Apropos | |
| Deutsche – 1944 wird eine deutscher Bomber über der Krim abgeschossen. Der | |
| Pilot ist sofort tot, der Funker überlebt – sein Name Joseph Beuys. Beuys | |
| erzählt später die wundersame Geschichte seiner Rettung. Krimtataren hätten | |
| ihn gefunden und mit Fett und Filz kuriert. | |
| Beuys gab die Geschichte gern zum Besten. Sie passte gut zu seinem | |
| künstlerischen Werk. Zu gut. Vierzehn Jahre nach seinem Tod macht sich der | |
| Leipziger Jörg Herold zur Krim auf. Ja, an den Funker könnten sie sich | |
| erinnern, erzählten Alte. Der Deutsche war nur leicht verletzt. Man habe | |
| ihm Fleischkonserven geschenkt, bevor er zu Fuß ins Lazarett aufmachte. | |
| Krimtataren habe es im Dorf aber – mit Ausnahme eines Veterinärs – nicht | |
| gegeben. Die Krim lädt eben zum Träumen ein. | |
| 5 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Gerlach | |
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