# taz.de -- Debatte Zukunft der Krim: Die Abspaltung wäre ein Fehler | |
> Sollte der Westen die Krim den Russen überlassen? Auf keinen Fall. Die | |
> Halbinsel gehört historisch nicht zu Russland, sondern wurde annektiert. | |
Bild: Ein russischer Soldat steht vor einer Karte der Halbinsel. | |
Die Krimtataren sind die einzige wirklich organisierte Kraft in der | |
Autonomen Republik Krim, die eine klare Pro-EU-Position vertreten. Das hat | |
historische Gründe und es ist ihr Dilemma. Denn sowohl die Ukrainer auf der | |
Krim als auch die Mehrheit der russischen Bewohner der Halbinsel halten | |
weder viel von den wechselnden, aber immer unfähigen Regierungen in Kiew | |
noch wollen sie einen Anschluss an Väterchen Zar. Sie möchten einfach | |
weitermachen wie bisher, ökonomisch vorankommen und dafür beide Optionen | |
nutzen: den Handel mit Westeuropa und mit der Russischen Förderation. | |
Bei den rund 300.000 Krimtataren handelt es sich um die autochthone | |
Bevölkerung der Krim und Nachfahren der Turkvölker, die seit dem 6. | |
Jahrhundert die Krim bewohnen. Sie sind Muslime. Davor war die Krim | |
byzantinisch, griechisch und gotisch. Neben den Turkvölkern der | |
Kiptschaken, Chasaren, Kumanen und Tataren gab es Siedlungen der Venezianer | |
und Genuesen. Russen gab es nicht. | |
Wer also argumentiert, die Krim gehöre ja ohnehin zu Russland, ignoriert | |
die historischen Fakten. So auch Philipp Mißfelder, außenpolitischer | |
Sprecher der CDU: „Die geostrategische Frage der Krim ist für Moskau sehr | |
emotional, da es sich historisch um den Kernbereich Russlands handelt“, | |
sagte er unlängst. Doch die Krim ist kein genuiner Teil Russlands, die | |
Halbinsel wurde erst 1783 annektiert. Solche Argumentationen lenken | |
lediglich vom Machtanspruch Moskaus als Nachfolgereich des Sowjetimperiums | |
ab. | |
## Tataren droht Zwangsassimilierung | |
Wer jetzt eine Appeasement-Politik befürwortet, also eine Besetzung der | |
Krim hinnimmt nach dem Motto „Lasst doch den Russen ihre Krim“, der | |
akzeptiert, dass eine der ältesten islamischen Nationen Europas | |
verschwinden wird. Schon heute steht der Minderheit nur ein Institut zur | |
Verfügung, an dem Schulbücher produziert und Lehrer ausgebildet werden | |
können. Besetzen die Russen die Krim, droht den Tataren schlicht der totale | |
Assimilierungszwang. Auch ihre ökonomische Position ist schwach: Da sie | |
nach ihrer Deportation unter Stalin nicht in ihre Häuser zurückkehren | |
konnten, dort wohnten nun Russen und Ukrainer, leben sie bis heute meist in | |
Häusern ohne Wasser, Gas- oder Stromanschluss. | |
Damit aber nicht genug. Wer den Russen die Krim geben will, lässt auch die | |
Tausenden Ukrainer und Russen allein, auch in Russland, die seit | |
Jahrzehnten für Menschenrechte und Demokratisierung streiten. Eine solche | |
Befriedungspolitik erinnert an die Zugeständnisse an Nazi-Deutschland vor | |
dem Einmarsch in die Tschechoslowakei. Lassen EU und die Nato an ihren | |
direkten Grenzen so etwas zu, wären weiteren Aggressionen Tür und Tor | |
geöffnet. Man denke nur an das Vakuum im künftigen Afghanistan oder direkt | |
vor der Haustür der EU in Moldau. | |
Eine Perspektive eröffnen lässt sich daher nur, wenn alle diplomatischen | |
Hebel in Bewegung gesetzt werden, um Versäumtes nachzuholen: Direktkontakt | |
zum Kreml via Krisengruppe, wie von Außenminister Steinmeier vorgeschlagen. | |
Gleichzeitig wäre eine direkte sofortige Präsenz vor Ort notwendig: OSZE, | |
Europarat, EU und UNO sollten sich direkt auf die Krim begeben, ohne Umwege | |
über Kiew. Aber ob das angesichts der militärischen Mobilmachung noch geht? | |
## Kräfte auf der Krim stärken | |
Will man verhindern, dass die Krim ein neues Tschetschenien wird, dann muss | |
man deutlichere Zeichen setzen, als die Außenminister nach Brüssel | |
einzuberufen. Die Ausweisung aller russischen Diplomaten wäre eine mögliche | |
Option. Ein Eingreifen der Nato hingegen ist abwegig, da viel zu | |
gefährlich, man erinnere sich nur an Kosovo und Afghanistan. | |
Zu stärken und massiv zu unterstützen sind in jedem Fall die Kräfte auf der | |
Krim, die eine Zukunft in Europa sehen: Ukrainer, Russen und Krimtataren, | |
Letztere organisiert im Kurultay-Medschlis-System. | |
Was genau ist nun dieser Medschlis? Es handelt sich dabei um | |
basisdemokratisches Netzwerksystem, in dem krimtatarische Dorf- und | |
Stadträte zusammengeschlossen sind, die jeweils den Kurultay abhalten. | |
Dieser Kurultay (tatarisch: Große Versammlung) bestimmt regelmäßig die | |
Abgeordneten des Medschlis, ein uralte tatarische Tradition. Doch auch | |
fünfundzwanzig Jahre nach der massenhaften Rückkehr aus der Stalin’schen | |
Deportation sind diese Institutionen der krimtatarischen Bürgerrechtler | |
leider immer noch nicht als Selbstbestimmungsorgane in der Ukraine | |
anerkannt. Einen Status wie etwa die Domowina der Sorben in Deutschland | |
wurde dem Medschlis bisher verwehrt. | |
## Zur Kritik an den Tataren | |
Und die immer wieder kritisierte Kollaboration der Krimtataren mit der | |
Wehrmacht? Es ist richtig: Genau wie unzählige Russen, Ukrainer, | |
Weißrussen, Turkestaner und Kosaken kämpften auch einige tausend | |
Krimtataren in der Wehrmacht. Verwundern kann das nicht, angesichts der | |
harrschen Repression unter dem Stalin’schen Sowjetregime, das mit einem | |
System aus Lagern (Gulag), Deportationen, Exekutionen und Schauprozessen | |
(Roter Terror) sowie gezieltem Verhungernlassen von Millionen Menschen | |
(Holodomor genannt – vor allem auf dem Gebiet der heutigen Ukraine) eine | |
Terrorherrschaft installiert hatte. | |
Die Mehrheit der Krimtataren, Russen und Ukrainer kämpften trotzdem in der | |
Sowjetarmee gegen die deutschen Aggressoren. Gedankt wurde es ihnen nicht: | |
1944 wurden die Krimtataren in Viehwaggons komplett nach Mittelasien, | |
Sibirien und den Ural deportiert. Auch die heimkehrenden Sowjetsoldaten | |
krimtatarischer Nationalität wurden ihren Verwandten gleich deportiert. | |
Fast die Hälfte der Tataren starb auf dem Transport und in den | |
Deportationsorten an katastrophalen Gesundheits- und | |
Versorgungsbedingungen. | |
Um ihrer prekären Situation etwas entgegenzuhalten, setzen die Krimtataren | |
schon seit Jahren auf die europäische Öffentlichkeit und suchen Kontakte | |
zur EU. Schon 2010 sprach – auf Einladung des litauischen Abgeordneten des | |
Europaparlaments Leonidas Donskis – der damalige Präsident des | |
krimtatarischen Nationalrats aus der Ukraine im Europäischen Parlament in | |
Brüssel. Doch fast niemand kam. Das europäische Desinteresse ist | |
symptomatisch und fällt der EU nun auf die Füße. | |
4 Mar 2014 | |
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