# taz.de -- Tataren in Polen: Im polnischen Orient | |
> Ihr Arabisch hat einen polnischen Akzent, das geben sie gern zu. Doch die | |
> 5.000 Tataren im christlichen Polen sind stolze Muslime. | |
Bild: Fast scheint es eine orthodoxe Kirche zu sein – doch es ist die Moschee… | |
BIALYSTOK/KRUSZYNIANY taz | Wenn in Ostpolens Metropole Bialystok der Tag | |
anbricht, taucht aus dem Nebel ein Palast wie aus Tausendundeiner Nacht | |
auf. An einem der Fenster scheint Scheherazade zu stehen, die schöne | |
Märchenerzählerin aus dem alten Persien. Wesire und Mundschenke scheinen | |
vorbeizuhuschen, doch dann ist es nicht Ali Baba, der mit einer kurzen | |
Handbewegung die Fata Morgana vertreibt, sondern der tatarische Historiker | |
Aleksander Miskiewicz. | |
„Bialystok ist die Hauptstadt der polnischen Tataren“, doziert der | |
68-jährige. „Wir sind die Nachkommen von Dschingis Khan. Der ,Palast' | |
sollte unser neues Kulturzentrum werden.“ Doch der Schein trügt, das | |
Kulturzentrum der Tataren erhielt nie Dach und Türen. Er ist eine Bauruine. | |
Knapp 5.000 Tataren leben in Polen. Gerufen hatte sie vor sechs | |
Jahrhunderten der polnisch-litauische Großfürst Witold. Die Reiter aus der | |
Steppe sollten bei der Vertreibung der Deutschordens-Ritter helfen. Später | |
besiegten sie mit König Jan III. Sobieski die Türken vor Wien. Zum Lohn | |
erhielten die meist zur tatarischen Aristokratie gehörenden Kämpfer Land in | |
Ostpolen und Litauen, durften ihren Glauben behalten und christliche Frauen | |
heiraten. | |
„Reich ist kaum einer von uns geworden“, stellt Miskiewicz belustigt fest. | |
„Was nutzte das schönste Land, wenn man keine christlichen Bauern und | |
Tagelöhner beschäftigen durfte?“ Aber das sei lange her, winkt er ab. Viele | |
Tataren haben später das Land verkauft, den Dienst an der Waffe quittiert | |
und zivile Berufe ergriffen | |
Im Vergleich zu der Bauruine wirkt das alte Kulturzentrum winzig. Wie | |
verloren steht das dunkelbraune Holzhaus zwischen riesigen Wohnsilos und | |
Kirchen, katholischen wie orthodoxen. Nur ein Metallschild weist darauf | |
hin, dass hier der „Orient Podlachiens“ beginnt. Wie in jeder Moschee | |
bleiben Schuhe im Vorraum. In Strümpfen geht es in den Betsaal, der zwar | |
klein, doch mit allem ausgestattet ist, was eine Moschee ausmacht. Der | |
Boden ist mit Teppichen bedeckt, die Gebetsnische weist Richtung Mekka und | |
vom Lehrstuhl mit dem goldenem Halbmond hält der Imam seine Predigten. | |
Im Nebenzimmer sitzen außer dem Historiker Aleksander Miskiewicz, Halima | |
Szahidewicz, 77 Jahre alt und die Chefin des Jugend-Tanzensembles Bunczuk, | |
der 59 Jahre alte Jan Adamowicz, Vorsitzender des Tatarenverbandes in Polen | |
und der 44 Jahre alte Krzysztof Mucharski, der die Tataren im ostpolnischen | |
Podlachien vertritt. | |
Die Stimmung ist bedrückt. Denn ausgerechnet unter der | |
liberal-konservativen Regierung von Donald Tusk hat sich die Lage der | |
muslimischen Minderheit in Polen verschlechtert. 2013 verbot der Sejm, das | |
polnische Parlament, die Schlachtung von Tieren nach Halal-Regeln und | |
stellte den Tierschutz über das Recht auf freie Religionsausübung. | |
## ,Tierschutz-Kommissare' stören das Opferfest | |
Zum ersten Mal in der Geschichte der polnischen Tataren störten | |
selbsternannte ,Tierschutz-Kommissare' das Opferfest, das höchste | |
islamische Fest. In Bialystok und Danzig wurden Brandanschläge auf das | |
islamische Kulturzentrum, die Moschee und Wohnungen von Muslimen verübt. | |
„Unter uns Jungen diskutieren wir ganz offen, ob es nicht besser wäre, | |
Polen zu verlassen und unser Glück in den USA oder in Kanada zu suchen,“ | |
sagt Krzysztof Mucharski. Doch ihn bedrückt vor allem der drohende Verlust | |
der kulturellen Identität. „Wir müssen mehr tun, um die Jugend zu halten“, | |
fordert er. Halima Szahidewicz nickt. | |
Die weißhaarige Dame gründete das Folkloreensemble auf ausdrücklichem | |
Wunsch der Jugendlichen. „Die Kinder wollen das Tatarentum in ihrem Herzen | |
spüren“, sagt sie etwas pathetisch. „Sie wollen tatarisch tanzen, singen | |
und sprechen.“ Der Islam alleine mache aus ihnen noch keine Tataren. | |
## „Wir sind Polen und Tataren“ | |
Doch auch mit der Folklore ist es nicht getan. „Die meisten von uns haben | |
eine Doppelidentität. Wir sind Polen und Tataren“, erklärt Jan Adamowicz. | |
„Über die Jahrhunderte haben wir unsere Sprache verloren, unsere Trachten | |
und Traditionen. Das müssen wir wiederbeleben, sonst verlieren wir die | |
Jugend.“ | |
Es geht um Dinge wie den Spracherwerb, denn in den tatarischen Familien | |
wird heute polnisch gesprochen. Und welches Tatarisch sollen sie lernen? | |
Schließlich sind die Tataren über viele Länder verstreut und sprechen viele | |
Dialekte. Weitaus mehr Tataren als in Polen leben im benachbarten | |
Weißrussland und Litauen, nicht zu vergessen die über 200.000 Krimtataren | |
auf der Halbinsel Krim. | |
„Wir haben uns für das Kasan-Tatarisch entschieden, die Hochsprache“, | |
erläutert Halima Szahidewicz. Die Nachricht, dass die EU Gelder für ein | |
Kulturzentrum im Tatarendorf Kruszyniany bereitstellen wird, beflügelt die | |
Runde. „Jetzt muss nur noch der Mufti entscheiden, was aus unserer Bauruine | |
werden soll“, grummelt der Historiker. | |
## Tatarische Neuigkeiten | |
Am nächsten Morgen macht sich Dariusz Szada-Borzyszkowski auf den Weg in | |
die Tatarendörfer an der weißrussischen Grenze. Seit Jahren produziert er | |
einmal im Monat das Magazin „Tatarische Neuigkeiten“ für das | |
Regionalfernsehen TVP Bialystok. Regelmäßig fährt er die zwölf Orte des | |
Tatarenpfades ab, plaudert über Gott und die Welt, erfährt Klatsch und | |
manche wichtige Nachricht. | |
Kruszyniany besteht aus einer einzigen langen Straße, an der solide | |
wirkende Holzhäuser stehen. Mitten im Ort fällt ein grün gestrichenes | |
Gotteshaus auf, das wegen seiner Zwiebeltürmchen wirkt wie eine orthodoxe | |
Kirche. Doch das für den Islam typische Grün und die goldenen Halbmonde auf | |
den Kuppelspitzen stören dieses Bild. | |
Dzemil Gembicki, der aussieht, als würde er sich gleich in einen Reiter mit | |
Pfeil und Bogen verwandeln und davongaloppieren, lacht. Der | |
Computerspezialist kümmert sich hier um die kleine Holz-Moschee und den | |
Misar, den islamischen Waldfriedhof. | |
## Drei tatarische Familien | |
„Im ganzen Dorf wohnen heute nur noch drei tatarische Familien - die | |
Bogdanowiczs, Chaleckis und die Gembickis“, erzählt er. Die anderen knapp | |
30 Familien seien katholische Polen und orthodoxe Weißrussen. „Aber das | |
Herz eines jeden polnischen Tataren schlägt in Kruszyniany - egal ob er in | |
Danzig lebt, in Posen oder Warschau! Zu den großen Festen kommen alle | |
hierher.“ | |
Er schließt die Moschee auf. Dann öffnet er die leicht knarzende Tür, ein | |
sonnendurchfluteter Raum in den Farben Rot, Braun und Grün öffnet sich. Die | |
Wände sind mit arabischen Kalligraphien, Ornamenten und gestickten Bildern | |
bedeckt. Die meisten Gläubigen der 85 Seelen zählenden Gemeinde wohnen in | |
Bialystok. „Theoretisch sollen die Frauen abgetrennt von den Männern beten. | |
Aber hier in der Gegend ist es oft so kalt, dass die Empore leer bleibt und | |
die Frauen hinter den Männern beten.“ Gembicki lacht wieder. „Unser | |
Arabisch hat auch einen ziemlich starken polnischen Akzent. Wir sind eben | |
Europäer und keine Araber.“ | |
Auf dem Weg zur „Tatarischen Jurte“ amüsiert er sich über das Unwissen | |
vieler, die bei den Worten ,Tatare' und ,Muslim' nur an Raubzüge und | |
Terrorismus denken. Für einen Moment wird er ernst. „Die Perspektive, sich | |
ein ganzes Leben lang erklären und verteidigen zu müssen, ist für die | |
Jungen unter uns wenig attraktiv. Wer nicht sehr heimat- und | |
familienverbunden ist, verlässt Polen.“ | |
Dariusz Szada-Borzyszkowski ist heute ohne Kamera unterwegs. Er sitzt | |
bereits in der der Taverne und lässt sich Pierekaczewnik schmecken - eine | |
Blätterteigpastete mit Lammfleischfüllung. Dzenneta Bogdanowicz managt das | |
Familienunternehmen ,Tatarische Jurte', das mit dem Sommerfest ,Sabantuj' | |
weit bekannt ist. Neben der rustikalen Taverne stehen Gästehäuser und eine | |
echte Jurte. Pferde grasen. | |
## Prinz Charles war hier | |
Die Tatarin mit dem blonden Kurzhaarschopf plant schon das nächste große | |
Fest, sein Motto: ,Tataren und die Armee'. 2013 kamen knapp 6.000 Gäste. | |
„Das hat uns dann doch ein bisschen überfordert. Die Leute müssen ja alle | |
verpflegt und unterhalten werden.“ | |
Im Hintergrund läuft auf einem Bildschirm ein Dokumentarfilm mit Prinz | |
Charles. 2010 hatte der britische Thronfolger das Dorf besucht. Plötzlich | |
unterbricht das Video für die Nachrichten. Alle horchen auf, als es heißt: | |
„Die Koranschule in Bialystok kann gesprengt werden.“ Auf dem Bildschirm | |
erscheint der ,Palast aus Tausendundeiner Nacht'. Dann erfüllt die Stimme | |
des Mufti Tomasz Miskiewicz den Raum: „1989 haben wir mit dem Bau begonnen, | |
1997 mussten wir einen einen Baustopp einlegen.“ Nach 17 Jahren müsse die | |
Ruine aufgegeben werden. | |
Dzenneta Bogdanowicz, Dzemil Gembicki und Dariusz Szada-Borzyszkowskisz | |
sind für einen Moment sprachlos. Dann findet, Dariusz | |
Szada-Borzyszkowskisz, der Mann vom Fernsehen, das erlösende Wort: „Eine | |
kluge Entscheidung!“ | |
5 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Lesser | |
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