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# taz.de -- 25 Jahre Stasi-Aufklärung: Das Schweigen der Ärzte
> Schwestern horchen Patienten aus. Mediziner bespitzeln Kollegen. Ulrich
> Mielke dokumentiert solche Fälle. Nun läuft ihm die Zeit davon.
Bild: Die DDR steckt im Gemäuer und in den Akten, die Ulrich Mielke im Keller …
MAGDEBURG taz | Ein Urologe aus Schönebeck ist heute der Ruchloseste, von
dessen Treiben Ulrich Mielke berichten wird. Mielke sitzt hinter einem
Tischchen, hält ein Mikrofon in der Hand, vor sich rund hundert Zuhörer,
von denen manche schon wie auf Kohlen hocken, um kein Wörtchen dieser
beklemmenden Vorlesung zu verpassen.
Im September 1987 wandte sich ein Stasi-Leutnant mit einem Anliegen an den
Chef der Urologie im Kreiskrankenhaus Schönebeck, ein IM, ein inoffizieller
Stasi-Mitarbeiter, der den Decknamen „Peter Müller“ trug. Wie könne man b…
einem Patienten diskret Taschen und Kleidung inspizieren? Insbesondere sei
man an Abdrücken der Wohnungsschlüssel interessiert. Könnte „Müller“ den
Mann nicht zu einer urologischen Untersuchung einbestellen? Wenn sich
dieser dann der Prozedur unterzöge, ließen sich die Sachen doch
durchsuchen?
„Müller“, ein junger Genosse, warf ein, ein solcher Check dauere fünf,
maximal zehn Minuten – zu kurz für eine ordentliche Durchsuchung. Sein
Vorschlag: den Mann anschließend zum Röntgen zu schicken. Dann wäre
ausreichend Zeit. Im November meldete der Leutnant Vollzug: „Müller“ habe
„entsprechend seiner Instruierung“ gehandelt.
Ein Raunen geht durch die Menge. Und es wird noch heftiger. Mielke fährt
fort: Als der Abdruck der Schlüssel misslingt, bietet „Müller“ an, den Ma…
erneut röntgen zu lassen. Doch die Stasi lehnt ab. Es ist wie Geisterstunde
am frühen Abend. 53 Fälle von Inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern aus dem
Gesundheitswesen in zwei DDR-Kreisen, von der Gemeindeschwester bis zum
Kreisarzt, hat Mielke gefunden und stellt nun ausgewählte Beispiele vor.
Doch die Geister sind nicht vergangen. Noch lange nicht.
Ihre Handschrift ist in Mielkes 600 Seiten starkem Dokumentenband zu
studieren. Jedes Faksimile beginnt hymnisch: „Ich verpflichte mich, alle
meine Kräfte und Fähigkeiten einzusetzen, meine Möglichkeiten zu nutzen, um
die ehrenvolle Aufgabe eines Inoffiziellen Mitarbeiters des MfS zu
erfüllen.“ Es klingt wie das Glaubensbekenntnis an eine höhere Macht. Und
dann: Wahl des Decknamen, Ort, Datum, Unterschrift. „Peter Müller“ hat eine
fahrige Handschrift.
## In zu viele Abgründe geblickt
Wer will, kann sie heute auf Überweisungen wiederfinden. „Müller“,
inzwischen 61 Jahre alt, praktiziert als Facharzt für Urologie in
Schönebeck. Ulrich Mielke hat zu viele Akten gewälzt, hat in zu viele
Abgründe geblickt, hat Verrat im Dutzend dokumentiert, als dass er noch die
Beherrschung verlöre. Er hält sich mit Bemerkungen zurück, doch bei
„Müller“ muss er was loswerden. „Das ist Körperverletzung, meine Damen …
Herren!“
Mielke schreitet zügig durch den Abgrund. Manche Zuschauer sitzen nur noch
auf der Stuhlkante, Ehepaare fassen sich an die Hände. Mielke nennt Namen,
Klarnamen – Ärzte, Kollegen, Nachbarn. Es ist wie ein Reinigungsritual, das
Mielke im alten Stasi-Knast veranstaltet, wenn er einen weiteren Band
seiner schier endlosen Recherche vorstellt. Thema seit Jahren:
„Inoffizielle Mitarbeiter aus dem gesundheits- und Sozialwesen des Bezirks
Magdeburg“.
„Zwanzig Jahre, zwanzig Hefte“, sagt Mielke leise. „Zwanzig Jahre und die
Geschichte des Gesundheitswesens im Bezirk Magdeburg ist immer noch nicht
aufgearbeitet.“ An Mielke, einem Mann mit weißem Haar und ernstem Gesicht,
liegt das nicht. „Als ich anfing, war ich 55 Jahre alt, jetzt bin ich 75.“
Immer wieder macht er eine Pause. „Es ist verrückt!“, ruft er plötzlich in
den Saal, wo daumendicke Gitterstäbe vor den Fenstern hängen. Das
Bürgerkomitee Magdeburg hat in das Hauptgebäude des ehemaligen Stasi-Knasts
geladen, der heute eine Gedenkstätte ist. Es scheint ein verwunschener,
verfluchter Ort. Hier bleiben die Gedanken wie von selbst am Gestern
kleben. Das Linoleum, die Ölfarbe, das Neonlicht, die Luft in den Fluren –
alles scheinen unsichtbare Stasi-Chargen getreten, befingert, geatmet zu
haben. Die schwere Gittertür, wenn sie ins Schloss fällt, krächzt ihr altes
eisernes Lied. Die DDR steckt wie Feuchtigkeit im Gemäuer. Nur die
Toiletten sind erneuert.
## Eine Art Gesellschaftshygieniker
Einmal im Jahr, nur einmal, geht Mielke hier an die Öffentlichkeit. Heute
sind die ehemaligen Kreise Schönebeck und Staßfurt an der Reihe. Mielke
schaut immer wieder ins Publikum, als suche er Halt, und findet doch nur
Fassungslosigkeit. Kreis für Kreis nimmt der promovierte Biologe und
Hygieniker, der 39 Jahre im größten Krankenhaus des Bezirks, der
Medizinischen Akademie Magdeburg, gearbeitet hat, unter sein Mikroskop.
Mielke könnte auch über Krankenhauskeime referieren, aber er hat sich ganz
auf die gesellschaftliche Hygiene verlegt.
Mielke redet frei. Die Vorgänge, die Klarnamen, die Decknamen, die
Führungsoffiziere – Mielke hat sie alle im Kopf. IM „Peter Müller“ ist
weder ein Einzelfall noch ist er besonders perfide. Was ihn unterscheidet,
ist seine spezielle Art von Kreativität. Doch ist der Fall von IM „Karl“
harmloser?
Der Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten hat schon 1973 vom
Ministerium für Staatssicherheit die „Medaille für treue Dienste“ in Silb…
erhalten. Als Mielke seinen Klarnamen nennt, flüstert ein Zuhörer: „Der hat
mich nach Schönebeck geholt.“ Mehr als zwanzig Jahre berichtete „Karl“ d…
Stasi regelmäßig über „HWG-Personen“. HWG – das Stasi-Kürzel für „…
wechselnder Geschlechtsverkehr“. So meldete „Karl“ eine Patientin, die
„sehr stark geschlechtlich veranlagt ist und deswegen sehr viele
Männerbekanntschaften schließt. Zurzeit ist sie an Tripper erkrankt.“
## „Abgrundtief verkommen“
„Karl“ intensiviert bald seine Arbeit. „Der IM erarbeitet monatlich eine
Übersicht über alle geschlechtskranken Personen des Kreises Schönebeck
einschließlich der von ihnen angegebenen Kontaktpersonen“, notiert sein
Führungsoffizier 1983. Der letzte Treff fand am 8. September 1989 statt.
„Abgrundtief bis zur letzten Zelle seines Knochenmarks verkommen!“ Auch
beim Fall „Karl“ bricht es aus Mielke heraus. Noch weit über das Jahr 2000
hinaus hat der Facharzt in Schönebeck gewirkt.
Es geht Mielke nicht nur um die Enttarnung von IM, es geht um den Aufbau
und die Arbeitsweise der Maschine Stasi, um die Zahnräder und Rädchen, um
die Kanäle, um die Hebel, ihre Ziele und Verheerungen: die Ärzte, die
Kollegen ausspitzeln. Die Gemeindeschwester, die sich beim Blutdruckmessen
nebenbei nach der Familie erkundigt. Die Medizinstudenten, die Kommilitonen
ins Zuchthaus brachten. Und es geht um Patientenverrat.
Zwanzig Jahre Stasi-Aufarbeitung – es gibt angenehmere Beschäftigungen für
einen 75-Jährigen. „Ob es nicht meine Seele beschädigt hat?“, fragt Mielk…
„Ich glaube nicht.“ Er hält inne. „Mehr haben mich die Fälle beflügelt…
ich nicht aufklären konnte.“ Dazu gehöre die Suche nach IM „Karl Rose“,…
er seit 15 Jahren enttarnen will. Dazu gehört auch das Schweigen der Ärzte.
Auf der Suche nach „Rose“ sprach Mielke zwei Mediziner an, ehemalige IM,
die von diesem geführt worden waren. Der Allgemeinmediziner wollte sich
nicht erinnern. Der Chirurg war offener. „Er sagte mir, es könne ja wieder
anders kommen und dann will er nicht an die Wand gestellt werden.“
## Vorwort von Roland Jahn
Elf ehemalige Kreise hat Mielke bisher untersucht, dazu einige
Krankenhäuser. Sechs Kreise und die Stadt Magdeburg stehen noch an. Bisher
sind neunzehn Forschungshefte erschienen. Das zwanzigste liegt auf dem
Tisch. Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, hat das
Geleitwort verfasst. Man spürt, dass Mielke diese Anerkennung wichtig ist.
Ehrungen aber – Verdienstmedaillen, Orden, Ehrenzeichen – lehnt er ab. Nur
keine Abhängigkeiten schaffen, auch keine angenehmen.
Die DDR hatte einschließlich Ostberlins 15 Bezirke. Das waren 15
Gesundheitswesen, die 189 Kreise unter sich hatten, mit
Kreiskrankenhäusern, Polikliniken, Landambulatorien, Laboren,
Gemeindeschwesternstationen. Ulrich Mielke ist der Einzige, der einen
ganzen Bezirk untersucht. 14 stehen noch aus. Warum gerade er?
Wochen später steht Mielke wieder in den alten Stasi-Fluren. Er führt in
die kleine Bibliothek des Bürgerkomitees. Es gäbe genügend Gründe
aufzuhören. Die Drohanrufe in der Nacht: Du machst nicht mehr lange! Die
Anrufe bei der Tochter: Wann wird der Vater endlich aus dem Verkehr
gezogen? Dann die Bestellungen für Münzsammlungen, die Reisebuchungen und
Rechnungen, die ihm unversehens zugeschickt werden.
## KGB und Stasi
Fragt man Mielke nach seinen Motiven, muss er viele Schichten
beiseiteräumen. Irgendwann schimmert seine Kindheit in Hinterpommern durch.
Der Großvater 1945 vor seinen Augen erschossen, die Cousinen vergiftet, der
Vertriebenentransport im Viehwaggon, die erschlagenen Kinder, der Typhus.
Keine Frage, Hitlerdeutschland hat Europa mit einem grausamen Krieg
überzogen. „Aber wir haben bitter bezahlt“, sagt Mielke kaum hörbar. Keine
Spur mehr von Nüchternheit. Der Großteil der Familie, die Freunde – „alles
ausgelöscht“, das Jahr 1945, die Nachkriegszeit, der Terror der Sieger.
„Wenn sie mich nach meinen persönlichen Motiven fragen, dann das.“ Manche
meinten, es sei weit hergeholt. „Nein!“, sagt Mielke entschieden. „Der KGB
war es, der die Stasi aufgebaut hat.“ Und dann komme das medizinhistorische
Interesse hinzu, fährt er, wieder ruhiger, fort.
Manchmal klingt bei Mielke Skepsis durch, ob er seine Recherche noch wird
abschließen können. Die Arbeit der Außenstellen der Stasi-Unterlagenbehörde
wird reduziert, die Bereitstellung der Akten dauert länger. Die Zeit läuft
davon. Zwei Mitstreiter sind gestorben.
Zum Schluss führt die Leiterin der Stasi-Gedenkstätte in den Keller, öffnet
eine Kammer, wo sich auf einem Regal die Ordner reihen. „Hier, das sind
alles Ihre Akten“, sagt sie anerkennend. „Wollen Sie noch mal ran?“ Mielke
hebt abwehrend die Hände. „Um Gottes willen! Nicht noch mal!“
4 Dec 2014
## AUTOREN
Thomas Gerlach
## TAGS
DDR
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