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# taz.de -- Stasi-Literatur: Welt am Draht
> Man kann nun Telefonate zwischen DDR-Oppositionellen nachlesen. Das Buch
> beinhaltet 150 belauschte Gespräche.
Bild: Stasi-Unterlagen wie diese wurden für das 2014 erschienene Buch ausgewer…
Werner Fischer hatte einiges hinter sich. Der Oppositionelle war für ein
halbes Jahr nach England abgeschoben worden. Kurz nach seiner Rückkehr in
die DDR wurde der Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“
im Oktober 1988 mitten auf der Straße wieder von der Staatssicherheit
festgenommen und acht Stunden lang festgehalten. Wütend versucht er am
Telefon, seiner Mutter, SED-Mitglied und langjährige Stasi-Zuträgerin, die
Augen zu öffnen: „In diesem Land stinkt es bis zum Himmel.“ Mensch, sagt
sie, wann wirst du mal vernünftig?
Einblicke wie dieser in die vom MfS abgehörten Telefonate sind einem neuen
Buch aus der wissenschaftlichen Reihe des Bundesbeauftragten für die
Stasi-Unterlagen zu verdanken: „Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende
Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für
Staatssicherheit“. Die Herausgeber Ilko-Sascha Kowalczuk und Arno Polzin
dokumentieren darin rund 150 belauschte Telefongespräche, teils im O-Ton
wiedergegeben, teils im typischen Stasi-Jargon zusammengefasst.
So unmittelbar katapultiert kaum ein Medium in das oppositionelle Milieu
Ost-Berlins in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Man meint zu hören, wie
Wolfgang Templin mit Roland Jahn telefoniert. Der eine baut aus der
Hauptstadt der DDR Kontakte zur osteuropäischen Opposition auf, der andere
versorgt, aus dem Land geworfen, die Friedens- und Umweltgruppen mit
Informationen und verschafft ihnen über westliche Medien Gehör.
Als im Umfeld der alljährlichen offiziellen
Rosa-Luxemburg-Gedenkveranstaltung am 17. Januar 88 Oppositionelle
festgenommen werden, laufen die Telefondrähte heiß und die Stasi-Überwacher
haben rund um die Uhr zu tun. Bärbel Bohley erzählt Roland Jahn über die
Grenze hinweg, wie fremd ihr die Ausreisebewegung ist. Templin schildert,
wie Stasi-Leute kurz zuvor vergeblich versucht haben, ihn vor seiner
Wohnung festzunehmen.
## Jahre in den Protest gesteckt
Doch erst die wissenschaftlichen Abhandlungen der beiden Herausgeber und
ein persönlicher Erfahrungsbericht von Wolfgang Templin liefern den nötigen
Hintergrund, um zu verstehen, welchen Entwicklungsschub die DDR-Opposition
nach 1985 gemacht hat. „1987 spitzte sich die Lage innenpolitisch zu, und
die Opposition professionalisierte sich“, erzählt Ilko-Sascha Kowalczuk.
Die umfassenden Fußnoten und „Verlinkung“ mit den Telefonabhör-Protokollen
erlauben einen tiefgehenden Einblick in die Vernetzung und inhaltliche
Differenzierung der Opposition einerseits sowie in die
menschenverachtend-hilflosen Reaktionen des Partei- und Staatsapparats
andererseits.
Doch sollte das Belauschen am Telefon nicht überbewertet werden. Die Stasi
nutzte die „Maßnahme A“ nur als eine von vielen Methoden, um gegen
Andersdenkende vorzugehen oder die eigenen Reihen zu kontrollieren. Von
einer umfassenden Überwachung könne nicht die Rede sein, schreiben die
Autoren – nicht nur, weil die wenigsten DDR-Bürger über einen eigenen
Apparat verfügten, sondern weil es der zuständigen Hauptabteilung III und
der Abteilung 26 gerade einmal gelang, von rund einer Million Anschlüssen
Ende der 80er Jahre etwa 4.000 abzuhören.
Zumal diese Quelle, vom DDR-Geheimdienst zumeist eigenmächtig und gegen die
bestehenden DDR-Gesetze verstoßend angezapft, keine großen Überraschungen
lieferte – wussten die Oppositionellen doch von ihrer Überwachung.
Mitten in der Debatte um die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde und 25
Jahre nach dem Umsturz in der DDR ist das Buch ein Muss. Nicht nur weil
Kowalczuk und Polzin die von der Forschung bislang ungenutzten Dokumente
ihrem Schattendasein entrissen haben, indem sie alle Beteiligten um ihre
Einwilligung zur Veröffentlichung baten. Der 1.000-Seiten-Wälzer erinnert
auch daran, dass der 9. November von vielen Oppositionellen so nicht
gewollt und das Ergebnis von Protesten vieler Jahre – und nicht nur weniger
Wochen war.
28 Jan 2015
## AUTOREN
Isabel Fannrich-Lautenschläger
## TAGS
DDR
Bespitzelung
Stasi
Schwerpunkt Ostdeutschland
Internet
sexueller Missbrauch
DDR
Stasi
Griechenland
Theater
DDR
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