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# taz.de -- Soziale Kontrolle in der DDR: Die indiskrete Gesellschaft
> „Auskunftspersonen“ haben der Stasi freiwillig Infos über Kollegen oder
> Nachbarn geliefert. Das Phänomen ist bislang wenig erforscht.
Bild: Oft gingen Informationen mehrerer „Auskunftspersonen“ in Personeneins…
BERLIN taz | Mit dem Ministerium der Staatssicherheit (MfS) assoziieren
heute viele das Heer der inoffiziellen Mitarbeiter (IM), die mit ihren
Dossiers einen enormen Überwachungsstaat absichern halfen.
Weniger im Mittelpunkt standen die sogenannten offiziellen Kontakte; und
nahezu unbeachtet blieben bislang die „Auskunftspersonen“. Die
DDR-Geheimpolizei bedachte solche auskunftswilligen Bürger mit dem Kürzel
„AKP“. In einem Dossier heißt es etwa über einen Juristen, er sei zwar ein
braver SED-Genosse mit anständiger Arbeitsmoral, doch dann folgen Angaben
über: Alkoholkonsum, finanzielle Lage, Kontakte in den Westen, Beziehung zu
den Kindern, Arbeitseinstellung der Ehefrau. Details zum Privatleben des
Genossen.
Diese indiskrete Charakteristik stammt von „Auskunftspersonen“ der Stasi –
Informanten. In diesem Fall von einer Nachbarin, Frau H., die sich im
Babyjahr befand. Sie hatte offenbar genügend Zeit für ihre Beobachtungen;
ebenso wie das Ehepaar S., das im Gesundheitswesen tätig war. Der Ehemann,
ein SED-Mitglied, war auch in der Hausgemeinschaftsleitung (HGL) aktiv.
Die AKPs sind bisher wenig erforscht. Anders als bei den IMs sind zu ihnen
in der Regel keine Einzeldossiers überliefert, aus denen die Vita, ihr
Verhältnis zum MfS und ihre Berichte hervorgehen. Ihre Informationen gingen
in Personeneinschätzungen ein, in denen mehrere Quellen zusammengefasst
wurden. Selten sind am Ende dieser Auskunfts- oder Ermittlungsberichte die
Informanten genau genannt. Noch seltener ist aus den Berichten der
individuelle Beitrag einer AKP herauszudestillieren. Dies erschwert die
Analyse. Daher wurde das Phänomen der AKPs lange Zeit nur gestreift. Dass
diese Form der Berichterstattung offenbar ein Massenphänomen in der DDR
war, hat man dabei unterschätzt.
## Fragen im Wohnumfeld
Erhalten sind vor allem AKP-Karteien aus einzelnen Regionen. Zwei wurden
jetzt wissenschaftlich ausgewertet. Wenn sie typisch für die DDR sind,
übertrifft die Zahl der AKPs die der IMs deutlich. Wenn 5 Prozent der
Einwohner des Kreises oder mehr bereit gewesen sein sollten über ihre
Nachbarn zu kolportieren, sagt das nicht nur etwas über die Arbeitsmethoden
des MfS aus. Das ist auch ein wichtiges Indiz für die Art der sozialen
Kontrolle in der DDR und die soziale Atmosphäre im Kiez.
Über ihre „Auskunftspersonen“ hat die Stasi Karteikarten angelegt. So
wusste sie, wer im Haus als Ansprechpartner infrage kam, wen sie auf der
Straße problemlos befragen konnte, wenn sie Leumund oder Gewohnheiten von
DDR-Bürgern ausforschen wollte. Solche Berichte aus dem Wohnumfeld waren
üblich, wenn sich die Stasi einen ersten Eindruck von jemandem verschaffen
wollte. Künftige inoffizielle Mitarbeiter wurden so gecheckt, Staatsfeinde
überwacht, spätere Betriebschefs oder Geheimnisträger überprüft.
Es gab in den Archiven des Bundesbeauftragen für die Stasi-Unterlagen mehr
als 10 Millionen Personendossiers über DDR-Bürger. Jedes enthielt in der
Regel eine Kurzauskunft, die auf Auskünften mehrerer Personen basierte. Was
manche immer noch nicht wahrhaben wollen: Dass Menschen dem Staat Auskunft
über ihre Nachbarn gaben, war ein Massenphänomen – und die DDR eine höchst
indiskrete Gesellschaft.
## Wesentlich mehr AKP als Im
Die genauen Ausmaße lassen sich nur schätzen, aber es gibt Anhaltspunkte.
Die Mitarbeiter der Außenstelle des Bundesbeauftragten für die
Stasi-Unterlagen in Rostock fanden eine AKP-Kartei, die nach unserer
Berechnung etwa 18 Prozent der Bevölkerung der Großstadt Rostock im Jahr
1989 umfasst. Stichproben aus einzelnen Buchstabengruppen haben gezeigt,
dass die Kartei selbst erstaunlich wenige Personen als nur eingeschränkt
oder gar nicht auskunftswillig ausweist.
Für den kleinstädtisch-ländlich geprägten thüringischen Kreis Saalfeld fand
sich im Archiv des Bundesbeauftragten in Gera eine weitere Kartei über
Auskunftspersonen. Sie wurde für unsere Studien erstmals ausgewertet. In
einer Straße hatte das MfS sogar mehr als eine Auskunftsperson pro Haus in
der Kartei registriert. Insgesamt führte das MfS 5,7 Prozent aller
Einwohner im Kreis Saalfeld des Jahres 1989 als „Auskunftspersonen“. Ob der
Prozentsatz in anderen Kommunen ebenso hoch waren, ist unklar.
Zuletzt waren in der DDR etwa 189.000 Menschen als inoffizielle Mitarbeiter
des MfS registriert, gut 1 Prozent aller Einwohner der DDR. Die
AKP-Prozentsätze in den beiden Kommunen sind dagegen deutlich höher. In
Saalfeld zeigt sich das sehr deutlich: Neben 745 IMs registrierte die Stasi
3.335 AKPs – ein Verhältnis von 1:4,5.
## AKP nicht gleich IM
Allerdings sollte man AKPs und IMs nicht gleichsetzen. Diese wurden in der
Regel mit einer „Legende“ angesprochen. Stasi-Leute wiesen sich
beispielsweise als Mitarbeiter der Stadtverwaltung oder des Zolls aus. Sie
traten auch als Polizisten in Erscheinung, um ihre Auskunftspersonen
gesprächig zu machen. „Zeigt keinen Verdacht gegen Legende“ ist ein
typischer Vermerk auf den Rostocker Karteikarten. Auch die Zahl der
Berichte ist sehr unterschiedlich. In einer Straße wurden manche nur
einmal, ein Bürger wurde zweimal, ein Bürger dreimal befragt, der Rekord
lag bei 10 Befragungen.
Vorschnelle Assoziationen wie „Blockwart“ oder „Denunziant“ verbieten s…
also. Schon dem IM wurde oft zu voreilig das Etikett „Denunziant“
angeheftet. Während Denunzianten von sich aus Informationen zulieferten,
hat bei den IMs und AKPs die Stasi die Initiative ergriffen. Angst und nur
sehr selten Erpressung spielten eine Rolle. Und die Legende machte die AKPs
möglicherweise gesprächig.
Bestimmte Gruppen fühlten sich ohnehin verpflichtet: Offiziere der
sogenannten bewaffneten Organe hatten einen Eid geleistet, Schaden von der
DDR abzuwenden. Parteimitglieder waren zur Wachsamkeit angehalten.
Freiwillige Helfer der Volkspolizei konnten sich auf Rechtsgrundlagen
berufen. Auch Hausbuchführer, die notierten, wer sich länger in einem Haus
aufhielt, agierten auf Basis einer Verordnung, die jeder im Gesetzblatt
nachlesen konnte.
In der Summe sind so jedoch „Spitzeldossiers“ entstanden, die Karrierewege
versperren, Reisen verhindern konnten. Schlimmstenfalls führten sie zu
weiterer Überwachung oder gar zu Kriminalisierung. Ein
Abschnittsbevollmächtiger (ABV) hielt in einer Kleinstadt über einen
Traktoristen fest: „Westfernsehen ist in der Familie gegeben … Schwester,
die in 50er Jahren illegal DDR verlassen hat … Umgang mit Klassenkameraden,
bei denen es auch negative Personen gibt.“
## Schlicht „gute Menschen“
Derartige Berichte sind daher durchaus im Rahmen eines
Denunziationszusammnhangs zu untersuchen, auch wenn keineswegs alle
Zuträger Denunzianten waren. Es gibt feine Unterschiede, von der legitimen
Anzeige bis hin zur Denunziation. Sie befinden sich im Spannungsfeld eher
privater ethischer Normen und staatlicher Erwartungen. Die
Informationsbereitschaft des Einzelnen ist, wenn es um Mord oder
Kindesmisshandlungen geht, in der Regel eine andere, als wenn es sich um
neugierige Fragen einer autoritären Obrigkeit handelt. Gerade
Weltanschauungsdiktaturen versuchen aber, Kollaborateure zu gewinnen, indem
sie gemeinsame Ideale vorgaukeln, um eventuell vorhandene Skrupel
auszuräumen.
Das Beispiel der damaligen Wilhelm-Pieck-Straße in Saalfeld deutet darauf
hin, dass die Legenden der Stasi auf die Auskunftspersonen abgestimmt
waren. Rund 6 Prozent der Bürger arbeiteten als Freiwillige Helfer mit der
Polizei zusammen. 5,3 Prozent waren beim Zoll beschäftigt, 12 Prozent beim
MfS und 22,4 Prozent darüber hinaus auch noch als IM dem MfS verpflichtet.
Staatsnahe Berufe und Personen, die freiwillig als Helfer der Polizei oder
Hausgemeinschaftsleitung parastaatliche Funktionen übernahmen, stechen
hervor. Rund ein Drittel der AKP waren SED-Mitglieder.
Die Auskunftspersonen relativieren die Rolle der IMs, die oft als
Inkarnation des Bösen in der DDR gelten. Ohne deren Rolle zu verniedlichen:
Die SED-Diktatur stützte sich auf viel mehr Personen, die soziale Kontrolle
ausübten. Und selbst die Stasi hatte mehr willige Helfer. In
Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, kooperierte sie mit Bürgern, die sie
schlicht als „gute Menschen“ bezeichnete. Auch Betriebe oder staatliche und
gesellschaftliche Institutionen wurden keineswegs nur durch IMs
kontrolliert.
## Die hohen Kader hatten das Sagen
Das MfS hielt „offiziellen“ Kontakt zu Partnern in „Schlüsselpositionen�…
Das war zwar etwas anderes als der inoffizielle Kontakt. Aber was da
besprochen wurde, war in der Regel nicht minder vertraulich. Besonders zu
den Kadern der Nomenklatura pflegte das MfS „parteikameradschaftliche“
Beziehungen.
Die über 300.000 Spitzenkader waren das eigentliche Rückgrat des Systems.
Sie waren speziell von der SED ausgewählt und unterstanden politisch einem
Vorgesetzten der SED-Nomenklatura. Erich Mielke hatte eine geheime Ablage
für die obersten Kader, die Susan Pethe, Mitarbeiterin beim
Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, anhand von Akten und
Karteifragmenten rekonstruiert hat. Es zeigt sich jetzt, dass die Stasi
diese Kader im Auftrag der SED-Spitze überprüfte, bevor sie aufstiegen.
Geheimes Wissen, manchmal sogar Kompromittierendes über das Spitzenpersonal
der SED lag also in den Regalen des MfS. Nicht wenige hatten schon vor
ihrem Aufstieg als IM mit dem MfS kooperiert. Nach der Adelung zum
Nomenklaturakader, wurden diese Kontakte meist weiter gepflegt, dann aber
als „offizielle“. Nach wie vor wurden Informationen ausgetauscht. Doch im
Unterschied zum IM durften die hohen Kader nach Beratung mit dem MfS
Entscheidungen treffen. Nicht selten griffen sie hart in Karrieren von
Mitarbeitern ein. Im Gegensatz zu den bloßen Informanten des MfS, waren sie
die eigentlichen Machthaber in der SED-Diktatur.
Die Aktenführung des MfS und Paradoxien des Datenschutzes bringen es mit
sich, dass die Akten dieser übrigen Partner und Informanten des MfS oft
schwer zu finden und zu identifizieren sind. Nicht selten werden sie
datenschutzrechtlich zu den „Betroffenen“ gezählt und sind entsprechend
geschützt. Auch dies erklärt, warum gerade die IMs, deren Akten in der
Regel kompakt vorhanden und relativ offen zugänglich sind, am Pranger
standen, während andere, teils wesentlich wichtigere Stasikollaborateure
weitgehend ungeschoren davonkamen.
Diese Sichtweise zu korrigieren, ist nicht nur eine wissenschaftliche
Frage, sondern 25 Jahre nach dem Mauerfall auch eine
gesellschaftspolitische und vielleicht sogar eine juristische Aufgabe. Aber
das ist ein anderes Kapitel.
31 Oct 2014
## AUTOREN
Christian Booss
Helmut Müller-Enbergs
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