# taz.de -- Aufklärung sexuellen Missbrauchs: Verlorene Jungs | |
> Ein Lehrer missbraucht an einer hessischen Schule über Jahrzehnte mehr | |
> als hundert Schüler. Die Behörden sehen weg. Mittwoch soll sich das | |
> ändern. | |
Bild: Das Wohnzimmer des Täters: die Schule der Opfer. | |
Robert Collister läuft in schnellen, ausgreifenden Schritten über den | |
Schulhof, fast rennt er, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen | |
ein Notebook. Der Weg kostet ihn keine Überwindung, auch wenn jeder Meter | |
vorwärts ihn zurückbringt, dorthin, wo alles begann. | |
Ein paar neue Klettergerüste stehen vor den flachen Gebäuderiegeln, sonst | |
ist alles wie früher, die Sporthalle, die Flure, der Klassenraum, in dem | |
Erich Buß oft gleich nach dem Unterricht Schüler zu sich ans Pult zog, um | |
ihnen in die Hose zu fassen. Den Holzschuppen, in dem er sein Moped | |
abgestellt hatte. Er ließ die Jungen damit fahren, oder er brachte sie auf | |
dem Rücksitz zu sich nach Hause, wo er vermutlich weit mehr als hundert | |
Jungen sexuell missbrauchte. | |
Jetzt, wo Collister auf die weiße Fassade der Schule blickt, kehren all die | |
Szenen zurück wie Gespenster. Aber er spürt keine Beklemmung. „Für mich ist | |
das wie ’ne Therapie“, sagt er in den Rauch der Zigarette. Er hat den | |
Eindruck, dass endlich die Wahrheit ans Licht kommt. | |
Es ist Sonntagmittag. Eiswind schneidet über den Pausenhof. In den kahlen | |
Sträuchern rasselt Schokoladenpapier. Die Elly-Heuss-Knapp-Schule liegt im | |
Südosten Darmstadts. Collister, ein großer Mann mit etwas zu langen dunklen | |
Haaren, ist allein. Robert Collister ist nicht sein richtiger Name. Er hat | |
oft erlebt, wie die Leute auf Distanz gehen, wenn er offenbart, dass er als | |
Kind Opfer sexueller Gewalt wurde. Im Gehen klappt er sein Notebook auf, | |
klickt sich durch Ordner voll Fotos, von Schulfesten, Sportturnieren. Der | |
Lehrer Buß, umringt von Kindern, Buß, wie er Schokoküsse verteilt. | |
Collisters Blick flattert hin und her zwischen Vergangenheit und Gegenwart. | |
„Es geht nicht nur um den Missbrauch, es geht auch um das Schweigen“, sagt | |
er. | |
Robert [Name geändert] ist [] ein Kind mit sehr differenzierten Reaktionen. | |
Liebevoll, hat viel zu geben. Bedürftig. Gestern waren wir Pizza essen, mit | |
dem Rad am Herrngarten. Sehr enger Kontakt, hautnah. Es rührt mich | |
zutiefst. [] Der Junge ist sogar schön. (Februar 1973) | |
Mehr als 700 Kilometer entfernt erhebt sich irgendwo in Mecklenburg eine | |
kleine Holzhütte neben einer Ziegenweide, durch eine Straße vom Wohnhaus | |
getrennt. Drinnen faltet ein schlanker Mann mit grauen Haaren und | |
Outdoorkleidung seinen Körper in einen Korbsessel. Der Verschlag ist | |
Andreas Ratz’ „Traumazelle“, so nennt er das: Schaffelle, bunte Ölbilder, | |
in der Ecke bullert ein Ofen. „Ich versuche, den ganzen Dreck | |
hierzulassen“, sagt er. | |
Ratz, 52 Jahre alt, zwei Söhne, hat zweimal den Nachnamen gewechselt und | |
lebt als Ökobauer auf dem Land. Die Vergangenheit hat ihn immer wieder | |
eingeholt, wie vor drei Jahren, als er tagelang in der dunklen Hütte lag, | |
mit Depressionen und Selbstmordgedanken. „Ist nicht leicht, mit einem | |
Beschädigten wie mir leben zu müssen.“ Er lacht, nicht bitter, sondern | |
jungenhaft. | |
Erich Buß, geboren 1928, war fast 40 Jahre Lehrer. Wie viele Kinder er | |
sexuell missbraucht hat, weiß niemand. Verurteilt wurde er wegen 15 Fällen. | |
Aus der Urteilsbegründung geht hervor, dass Buß von Mitte der 60er Jahre an | |
bis über seine Pensionierung 1992 hinaus Kindern „in einer großen Vielzahl�… | |
Gewalt angetan hatte. Man kann von weit mehr als hundert Opfern ausgehen. | |
Wie strategisch er vorging, lässt sich anhand seiner Tagebücher | |
nachvollziehen. Er hielt nicht nur seinen Alltag akribisch fest, sondern | |
auch die Namen der Kinder, die er missbrauchte. Der taz liegen die | |
getippten und handschriftlichen Dokumente zum Teil vor. | |
Daraus ergibt sich das Bild eines peniblen, fast zwanghaften Mannes, der zu | |
Selbstverklärung und Wehleidigkeit neigte. Erich Buß dokumentierte seine | |
Taten mit der Akkuratesse eines Buchhalters. | |
Heute waren in bunter Reihenfolge da: Hajo (30 Min.), Roland (15 Min.), | |
Ursula (40 Min.), Dieter F. (20 Min.), Ernst (3 Std.), Roland (1 Std.). | |
Dazu zwei Telefonate mit Müttern: N. und Qu. (September 1970) | |
In einem einzigen Jahr waren seiner eigenen Statistik zufolge 1.500 Kinder | |
bei ihm zu Gast. Zwar hat ihn das Landgericht Darmstadt 2005 zu vier Jahren | |
Haft verurteilt. Aber der Großteil seiner Taten war lange verjährt. 2008 | |
starb der Täter. Jetzt versuchen die Opfer noch einmal, ihre Geschichte zu | |
Gehör zu bringen. | |
Eine kleine Gruppe hat sich formiert. Männer, die gemeinsam zur Schule | |
gingen. Kinder ohne Halt, die dasselbe Trauma verbindet. Der Missbrauch | |
brachte sie zusammen und wieder auseinander, weil sie alle andere Antworten | |
auf eine Frage fanden: Welche Gerechtigkeit kann es für die Opfer sexueller | |
Gewalt geben? | |
Einer will Rache. Einer will seinen Frieden. Einer will Anerkennung. Alle | |
wollen, dass der Staat reagiert. | |
Die Elly-Heuss-Knapp-Schule ist nur 36 Kilometer von der Odenwaldschule | |
entfernt. An dem renommierten reformpädagogischen Landerziehungsheim in | |
Ober-Hambach wurden in den 1960er bis 1990er Jahren mindestens 132 Kinder | |
und Jugendliche sexuell missbraucht. Die Täter um Schulleiter Gerold Becker | |
wurden nie verurteilt, da die Taten als verjährt galten. Betroffene warfen | |
den hessischen Kontrollbehörden mangelnden Aufklärungswillen vor, es seien | |
sogar Akten verschwunden. Für beide Schulen ist dasselbe Kultusministerium | |
zuständig. | |
Auch im Fall der Elly-Heuss-Knapp-Schule versuchten hessische Ämter lange, | |
die Opfer abzuwimmeln. Gerade erst ändert sich das. Am kommenden Mittwoch | |
wird es ein Treffen in Wiesbaden geben. Hessens Kultusminister Alexander | |
Lorz und ein Landtagsabgeordneter wollen mit Betroffenen sprechen. Zehn | |
Jahre nach der Verurteilung des Täters beginnt jetzt vielleicht die | |
Aufarbeitung. | |
Robert Collister ist an diesem Tag zurückgekehrt in die Stadt seiner | |
Kindheit. Er arbeitet seit ein paar Jahren als Hausmeister in Heidelberg. | |
Jetzt ist er hier, um zu recherchieren, was genau damals geschehen ist. | |
„Mein Hauptziel ist, Erich Buß vom Thron zu stoßen“, sagt er. Es gibt noch | |
viele, die den Lehrer in höchsten Ehren halten. | |
Collister wirft seine Zigarette halb aufgeraucht weg und lässt sich hinters | |
Steuer seines 80er-Jahre-Mercedes fallen. Die Sitze quietschen leise, aus | |
dem Radio dudelt Jazz, leere Vorortstraßen ziehen am Fenster vorbei. | |
Sein Vater war GI, mit der US-Armee in Darmstadt stationiert. Bis er sechs | |
war, lebte der Junge mit den Eltern in den USA. Dann trennten die sich, der | |
Vater machte sich davon. Auf dem deutschen Schulhof stand Robert meist | |
alleine. Die anderen riefen: „Ami, go home!“ Eine Lehrerin wies Buß auf den | |
Jungen hin. Es war ja bekannt, dass der sich solcher Kinder annahm. | |
Nach allem, was man über das Missbrauchssystem an der Odenwaldschule weiß, | |
traf es dort die sogenannten Jugendamtskinder besonders hart. Das | |
Eliteinternat nahm ein Kontingent von Kindern aus zerrütteten Familien auf, | |
für die das Jugendamt zahlte. Mit diesen Kindern hatte der pädophile | |
Schulleiter Becker besonders leichtes Spiel, da sie keinen familiären | |
Rückhalt genossen. Auch an der Elly-Heuss-Knapp-Schule, damals Grund- und | |
Hauptschule, traf es vor allem Kinder aus benachteiligten Verhältnissen. | |
G.: Klein, schwächlich, kränklich. Intelligent. Alkohol in der Familie. A.: | |
Schüchtern. Sieben Kinder. Waldarbeiter. Keine Freunde. St.: | |
Milieugeschädigt, ungeordnete Verhältnisse, verwahrlost, gefährdet. S.: | |
Kleinbürgerliche Verhältnisse. Sehr korpulent. Th.: Arbeiterkind. Kann sich | |
nicht artikulieren. (April 1978) | |
Andreas Ratz hat zwei Jahre Traumatherapie hinter sich, hat gelernt, den | |
Täterhass zu besiegen. Laut zu sagen: „Buß hat mich zwischen meinem zehnten | |
und 14. Lebensjahr anal vergewaltigt.“ Auch ihm ist wichtig, dass nun alles | |
rauskommt. „Dann kann ich Frieden finden und den Rest meines Lebens leben.“ | |
Damals ist seine Mutter alleinerziehend, vier Kinder. Buß macht sich die | |
emotionale Bedürftigkeit der Kinder zunutze. | |
Ein glänzender Stern ist aufgetaucht: Andreas. Ein heiles Kind, wie es | |
scheint, mit normalen Reaktionen, sehr frei und kaum zu glauben. (August | |
1973) | |
Andreas gilt als intelligent, aber schwierig, er wechselt mehrfach die | |
Schule. Zu Hause muss sich der Älteste um die jüngeren Geschwister kümmern. | |
„Buß war der erste Mann, der mir wirklich zuhörte“, erinnert sich Ratz. D… | |
Lehrer nimmt ihn auf dem Motorrad mit in den Odenwald, Wildschweine | |
beobachten. „Mich hat er über die Natur gekriegt, bei anderen waren es | |
Motorräder oder Literatur“, sagt er. | |
Robert Collister [Name geändert] darf nicht vergessen werden. Andreas R. | |
[Nachname geändert] wäre mir lieber, aber nur für einen von beiden werde | |
ich Zeit haben. Und Robert geht vor. (August 1973) | |
Die Nachmittage liefen immer gleich ab: Erst machten alle Hausaufgaben. Es | |
gab Essen. Buß kochte Spinat, Fischstäbchen oder Kartoffeln mit Leinöl. | |
Dann war Zeit für den Mittagsschlaf. | |
Buß nahm Jungen mit nach oben ins Schlafzimmer, manchmal einen, manchmal | |
zwei oder drei. Sie waren zwischen fünf und zehn Jahre alt, wenn der | |
Missbrauch begann. Wer brav war und das Sperma des Lehrers schluckte, bekam | |
eine Tafel Marzipanschokolade. | |
Es gab stapelweise Asterix-Hefte, eine Bastelkiste, eine Carrera-Rennbahn. | |
Bei Buß durften die Kinder viel: Kissenschlachten, nachts Filme gucken, | |
endloses Videospielen. „Ich hatte keine normalen Freunde“, sagt Robert | |
Collister, „alle, die ich kannte, waren involviert.“ | |
Die Jungen machten hilflose Witze über das Geschlechtsteil des Lehrers auf | |
dem Schulhof. „Aber wirklich geredet haben wir nicht, die Scham war zu | |
groß“, sagt Andreas Ratz. | |
In den Tagebüchern finden sich viele Hinweise, dass immer wieder Zweifel an | |
Buß aufkamen – und das es Menschen gab, die ihn deckten. | |
Im Juni 1964 [] kam Kollege Langner mit einer Warnung, die mich aus den | |
höchsten Höhen herabriss ins Elend. Es geht ein Gerücht um gegen mich, ich | |
solle mich in acht nehmen, keine Schüler einladen, keine Waldgänge mit | |
einzelnen machen (Juli, 1964) | |
Im Schnitt wenden sich missbrauchte Kinder an bis zu sieben Erwachsene, bis | |
sie Gehör finden. Andreas Ratz unternahm vier Anläufe, bevor er für Jahre | |
verstummte. Beim ersten Mal sprach ihn seine Mutter auf die Gerüchte über | |
Buß an. Er sagte ihr, dass sie stimmten. Nicht so schlimm, meinte sie. Beim | |
zweiten Mal, mit 14, vertraute er sich einer Freundin an. „Du musst zur | |
Polizei“, drängte sie. Er ging zur Direktorin. Eine Stunde habe er im | |
Vorzimmer gewartet. „Ich habe gesagt: Ich bin von Buß missbraucht worden. | |
Ich und andere.“ Noch jetzt kommen ihm Tränen. „Sie saß kerzengrade da und | |
sagte kühl, dass sie das nicht ernst nehmen könne. Buß habe einiges für | |
mich getan. Ich bin da raus, wollte heulen. Aber das konnte ich schon lange | |
nicht mehr.“ | |
Helga Hager leitete die Elly-Heuss-Knapp-Schule von 1973 bis 1995. Heute | |
ist sie 80 Jahre alt. Über diese Sache spreche sie nicht so gern, sagt sie | |
am Telefon. Buß, ein Anhänger der Reformpädagogik, wie sie an der | |
Odenwaldschule praktiziert wurde, sei mit seiner lockeren Art bei jüngeren | |
Kollegen beliebt gewesen. Die älteren misstrauten ihm: „Es gab diffuse | |
Gerüchte. Aber man erfuhr nie was Genaues.“ | |
Im Frühjahr 1974 wird Buß während einer Klassenfahrt ins Tessin mit einem | |
Schüler beim Ladendiebstahl erwischt. Der Lehrer kommt dort sogar ins | |
Gefängnis. Die Schulleitung weiß davon. In seiner Personalakte, die im | |
Darmstädter Staatsarchiv liegt, sind Fehltage vom 3. bis 17. Mai vermerkt: | |
„abwesend (in der Schweiz inhaftiert)“. Die Angaben wurden an den Schulrat | |
übermittelt. Später verurteilten ihn die Justizbehörden in Darmstadt in der | |
Sache zu einer Geldstrafe von 2.600 D-Mark. | |
Und dann? Werden die Schulbehörden aktiv? Gibt es ein Disziplinarverfahren? | |
Es passiert: nichts. | |
Ja, reichlich unkonventionell sei der Kollege gewesen, sagt Rektorin Hager. | |
„Ich musste ihn ermahnen, keine Schüler auf seinem Motorrad mitzunehmen.“ | |
Unvermittelt erzählt sie dann, dass sie versuchte, bestimmte Kinder aus | |
Buß’ Klasse fernzuhalten. Ein ehemaliger Schüler, selbst nicht betroffen, | |
sagt: „Wir wussten damals alle von den ,Neigungen‘ des Herrn Buß! Es wurde | |
gemunkelt und auf manche Jungs hinter vorgehaltener Hand gezeigt: ’Der hat | |
sein Mofa vom Buß bekommen.‘ “ Hager bestreitet, je einen Schüler | |
abgewimmelt zu haben. Von der Verurteilung Buß’ habe sie erst aus der | |
Zeitung erfahren. Hunderte Opfer? „Nein, nein“, sagt die ehemalige | |
Schulleiterin, „das kann nicht sein.“ | |
Sie wollen mich mal wieder zum Rektor machen. Nur daß ich diesmal nicht | |
grundsätzlich nein sage. Ab Herbst Schulwechsel und neue Aufgabe: | |
Fünfjährige. (April 1970) | |
Anton Rudolf (Name geändert) lebt nur eine Autostunde entfernt von seinem | |
Bruder Andreas Ratz, an der polnischen Grenze. Anton, der Jüngere, der | |
anrennt gegen das System, das den Missbrauch zuließ. Vor zwei Jahren | |
gründete er eine Aufarbeitungs-AG, fing an, die Behörden mit Briefen zu | |
bombardieren, erwirkte schließlich den Termin am Mittwoch in Wiesbaden. | |
Die Opfer fordern, dass sämtliche Jahrgänge des Lehrers Buß über den | |
Missbrauch informiert werden und dass sich das Schulamt entschuldigt. „Wir | |
erwarten jetzt endlich Antworten!“, schrieb Anton Rudolf im Mai 2013 in | |
einem wütenden Brief an den Darmstädter Schulamtsdirektor. | |
„Anton will Rache“, sagt sein Bruder. Er selbst sagt: „Ich will ein | |
Eingeständnis, dass das Schulsystem versagt hat.“ | |
Anton Rudolf, 50 Jahre alt, trägt eine starke Brille und wirkt weniger | |
selbstsicher als sein Bruder. Als Kind sah er schlecht und litt unter einem | |
Sprachfehler. Bei ihm sei Buß nur einmal übergriffig geworden. Rudolf | |
erzählt von der Gewalt, die sein hilflos um sich schlagender Bruder in die | |
Familie trug. Rudolf sagt, dass auch er als Sechstklässler bei der | |
Direktorin war und später beim Schulrat. Niemand habe ihm geglaubt. „Er hat | |
unsere Kindheit zerstört“, sagt Rudolf über Buß. | |
Was genau die Behörden gewusst haben, wurde nie untersucht. Als der Lehrer | |
wegen Missbrauchs verurteilt wird, erregt der Fall wenig Aufsehen. „Der | |
Angeklagte brauchte seinen Opfern nur selten einzuschärfen, dass sie über | |
die sexuellen Handlungen schweigen sollten“, steht in der | |
Urteilsbegründung, „meist taten diese das von sich aus.“ | |
Anton Rudolf legt einen Ordner voller Briefe und gedruckter E-Mails auf den | |
Tisch: Korrespondenz mit dem Landesschulamt. Zunächst schreibt eine | |
Mitarbeiterin des Leitenden Direktors, man sei „sehr betroffen“. Leider | |
könne man im Archiv nichts mehr finden. | |
Später wird behauptet, das Urteil von 2005 sei nicht auffindbar, was dann | |
zurückgenommen wird: Die Akte liegt bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt. | |
Die Behörde scheint selbst nicht recherchieren zu wollen. Für Anton Rudolf | |
ist das eine Provokation. Er wendet sich ans Kultusministerium. Sie tun | |
sich mit anderen Opfern zusammen. Vertreten werden sie von einer | |
renommierten Anwältin, begleitet vom Betroffenenverein der Odenwaldschule, | |
Glasbrechen e. V. | |
Zwei Kolleginnen aus den 80ern sitzen nördlich des Stadtzentrums in einem | |
Wohnzimmer, umgeben von Stuck, dunklem Holz und Aquarellgemälden. Auf dem | |
Tisch steht Mohnkuchen mit Schlagsahne. Die Pädagoginnen sagen, das Klima | |
an der Schule sei damals bestimmt gewesen von Strenge und Autorität. „Der | |
Erich war völlig anders. Wir sind die Nach-68er-Generation – wir waren auch | |
anders“, sagt eine von ihnen. Beide wissen inzwischen, was Buß getan hat. | |
Ihre Begeisterung für den Exkollegen trübt das kaum: „Er hatte einen | |
ausgesprochen gewitzten Humor. Er war ein hoch gebildeter Mann. Und ein | |
begnadeter Klavierspieler“, sagt eine, die Stimme hoch vor Euphorie. „Der | |
Erich war den Schülern zu allererst ein guter Freund. Das behaupte ich | |
jetzt mal“, stellt die andere fest. Gerade junge Frauen schien der | |
kultivierte Linke zu beeindrucken, der Schüler duzte, sich scheinbar | |
rührend um Sorgenkinder kümmerte und Arbeiterlieder mit der Klasse sang. | |
Auch andere pensionierte Lehrerinnen schwärmen heute noch von seinem | |
„Ersatzheim“. | |
Geliebter, halte mich, halte mich! Geliebter, du bist ein Kind. Ich darf | |
dich gar nicht anrufen, nicht bitten. Ich habe dich schon verloren. Du bist | |
mein letzter Halt gewesen, du hast mich leben lassen. Nun ist auch dein | |
Platz leer, und ich bin in der Hölle. Alles um mich ist, wie es war, aber | |
DU bist nicht mehr da. (Juli 1980) | |
Es gab die Vermutung, Erich Buß könne schwul sein. Aber selbst darüber, | |
sagen die Lehrerinnen, hätte niemand offen zu reden. gewagt Auf diese Enge | |
traf die 68er-Revolution und stellte alle Tabus infrage. | |
In der Urteilsbegründung von 2005 steht, Buß habe seine Neigungen nach | |
eigener Aussage zunächst nicht ausgelebt. Dies habe sich Mitte der 60er | |
geändert. „Er führt dies hauptsächlich auf die ,68er-Revolution‘ zurück. | |
[…] Das alles habe dazu beigetragen, gewisse Hemmungen zu verlieren.“ Buß | |
war gut bekannt mit dem Schriftsteller Friedrich Kröhnke, dessen Werk um | |
die Themen linke Politik und Päderastie kreist. In einem der Bücher wird | |
Buß’ Name sogar erwähnt. Auch ein Darmstädter Judotrainer, der wegen | |
sexueller Übergriffe auf Schüler suspendiert wurde, verkehrte in seinem | |
Haus, wie Tagebucheinträge von 1979 belegen: „Jörg brachte einen Jungen | |
mit, der an der Tankstelle arbeitet; er ist ständig auf der Suche nach | |
Jungen.“ | |
Andreas Ratz hat lange gebraucht, um Abstand zu gewinnen. „Es tat noch | |
Jahrzehnte später weh, zu erkennen: Du warst nicht der Einzige. Anderen hat | |
er genau das Gleiche versprochen“, sagt er. Und das Gleiche angetan. | |
Kolleginnen sahen einen Lehrer mit Esprit und Witz. In den Tagebüchern | |
spiegelt sich das Wesen eines manipulativen Kontrollfreaks. Seine Gunst | |
vergab und entzog er mit kühler Berechnung. Stets hielt er sich eine Gruppe | |
von Jungen, die er regelmäßig missbrauchte. Wenn sie zu alt wurden oder | |
psychisch auffällig, tauschte er sie aus. | |
Er raucht wie verrückt [], manchmal zwei Päckchen am Tag. Das erschreckt | |
mich, weil es ein Symptom ist. A. ist abzuschreiben. (Februar 1978) | |
Zehn Jahre nach seinem letzten Vorstoß versucht Andreas Ratz noch einmal, | |
sich aus dem System Buß zu befreien. Er ist 24, seinem Peiniger setzt er | |
ein Ultimatum: freiwilliger Rücktritt – oder Polizei. „Ich wollte nur, dass | |
er endlich aufhört.“ Ratz lebt da im Odenwald, ist frisch verheiratet, hat | |
ein kleines Kind. Er erhält einen anonymen Anruf: Wenn er aussage, würden | |
seine Frau und sein Baby sterben. Am Morgen liegt ein Schaf mit | |
durchgeschnittener Kehle vor seiner Tür. | |
Für schmutzige Jobs hatte Buß Schläger. Falls Ratz, schreibt er einmal, | |
„die Sache in letzter Konsequenz weiter verfolgen will, werde ich ihm | |
klarmachen, dass ich nichts mehr zu verlieren habe.“ Bei seinem Bruder | |
liege noch eine Waffe. „Nächste Woche werde ich sie mir holen. Er wird mir | |
nicht entgehen.“ | |
Ratz zieht weg. Bricht alle Verbindungen ab. Vor drei Jahren bekommt er | |
wieder Depressionen, Angstzustände. „Die Flashbacks hauten mich um. Es war, | |
als erlebte ich alles noch mal“, er fährt sich mit den Händen durchs | |
Gesicht. Inzwischen hat er gelernt, die Bilder zu kontrollieren. Nur seine | |
Familie bringt ihn immer wieder aus der Balance. Die Mutter, die nun am | |
Telefon sagt: „Ich fühle mich schuldig, dass ich meine Kinder nicht besser | |
schützen konnte.“ Sie sei selbst als Jugendliche vom Vater missbraucht | |
worden. Schlimmer als die Taten sei die Schande gewesen – die habe sie | |
ihren Kindern ersparen wollen. | |
„Ich kann längeren Kontakt mit meiner Mutter nur schwer ertragen“, sagt | |
Andreas, auch mit seinem Bruder Anton hat er Probleme. „Wir stecken alle zu | |
tief drin, bis heute.“ | |
Robert Collister steuert sein Auto durch eine Straße voller Mietshäuser. Er | |
sucht Freunde von früher, Zeugen, Verbündeten. Nicht jeder hat auf ihn | |
gewartet. Die Spuren eines Schulfreundes verlieren sich in einem | |
Obdachlosenheim, einer soll heroinsüchtig sein, ob er noch lebt, weiß nicht | |
einmal seine Familie. | |
Manche Erinnerungen spuken Collister seit Jahren im Kopf herum. Manche | |
kommen erst jetzt zurück. Buß, der ihm Zungenküsse aufzwingt. Sein | |
kratziges Kinn. Wie er ihm die Nase zu hält, damit er sein Sperma schluckt. | |
Er erträgt den Schweißgeruch fremder Männer nicht. Er kann keinen Sport | |
treiben. Lange hält er es nirgends aus, nicht in Beziehungen, nicht in | |
Jobs. Gerade hat er keine Wohnung, seine Sachen lagern bei der Firma, für | |
die er arbeitet: „Das ist das Chaos, das in mir drin ist.“ | |
Dann, es ist 18 Uhr, draußen schon dunkel, und er bemerkt, er könne den | |
Himmel nicht sehen. Ich knipse das Licht aus [], und er reagiert mit Angst, | |
indem er vor mir flieht. Ich lege ihm die Hände um den Hals und drücke | |
leicht zu und sage: Wer Angst hat, reizt zum Angriff. (Oktober 1967) | |
Am Nachmittag bricht die Sonne durch die Wolken über Darmstadt. In | |
Collisters Wagen wechseln Licht und Schatten. Er hält an und läuft auf ein | |
Haus zu, in dem früher ein Freund lebte. „Der war damals mit uns auf | |
Korsika“, sagt er. Buß vergewaltigte die zwei Jungen im Urlaub mehrmals | |
täglich. Sie schlossen sich in der Dusche ein, sagt Collister. Sie | |
stritten. Du bist dran. Nein, du. | |
Jetzt, mehr als 40 Jahre später, sucht Robert Collister nach weiteren | |
Bruchstücken. „Auf eine Art wird die Suche nie beendet sein“, sagt er. Am | |
Haus steht auf dem Klingelbrett noch der Name des Freundes. Collister | |
drückt. Keine Antwort. Er versucht es noch einmal, dann hastet er zum Auto | |
zurück. Er hat noch einige Adressen vor sich. | |
16 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
Gabriela Keller | |
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