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# taz.de -- Aufklärung sexuellen Missbrauchs: Verlorene Jungs
> Ein Lehrer missbraucht an einer hessischen Schule über Jahrzehnte mehr
> als hundert Schüler. Die Behörden sehen weg. Mittwoch soll sich das
> ändern.
Bild: Das Wohnzimmer des Täters: die Schule der Opfer.
Robert Collister läuft in schnellen, ausgreifenden Schritten über den
Schulhof, fast rennt er, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen
ein Notebook. Der Weg kostet ihn keine Überwindung, auch wenn jeder Meter
vorwärts ihn zurückbringt, dorthin, wo alles begann.
Ein paar neue Klettergerüste stehen vor den flachen Gebäuderiegeln, sonst
ist alles wie früher, die Sporthalle, die Flure, der Klassenraum, in dem
Erich Buß oft gleich nach dem Unterricht Schüler zu sich ans Pult zog, um
ihnen in die Hose zu fassen. Den Holzschuppen, in dem er sein Moped
abgestellt hatte. Er ließ die Jungen damit fahren, oder er brachte sie auf
dem Rücksitz zu sich nach Hause, wo er vermutlich weit mehr als hundert
Jungen sexuell missbrauchte.
Jetzt, wo Collister auf die weiße Fassade der Schule blickt, kehren all die
Szenen zurück wie Gespenster. Aber er spürt keine Beklemmung. „Für mich ist
das wie ’ne Therapie“, sagt er in den Rauch der Zigarette. Er hat den
Eindruck, dass endlich die Wahrheit ans Licht kommt.
Es ist Sonntagmittag. Eiswind schneidet über den Pausenhof. In den kahlen
Sträuchern rasselt Schokoladenpapier. Die Elly-Heuss-Knapp-Schule liegt im
Südosten Darmstadts. Collister, ein großer Mann mit etwas zu langen dunklen
Haaren, ist allein. Robert Collister ist nicht sein richtiger Name. Er hat
oft erlebt, wie die Leute auf Distanz gehen, wenn er offenbart, dass er als
Kind Opfer sexueller Gewalt wurde. Im Gehen klappt er sein Notebook auf,
klickt sich durch Ordner voll Fotos, von Schulfesten, Sportturnieren. Der
Lehrer Buß, umringt von Kindern, Buß, wie er Schokoküsse verteilt.
Collisters Blick flattert hin und her zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
„Es geht nicht nur um den Missbrauch, es geht auch um das Schweigen“, sagt
er.
Robert [Name geändert] ist [] ein Kind mit sehr differenzierten Reaktionen.
Liebevoll, hat viel zu geben. Bedürftig. Gestern waren wir Pizza essen, mit
dem Rad am Herrngarten. Sehr enger Kontakt, hautnah. Es rührt mich
zutiefst. [] Der Junge ist sogar schön. (Februar 1973)
Mehr als 700 Kilometer entfernt erhebt sich irgendwo in Mecklenburg eine
kleine Holzhütte neben einer Ziegenweide, durch eine Straße vom Wohnhaus
getrennt. Drinnen faltet ein schlanker Mann mit grauen Haaren und
Outdoorkleidung seinen Körper in einen Korbsessel. Der Verschlag ist
Andreas Ratz’ „Traumazelle“, so nennt er das: Schaffelle, bunte Ölbilder,
in der Ecke bullert ein Ofen. „Ich versuche, den ganzen Dreck
hierzulassen“, sagt er.
Ratz, 52 Jahre alt, zwei Söhne, hat zweimal den Nachnamen gewechselt und
lebt als Ökobauer auf dem Land. Die Vergangenheit hat ihn immer wieder
eingeholt, wie vor drei Jahren, als er tagelang in der dunklen Hütte lag,
mit Depressionen und Selbstmordgedanken. „Ist nicht leicht, mit einem
Beschädigten wie mir leben zu müssen.“ Er lacht, nicht bitter, sondern
jungenhaft.
Erich Buß, geboren 1928, war fast 40 Jahre Lehrer. Wie viele Kinder er
sexuell missbraucht hat, weiß niemand. Verurteilt wurde er wegen 15 Fällen.
Aus der Urteilsbegründung geht hervor, dass Buß von Mitte der 60er Jahre an
bis über seine Pensionierung 1992 hinaus Kindern „in einer großen Vielzahl�…
Gewalt angetan hatte. Man kann von weit mehr als hundert Opfern ausgehen.
Wie strategisch er vorging, lässt sich anhand seiner Tagebücher
nachvollziehen. Er hielt nicht nur seinen Alltag akribisch fest, sondern
auch die Namen der Kinder, die er missbrauchte. Der taz liegen die
getippten und handschriftlichen Dokumente zum Teil vor.
Daraus ergibt sich das Bild eines peniblen, fast zwanghaften Mannes, der zu
Selbstverklärung und Wehleidigkeit neigte. Erich Buß dokumentierte seine
Taten mit der Akkuratesse eines Buchhalters.
Heute waren in bunter Reihenfolge da: Hajo (30 Min.), Roland (15 Min.),
Ursula (40 Min.), Dieter F. (20 Min.), Ernst (3 Std.), Roland (1 Std.).
Dazu zwei Telefonate mit Müttern: N. und Qu. (September 1970)
In einem einzigen Jahr waren seiner eigenen Statistik zufolge 1.500 Kinder
bei ihm zu Gast. Zwar hat ihn das Landgericht Darmstadt 2005 zu vier Jahren
Haft verurteilt. Aber der Großteil seiner Taten war lange verjährt. 2008
starb der Täter. Jetzt versuchen die Opfer noch einmal, ihre Geschichte zu
Gehör zu bringen.
Eine kleine Gruppe hat sich formiert. Männer, die gemeinsam zur Schule
gingen. Kinder ohne Halt, die dasselbe Trauma verbindet. Der Missbrauch
brachte sie zusammen und wieder auseinander, weil sie alle andere Antworten
auf eine Frage fanden: Welche Gerechtigkeit kann es für die Opfer sexueller
Gewalt geben?
Einer will Rache. Einer will seinen Frieden. Einer will Anerkennung. Alle
wollen, dass der Staat reagiert.
Die Elly-Heuss-Knapp-Schule ist nur 36 Kilometer von der Odenwaldschule
entfernt. An dem renommierten reformpädagogischen Landerziehungsheim in
Ober-Hambach wurden in den 1960er bis 1990er Jahren mindestens 132 Kinder
und Jugendliche sexuell missbraucht. Die Täter um Schulleiter Gerold Becker
wurden nie verurteilt, da die Taten als verjährt galten. Betroffene warfen
den hessischen Kontrollbehörden mangelnden Aufklärungswillen vor, es seien
sogar Akten verschwunden. Für beide Schulen ist dasselbe Kultusministerium
zuständig.
Auch im Fall der Elly-Heuss-Knapp-Schule versuchten hessische Ämter lange,
die Opfer abzuwimmeln. Gerade erst ändert sich das. Am kommenden Mittwoch
wird es ein Treffen in Wiesbaden geben. Hessens Kultusminister Alexander
Lorz und ein Landtagsabgeordneter wollen mit Betroffenen sprechen. Zehn
Jahre nach der Verurteilung des Täters beginnt jetzt vielleicht die
Aufarbeitung.
Robert Collister ist an diesem Tag zurückgekehrt in die Stadt seiner
Kindheit. Er arbeitet seit ein paar Jahren als Hausmeister in Heidelberg.
Jetzt ist er hier, um zu recherchieren, was genau damals geschehen ist.
„Mein Hauptziel ist, Erich Buß vom Thron zu stoßen“, sagt er. Es gibt noch
viele, die den Lehrer in höchsten Ehren halten.
Collister wirft seine Zigarette halb aufgeraucht weg und lässt sich hinters
Steuer seines 80er-Jahre-Mercedes fallen. Die Sitze quietschen leise, aus
dem Radio dudelt Jazz, leere Vorortstraßen ziehen am Fenster vorbei.
Sein Vater war GI, mit der US-Armee in Darmstadt stationiert. Bis er sechs
war, lebte der Junge mit den Eltern in den USA. Dann trennten die sich, der
Vater machte sich davon. Auf dem deutschen Schulhof stand Robert meist
alleine. Die anderen riefen: „Ami, go home!“ Eine Lehrerin wies Buß auf den
Jungen hin. Es war ja bekannt, dass der sich solcher Kinder annahm.
Nach allem, was man über das Missbrauchssystem an der Odenwaldschule weiß,
traf es dort die sogenannten Jugendamtskinder besonders hart. Das
Eliteinternat nahm ein Kontingent von Kindern aus zerrütteten Familien auf,
für die das Jugendamt zahlte. Mit diesen Kindern hatte der pädophile
Schulleiter Becker besonders leichtes Spiel, da sie keinen familiären
Rückhalt genossen. Auch an der Elly-Heuss-Knapp-Schule, damals Grund- und
Hauptschule, traf es vor allem Kinder aus benachteiligten Verhältnissen.
G.: Klein, schwächlich, kränklich. Intelligent. Alkohol in der Familie. A.:
Schüchtern. Sieben Kinder. Waldarbeiter. Keine Freunde. St.:
Milieugeschädigt, ungeordnete Verhältnisse, verwahrlost, gefährdet. S.:
Kleinbürgerliche Verhältnisse. Sehr korpulent. Th.: Arbeiterkind. Kann sich
nicht artikulieren. (April 1978)
Andreas Ratz hat zwei Jahre Traumatherapie hinter sich, hat gelernt, den
Täterhass zu besiegen. Laut zu sagen: „Buß hat mich zwischen meinem zehnten
und 14. Lebensjahr anal vergewaltigt.“ Auch ihm ist wichtig, dass nun alles
rauskommt. „Dann kann ich Frieden finden und den Rest meines Lebens leben.“
Damals ist seine Mutter alleinerziehend, vier Kinder. Buß macht sich die
emotionale Bedürftigkeit der Kinder zunutze.
Ein glänzender Stern ist aufgetaucht: Andreas. Ein heiles Kind, wie es
scheint, mit normalen Reaktionen, sehr frei und kaum zu glauben. (August
1973)
Andreas gilt als intelligent, aber schwierig, er wechselt mehrfach die
Schule. Zu Hause muss sich der Älteste um die jüngeren Geschwister kümmern.
„Buß war der erste Mann, der mir wirklich zuhörte“, erinnert sich Ratz. D…
Lehrer nimmt ihn auf dem Motorrad mit in den Odenwald, Wildschweine
beobachten. „Mich hat er über die Natur gekriegt, bei anderen waren es
Motorräder oder Literatur“, sagt er.
Robert Collister [Name geändert] darf nicht vergessen werden. Andreas R.
[Nachname geändert] wäre mir lieber, aber nur für einen von beiden werde
ich Zeit haben. Und Robert geht vor. (August 1973)
Die Nachmittage liefen immer gleich ab: Erst machten alle Hausaufgaben. Es
gab Essen. Buß kochte Spinat, Fischstäbchen oder Kartoffeln mit Leinöl.
Dann war Zeit für den Mittagsschlaf.
Buß nahm Jungen mit nach oben ins Schlafzimmer, manchmal einen, manchmal
zwei oder drei. Sie waren zwischen fünf und zehn Jahre alt, wenn der
Missbrauch begann. Wer brav war und das Sperma des Lehrers schluckte, bekam
eine Tafel Marzipanschokolade.
Es gab stapelweise Asterix-Hefte, eine Bastelkiste, eine Carrera-Rennbahn.
Bei Buß durften die Kinder viel: Kissenschlachten, nachts Filme gucken,
endloses Videospielen. „Ich hatte keine normalen Freunde“, sagt Robert
Collister, „alle, die ich kannte, waren involviert.“
Die Jungen machten hilflose Witze über das Geschlechtsteil des Lehrers auf
dem Schulhof. „Aber wirklich geredet haben wir nicht, die Scham war zu
groß“, sagt Andreas Ratz.
In den Tagebüchern finden sich viele Hinweise, dass immer wieder Zweifel an
Buß aufkamen – und das es Menschen gab, die ihn deckten.
Im Juni 1964 [] kam Kollege Langner mit einer Warnung, die mich aus den
höchsten Höhen herabriss ins Elend. Es geht ein Gerücht um gegen mich, ich
solle mich in acht nehmen, keine Schüler einladen, keine Waldgänge mit
einzelnen machen (Juli, 1964)
Im Schnitt wenden sich missbrauchte Kinder an bis zu sieben Erwachsene, bis
sie Gehör finden. Andreas Ratz unternahm vier Anläufe, bevor er für Jahre
verstummte. Beim ersten Mal sprach ihn seine Mutter auf die Gerüchte über
Buß an. Er sagte ihr, dass sie stimmten. Nicht so schlimm, meinte sie. Beim
zweiten Mal, mit 14, vertraute er sich einer Freundin an. „Du musst zur
Polizei“, drängte sie. Er ging zur Direktorin. Eine Stunde habe er im
Vorzimmer gewartet. „Ich habe gesagt: Ich bin von Buß missbraucht worden.
Ich und andere.“ Noch jetzt kommen ihm Tränen. „Sie saß kerzengrade da und
sagte kühl, dass sie das nicht ernst nehmen könne. Buß habe einiges für
mich getan. Ich bin da raus, wollte heulen. Aber das konnte ich schon lange
nicht mehr.“
Helga Hager leitete die Elly-Heuss-Knapp-Schule von 1973 bis 1995. Heute
ist sie 80 Jahre alt. Über diese Sache spreche sie nicht so gern, sagt sie
am Telefon. Buß, ein Anhänger der Reformpädagogik, wie sie an der
Odenwaldschule praktiziert wurde, sei mit seiner lockeren Art bei jüngeren
Kollegen beliebt gewesen. Die älteren misstrauten ihm: „Es gab diffuse
Gerüchte. Aber man erfuhr nie was Genaues.“
Im Frühjahr 1974 wird Buß während einer Klassenfahrt ins Tessin mit einem
Schüler beim Ladendiebstahl erwischt. Der Lehrer kommt dort sogar ins
Gefängnis. Die Schulleitung weiß davon. In seiner Personalakte, die im
Darmstädter Staatsarchiv liegt, sind Fehltage vom 3. bis 17. Mai vermerkt:
„abwesend (in der Schweiz inhaftiert)“. Die Angaben wurden an den Schulrat
übermittelt. Später verurteilten ihn die Justizbehörden in Darmstadt in der
Sache zu einer Geldstrafe von 2.600 D-Mark.
Und dann? Werden die Schulbehörden aktiv? Gibt es ein Disziplinarverfahren?
Es passiert: nichts.
Ja, reichlich unkonventionell sei der Kollege gewesen, sagt Rektorin Hager.
„Ich musste ihn ermahnen, keine Schüler auf seinem Motorrad mitzunehmen.“
Unvermittelt erzählt sie dann, dass sie versuchte, bestimmte Kinder aus
Buß’ Klasse fernzuhalten. Ein ehemaliger Schüler, selbst nicht betroffen,
sagt: „Wir wussten damals alle von den ,Neigungen‘ des Herrn Buß! Es wurde
gemunkelt und auf manche Jungs hinter vorgehaltener Hand gezeigt: ’Der hat
sein Mofa vom Buß bekommen.‘ “ Hager bestreitet, je einen Schüler
abgewimmelt zu haben. Von der Verurteilung Buß’ habe sie erst aus der
Zeitung erfahren. Hunderte Opfer? „Nein, nein“, sagt die ehemalige
Schulleiterin, „das kann nicht sein.“
Sie wollen mich mal wieder zum Rektor machen. Nur daß ich diesmal nicht
grundsätzlich nein sage. Ab Herbst Schulwechsel und neue Aufgabe:
Fünfjährige. (April 1970)
Anton Rudolf (Name geändert) lebt nur eine Autostunde entfernt von seinem
Bruder Andreas Ratz, an der polnischen Grenze. Anton, der Jüngere, der
anrennt gegen das System, das den Missbrauch zuließ. Vor zwei Jahren
gründete er eine Aufarbeitungs-AG, fing an, die Behörden mit Briefen zu
bombardieren, erwirkte schließlich den Termin am Mittwoch in Wiesbaden.
Die Opfer fordern, dass sämtliche Jahrgänge des Lehrers Buß über den
Missbrauch informiert werden und dass sich das Schulamt entschuldigt. „Wir
erwarten jetzt endlich Antworten!“, schrieb Anton Rudolf im Mai 2013 in
einem wütenden Brief an den Darmstädter Schulamtsdirektor.
„Anton will Rache“, sagt sein Bruder. Er selbst sagt: „Ich will ein
Eingeständnis, dass das Schulsystem versagt hat.“
Anton Rudolf, 50 Jahre alt, trägt eine starke Brille und wirkt weniger
selbstsicher als sein Bruder. Als Kind sah er schlecht und litt unter einem
Sprachfehler. Bei ihm sei Buß nur einmal übergriffig geworden. Rudolf
erzählt von der Gewalt, die sein hilflos um sich schlagender Bruder in die
Familie trug. Rudolf sagt, dass auch er als Sechstklässler bei der
Direktorin war und später beim Schulrat. Niemand habe ihm geglaubt. „Er hat
unsere Kindheit zerstört“, sagt Rudolf über Buß.
Was genau die Behörden gewusst haben, wurde nie untersucht. Als der Lehrer
wegen Missbrauchs verurteilt wird, erregt der Fall wenig Aufsehen. „Der
Angeklagte brauchte seinen Opfern nur selten einzuschärfen, dass sie über
die sexuellen Handlungen schweigen sollten“, steht in der
Urteilsbegründung, „meist taten diese das von sich aus.“
Anton Rudolf legt einen Ordner voller Briefe und gedruckter E-Mails auf den
Tisch: Korrespondenz mit dem Landesschulamt. Zunächst schreibt eine
Mitarbeiterin des Leitenden Direktors, man sei „sehr betroffen“. Leider
könne man im Archiv nichts mehr finden.
Später wird behauptet, das Urteil von 2005 sei nicht auffindbar, was dann
zurückgenommen wird: Die Akte liegt bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt.
Die Behörde scheint selbst nicht recherchieren zu wollen. Für Anton Rudolf
ist das eine Provokation. Er wendet sich ans Kultusministerium. Sie tun
sich mit anderen Opfern zusammen. Vertreten werden sie von einer
renommierten Anwältin, begleitet vom Betroffenenverein der Odenwaldschule,
Glasbrechen e. V.
Zwei Kolleginnen aus den 80ern sitzen nördlich des Stadtzentrums in einem
Wohnzimmer, umgeben von Stuck, dunklem Holz und Aquarellgemälden. Auf dem
Tisch steht Mohnkuchen mit Schlagsahne. Die Pädagoginnen sagen, das Klima
an der Schule sei damals bestimmt gewesen von Strenge und Autorität. „Der
Erich war völlig anders. Wir sind die Nach-68er-Generation – wir waren auch
anders“, sagt eine von ihnen. Beide wissen inzwischen, was Buß getan hat.
Ihre Begeisterung für den Exkollegen trübt das kaum: „Er hatte einen
ausgesprochen gewitzten Humor. Er war ein hoch gebildeter Mann. Und ein
begnadeter Klavierspieler“, sagt eine, die Stimme hoch vor Euphorie. „Der
Erich war den Schülern zu allererst ein guter Freund. Das behaupte ich
jetzt mal“, stellt die andere fest. Gerade junge Frauen schien der
kultivierte Linke zu beeindrucken, der Schüler duzte, sich scheinbar
rührend um Sorgenkinder kümmerte und Arbeiterlieder mit der Klasse sang.
Auch andere pensionierte Lehrerinnen schwärmen heute noch von seinem
„Ersatzheim“.
Geliebter, halte mich, halte mich! Geliebter, du bist ein Kind. Ich darf
dich gar nicht anrufen, nicht bitten. Ich habe dich schon verloren. Du bist
mein letzter Halt gewesen, du hast mich leben lassen. Nun ist auch dein
Platz leer, und ich bin in der Hölle. Alles um mich ist, wie es war, aber
DU bist nicht mehr da. (Juli 1980)
Es gab die Vermutung, Erich Buß könne schwul sein. Aber selbst darüber,
sagen die Lehrerinnen, hätte niemand offen zu reden. gewagt Auf diese Enge
traf die 68er-Revolution und stellte alle Tabus infrage.
In der Urteilsbegründung von 2005 steht, Buß habe seine Neigungen nach
eigener Aussage zunächst nicht ausgelebt. Dies habe sich Mitte der 60er
geändert. „Er führt dies hauptsächlich auf die ,68er-Revolution‘ zurück.
[…] Das alles habe dazu beigetragen, gewisse Hemmungen zu verlieren.“ Buß
war gut bekannt mit dem Schriftsteller Friedrich Kröhnke, dessen Werk um
die Themen linke Politik und Päderastie kreist. In einem der Bücher wird
Buß’ Name sogar erwähnt. Auch ein Darmstädter Judotrainer, der wegen
sexueller Übergriffe auf Schüler suspendiert wurde, verkehrte in seinem
Haus, wie Tagebucheinträge von 1979 belegen: „Jörg brachte einen Jungen
mit, der an der Tankstelle arbeitet; er ist ständig auf der Suche nach
Jungen.“
Andreas Ratz hat lange gebraucht, um Abstand zu gewinnen. „Es tat noch
Jahrzehnte später weh, zu erkennen: Du warst nicht der Einzige. Anderen hat
er genau das Gleiche versprochen“, sagt er. Und das Gleiche angetan.
Kolleginnen sahen einen Lehrer mit Esprit und Witz. In den Tagebüchern
spiegelt sich das Wesen eines manipulativen Kontrollfreaks. Seine Gunst
vergab und entzog er mit kühler Berechnung. Stets hielt er sich eine Gruppe
von Jungen, die er regelmäßig missbrauchte. Wenn sie zu alt wurden oder
psychisch auffällig, tauschte er sie aus.
Er raucht wie verrückt [], manchmal zwei Päckchen am Tag. Das erschreckt
mich, weil es ein Symptom ist. A. ist abzuschreiben. (Februar 1978)
Zehn Jahre nach seinem letzten Vorstoß versucht Andreas Ratz noch einmal,
sich aus dem System Buß zu befreien. Er ist 24, seinem Peiniger setzt er
ein Ultimatum: freiwilliger Rücktritt – oder Polizei. „Ich wollte nur, dass
er endlich aufhört.“ Ratz lebt da im Odenwald, ist frisch verheiratet, hat
ein kleines Kind. Er erhält einen anonymen Anruf: Wenn er aussage, würden
seine Frau und sein Baby sterben. Am Morgen liegt ein Schaf mit
durchgeschnittener Kehle vor seiner Tür.
Für schmutzige Jobs hatte Buß Schläger. Falls Ratz, schreibt er einmal,
„die Sache in letzter Konsequenz weiter verfolgen will, werde ich ihm
klarmachen, dass ich nichts mehr zu verlieren habe.“ Bei seinem Bruder
liege noch eine Waffe. „Nächste Woche werde ich sie mir holen. Er wird mir
nicht entgehen.“
Ratz zieht weg. Bricht alle Verbindungen ab. Vor drei Jahren bekommt er
wieder Depressionen, Angstzustände. „Die Flashbacks hauten mich um. Es war,
als erlebte ich alles noch mal“, er fährt sich mit den Händen durchs
Gesicht. Inzwischen hat er gelernt, die Bilder zu kontrollieren. Nur seine
Familie bringt ihn immer wieder aus der Balance. Die Mutter, die nun am
Telefon sagt: „Ich fühle mich schuldig, dass ich meine Kinder nicht besser
schützen konnte.“ Sie sei selbst als Jugendliche vom Vater missbraucht
worden. Schlimmer als die Taten sei die Schande gewesen – die habe sie
ihren Kindern ersparen wollen.
„Ich kann längeren Kontakt mit meiner Mutter nur schwer ertragen“, sagt
Andreas, auch mit seinem Bruder Anton hat er Probleme. „Wir stecken alle zu
tief drin, bis heute.“
Robert Collister steuert sein Auto durch eine Straße voller Mietshäuser. Er
sucht Freunde von früher, Zeugen, Verbündeten. Nicht jeder hat auf ihn
gewartet. Die Spuren eines Schulfreundes verlieren sich in einem
Obdachlosenheim, einer soll heroinsüchtig sein, ob er noch lebt, weiß nicht
einmal seine Familie.
Manche Erinnerungen spuken Collister seit Jahren im Kopf herum. Manche
kommen erst jetzt zurück. Buß, der ihm Zungenküsse aufzwingt. Sein
kratziges Kinn. Wie er ihm die Nase zu hält, damit er sein Sperma schluckt.
Er erträgt den Schweißgeruch fremder Männer nicht. Er kann keinen Sport
treiben. Lange hält er es nirgends aus, nicht in Beziehungen, nicht in
Jobs. Gerade hat er keine Wohnung, seine Sachen lagern bei der Firma, für
die er arbeitet: „Das ist das Chaos, das in mir drin ist.“
Dann, es ist 18 Uhr, draußen schon dunkel, und er bemerkt, er könne den
Himmel nicht sehen. Ich knipse das Licht aus [], und er reagiert mit Angst,
indem er vor mir flieht. Ich lege ihm die Hände um den Hals und drücke
leicht zu und sage: Wer Angst hat, reizt zum Angriff. (Oktober 1967)
Am Nachmittag bricht die Sonne durch die Wolken über Darmstadt. In
Collisters Wagen wechseln Licht und Schatten. Er hält an und läuft auf ein
Haus zu, in dem früher ein Freund lebte. „Der war damals mit uns auf
Korsika“, sagt er. Buß vergewaltigte die zwei Jungen im Urlaub mehrmals
täglich. Sie schlossen sich in der Dusche ein, sagt Collister. Sie
stritten. Du bist dran. Nein, du.
Jetzt, mehr als 40 Jahre später, sucht Robert Collister nach weiteren
Bruchstücken. „Auf eine Art wird die Suche nie beendet sein“, sagt er. Am
Haus steht auf dem Klingelbrett noch der Name des Freundes. Collister
drückt. Keine Antwort. Er versucht es noch einmal, dann hastet er zum Auto
zurück. Er hat noch einige Adressen vor sich.
16 Mar 2015
## AUTOREN
Nina Apin
Gabriela Keller
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