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# taz.de -- Sexuelle Gewalt an Schülern: Buchhalter des Missbrauchs
> Jahrzehntelang missbrauchte ein hessischer Lehrer seine Schüler. Ein
> Bericht belegt, wie die Behörden dabei versagten, die Kinder zu schützen.
Bild: Präsentation des Berichts zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs an …
Endlich fühle ich mich wertgeschätzt“, sagt Robert Collister und setzt für
die Pressefotografen ein breites Lächeln auf. „Ihr wart super“, ruft er den
Juristinnen Claudia Burgsmüller und Brigitte Tilmann zu, die zuvor
sichtlich bewegt aus einem mehr als 170 Seiten umfassenden Dokument
vorgelesen hatten.
Der Bericht, den Burgsmüller und Tilmann im Auftrag des Hessischen
Kultusministeriums verfasst haben, analysiert eine mehr als 30 Jahre
dauernde Missbrauchsserie an einer Darmstädter Schule. Ein pädophiler
Lehrer missbrauchte dort männliche Grund-und Hauptschüler. Das Dokument
basiert auf persönlichen Aussagen von 35 Betroffenen,
Zeitzeugen-Interviews, Aufzeichnungen des Täters und Behördenakten. Es
zeichnet eine deprimierende Kette des Versagens von Institutionen, Behörden
und Privatpersonen nach. Die wichtigsten Erkenntnisse trugen Burgsmüller
und Tilmann abwechselnd vor.
Robert Collister war nicht der Einzige, der am Donnerstagmittag das
Kultusministerium in Wiesbaden in gelöster Stimmung verließ. Insgesamt
sechs Betroffene und ein Elternpaar waren auf der Pressekonferenz im
Kultusministerium. Sie nahmen mit Genugtuung zur Kenntnis, dass Hessens
Kultusstaatssekretär Manuel Lösel sich, anderthalb Jahre nach einem ersten
Gesprächstermin mit Betroffenen, auf die Zahlung eines symbolischen
Schmerzensgelds in Höhe von 10.000 Euro pro Person festlegte. Auch Lösels
Entschuldigung bei den Betroffenen im Namen des Landes Hessen war für viele
mehr als eine Geste. „Das war überfällig“, seufzte einer erleichtert.
Dem Termin in Wiesbaden war ein langer Leidensweg der Opfer vorausgegangen.
Und jahrelange Ignoranz der Behörden. Der Täter Erich Buß, der fast vierzig
Jahre im Schuldienst des Landes Hessen stand, 33 davon als Lehrer an der
Grund- und Elly-Heuss-Knapp-Hauptschule in Darmstadt, hat ganz sicher
Dutzende und vermutlich mehr als hundert Jungen sexuell missbraucht. Seine
zwischen 1961 und 1994 begangenen Taten konnte er unbehelligt ausführen,
bis über die Pensionierung hinaus – obwohl Kinder immer wieder versuchten,
Gehör bei Eltern, Lehrern, der Schulleitung und der Schulaufsicht zu
finden. Drei Ermittlungsverfahren verliefen im Sande. Erst 2005 wurde er
vor Gericht gestellt und in 15 nicht verjährten Fällen zu vier Jahren Haft
verurteilt, er starb 2008 in einer psychiatrischen Klinik.
Nur der Beharrlichkeit einer Handvoll Betroffener ist es zu verdanken, dass
im März 2015 die taz dem Fall eine große Recherche widmete. Andere Medien
und engagierte hessische ParlamentarierInnen zogen nach und stießen einen
Prozess an, der zu einer systematischen, unabhängigen Aufarbeitung führte.
## Abhängigkeitsbeziehungen bis weit ins Erwachsenenalter
Burgsmüller und Tilmann, die bereits die Missbrauchsserie an der
Odenwaldschule untersucht hatten, hoben in ihrem Vortrag das gravierende
Versagen der Darmstädter Staatsanwaltschaft hervor. Zwischen 1973 und 2000
habe es insgesamt vier konkrete Anfangsverdachte auf sexuellen Missbrauch
an Schutzbefohlenen und den Besitz von Kinderpornografie gegeben, denen die
Behörden nicht nachgingen. Am gravierendsten: Nach einer Verurteilung 1973
in der Schweiz gaben die dortigen Ermittler ebenfalls Alarm, trotzdem
durfte der Täter in den Schuldienst zurückkehren. „Was mich heute noch
erschüttert: Hätten die Behörden damals ordentlich gearbeitet, wären
Jahrzehnte sexuellen Missbrauchs verhindert worden“, sagt Tilmann.
Erst 2001 kam es zur Strafverfolgung. Selbst dann hätten, wie Burgsmüller
sagte, die Behörden „in unsäglicher Weise“ ermittelt, die Kinder aus
vermeintlich unterprivilegierten Familien nicht angehört oder für
unglaubwürdig erklärt. Der Täter aber erhielt die niedrigstmögliche Strafe.
Heute sei die Sensibilität für sexuellen Kindesmissbrauch zwar höher,
sagten die Juristinnen. Aber als Lehre aus dem Fall Buß müsse man künftig
Richter und Staatsanwälte besser für den Umgang mit Missbrauchsfällen
schulen.
Der Fall ist ein besonderer, das belegt der Bericht noch einmal
eindrucksvoll. Der Täter wird darin demaskiert als narzisstischer
Manipulator, der bei der Auswahl seiner Opfer planvoll vorging: Er band vor
allem Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen an sich, um sie dann zu
missbrauchen – oft jahrelang. Er verschaffte sich als väterlicher Freund
Zugang zu Familien, wickelte die Mütter ein.
Im Kollegium stilisierte er sich als fortschrittlicher Pädagoge im Geist
von 1968. So stellte er sicher, dass er ungestört Kinder zu sich nach Hause
einladen, ja sogar mit sich in den Urlaub nehmen konnte. Das Schweigen
seiner Opfer erkaufte er mit Geschenken, schreckte aber auch vor Drohungen
und körperlicher Gewalt nicht zurück.
Die Handlungen, die er an den Kindern und Jugendlichen ausübte, reichten
von wechselseitigem Onanieren bis zu Analverkehr unter Gewaltanwendung –
Betroffene berichten von Übergriffen mehrmals täglich und von
Abhängigkeitsbeziehungen bis weit ins Erwachsenenalter. Über seine
Beziehungen zu Kindern, Müttern und KollegInnen führte Buß Buch, auch seine
Verbrechen verzeichnete er – akribisch wie ein Buchhalter und stets in
Angst vor Entdeckung. Das ungewöhnlich zahlreich vorhandene Material gibt
einen seltenen Einblick in die Psyche eines Mannes, der über Jahre Kinder
missbraucht.
## 10.000 Euro für ein verbautes Leben
Der Bericht soll eine klare Fehleranalyse bieten, aus der die
Schulverantwortlichen von heute lernen können. Das Land Hessen verspricht,
die Ergebnisse ernstzunehmen: „Die Studie ist erst der Anfang“, versprach
Staatssekretär Lösel am Donnerstag. Hessen will die Präventionsarbeit
massiv verstärken; bis Jahresende sollen alle Schulen eine Handreichung für
den Umgang mit sexueller Gewalt erhalten. Derzeit führt das Land in neunten
und zehnten Klassen eine repräsentative Studie durch, um jugendliche
Betroffene zum Sprechen zu ermuntern. Auch die Lehrerfortbildung soll
verbessert, ein Hilfetelefon für Betroffene eingerichtet werden.
Die Juristin Claudia Burgsmüller sieht diese Ankündigungen mit Skepsis: „Es
gibt bislang nicht einmal eine Beratungseinrichtung für männliche
Missbrauchsopfer in Hessen, das sollte sich dringend ändern.“
Auch Koljar Wlazik, einer der Betroffenen, die sich zur Initiative „Das
Schweigen brechen“ zusammengeschlossen haben, will sich nicht von den
Versprechen des Landes über das ihm angetane Unrecht hinwegtrösten lassen.
„Es war die Aufgabe der Behörden, uns zu beschützen, das haben sie nicht
getan. Das ist nicht wiedergutzumachen.“ Der Initiative gehen die
Bemühungen des Landes nicht weit genug: Sie fordert in einer
Presseerklärung einen Erste-Hilfe-Fonds für Betroffene, ein rückwirkendes
Krankentagegeld – und ein Denkmal im Darmstädter Stadtraum für die
vergewaltigten Kinder.
Nach dem Pressetermin sitzen die sechs Männer und das Elternpaar noch in
einem Café zusammen. Es ist fast wie ein kleines Klassentreffen, allerdings
kein sehr fröhliches. Sie erzählen sich von anderen „Buß-Kindern“, die in
Obdachlosigkeit und Sucht abgeglitten sind – oder tot. Sie tauschen
Erinnerungen aus und Therapie-Tipps. Manche haben es zu beruflichem Erfolg
gebracht, haben Familie, viele straucheln bis heute.
Alle hat das Erlittene geprägt: Einer kann bis heute nicht zum Zahnarzt,
weil sich dort ein Mann über ihn beugt und etwas in seinen Mund schiebt.
Ein anderer kann seinen Kindern keine Nähe geben. Ein Dritter wähnte sich
jahrelang unbetroffen – bis der Anblick eines Fotos von Buß' Wohnzimmer ihn
jäh übermannte: Psychiatrie, Traumatherapie, jetzt tastet er sich langsam
ins Leben zurück. „Es wird vielleicht besser – aber zu Ende ist es nie“,
sagt einer. Und alle nicken. 10.000 Euro seien wenig für ein verbautes
Leben, sagt Robert Collister zum Abschied. Aber vielleicht reiche es ja für
neue Zähne. „Dann schicke ich euch allen ein Foto.“
23 Sep 2016
## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
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