Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ende einer Reformschule: Die Odenwaldschüler kämpfen
> Deutschlands bekannteste Reformschule steht vor dem Aus. Die Schule
> brauchte zu lange, um den Missbrauch aufzuarbeiten.
Bild: Sie wollen nicht die letzten Schüler an der Odenwaldschule sein.
OBER-HAMBACH/BERLIN taz | Die Odenwaldschule wird schließen. Das verkündete
der Trägerverein am vergangenen Wochenende. Doch die Schülerschaft wehrt
sich. „Nehmt uns nicht unsere Heimat“, forderten sie auf einer Demo am
Montag. Sie hoffen, dass das deutschlandweit einmalige Konzept noch eine
Chance bekommt. Am Wochenende findet ein letztes Treffen möglicher
Sponsoren statt.
Es sind genau sechzehn kleine, flache Häuser, meistens Fachwerk, die da
ganz oben auf dem südhessischen Schlossberg im Odenwald stehen. Etwas
verwinkelt, von außen ein bisschen von der Zeit gezeichnet. Nicht bis ins
Anonyme standardisiert und auf Hochglanz getrimmt, wie sonst viele neuere
Schulen und Universitäten.
Kleine, teils mit Kieselsteinen ausgelegte Pfade verbinden die lose
verstreuten flachen Gebäude auf der grünen Wiese. Das ist die
Odenwaldschule. Ein eigenes kleines Dorf. Danach kommen nur noch Wald, Feld
und die Bergspitze. Dass manche Bauten so flach sind, kann sinnbildlich für
die Schule verstanden werden, die als eine der ersten auf flache
Hierarchien setzte.
Wer hochkommen will, nimmt am besten den Bus, der einmal pro Stunde vom
Heppenheimer Bahnhof fährt. „Fahrrad? Da sind Sie sehr ambitioniert“, sagt
der Pressesprecher der Schule, Dirk Metz. Doch die Fahrt lohnt sich. Viel
falsch machen kann man nicht. Nach Heppenheim folgt Hambach. Schon hier
gibt es nur zwei Straßen, um die sich herum das Örtchen scharrt. In
Ober-Hambach, das darauf folgt, nur noch eine. Und oben, zur Odenwaldschule
hin, ist die Straße sogar einspurig. Es ist ruhig an dem Mittwochmittag.
Auf dem Weg fährt man an Traktoren vorbei.
## Nach 105 Jahren
Oben, am Ziel, skatet ein Junge, ein Mädchen fährt Rad. Eine Gruppe gut
angezogener Menschen wartet am Mittwochmittag neben dem unübersehbar
platzierten schuleigenen Traktor. An dem hängt eines der Transparente der
Schüler: „Stellt euch vor, ihr verliert eure Heimat“. Alles ist gut
organisiert. Ein paar Schülerinnen und Schüler haben sich vorab bereit
erklärt, die Pressevertreter über ihren Schulhof zu führen. Viele sind
gekommen, jetzt wo klar ist, dass ihre Schule vor dem Aus steht, die „OSO“,
wie sie sie intern nennen.
Wenn zum Ende des Schuljahres die Odenwaldschule im 105. Jahr ihres
Bestehens den Betrieb einstellt, stehen 149 Schüler ohne Schule und, im
Fall der Internatsschüler, ohne Dach über dem Kopf da. Unter ihnen knapp
zwei Dutzend Kinder, die vom Jugendamt in Obhut genommen und auf die
renommierte hessische Privatschule geschickt wurden. „Es wird nicht leicht
sein, etwas zu finden, wo die Kinder hinkommen. Viele hier fallen aus allen
Systemen“, sagt Internatsleiterin Sonya Mayoufi.
Da ist zum Beispiel Brendan, einer dieser Jugendamtsfälle. „Ich galt für
maximal hauptschulabschlussfähig, bevor ich herkam“, sagt er. Brendan hat
ein offenes, freundliches Lächeln. Wie ein Problemschüler sieht er ganz und
gar nicht aus. Der 18-Jährige wird dieses Jahr an der Odenwaldschule seinen
Fachhochschulabschluss erfolgreich beenden und – wie nur an der OSO möglich
– gleichzeitig eine Lehre zum Schreiner absolviert haben. Für ihn ging es
gut aus, er ist dieses Jahr so und so fertig mit der Schule.
## Trennung kurz vorm Abitur
„Ich will nicht gehen“, sagt Schülerin Charlotte, sagt Schüler Brendan,
sagt Thomas, sagt Sophia, sagt Friedrich; sagen alle an dem Tag. Die Wörter
„Heimat“ und „Freunde“ fallen oft. Ein Aus der Schule würde für viele…
auch bedeuten, noch mitten in der Qualifizierungsphase fürs Abitur die
Schule wechseln zu müssen, teils in ganz andere Schulsysteme.
„Wir sind hier aufgewachsen, sind eine Familie. Wenn man uns trennen würde,
das wäre fatal so kurz vorm Abitur“, sagt der Schülersprecher Friedrich,
der die 12. Klasse besucht und dem genau das bevorstünde. Gerade jetzt
schlage die Stimmung um: „Davor hat man nur auf den Skandal geschaut. Aber
jetzt fällt vielen auf, dass die Schule einzigartig ist. Dass wirklich
etwas fehlen würde, wenn es die OSO nicht mehr gibt.“
Samstag wird noch einmal Konferenz sein. Wider Erwarten haben sich einige
gemeldet, Altschüler, Freunde der Schule, die das Ende nicht akzeptieren
wollen. „Wir hoffen“, sagen Schüler.
Zumindest in der Theorie, zumindest anfangs verwirklichte das 1910 von dem
Pädagogen Paul Geheeb (1879–1961) gegründete Internat im südhessischen Wald
die Ideale der Landerziehungsheimbewegung: Lernen in Gemeinschaft, in
idyllischer Umgebung. Jedes Kind als Persönlichkeit angenommen, begleitet
und liebevoll inspiriert durch Pädagogen, die sich der „Neuen Erziehung“
verpflichtet sehen: fächerübergreifendes und projektorientiertes Lernen,
offener Unterricht – ein Gegengewicht zu Kasernendrill und geistloser
Paukerei.
Besonders die liberal gesinnte Elite der Bundesrepublik ließ ihren
Nachwuchs in diesem Geist erziehen. Zu den Alumni der Odenwaldschule zählen
Klaus Mann, Daniel Cohn-Bendit, Andreas von Weizsäcker.
## Systematische sexuelle Ausbeutung
Doch die Odenwaldschule, das war auch: Verwahrlosung,
Verantwortungslosigkeit – und sexuelle Gewalt an Schülern, begangen und
systematisch organisiert durch Lehrer. Ein Kreis um den renommierten
Reformpädagogen und langjährigen Schulleiter Gerold Becker (1936–2010)
verübte unter dem Deckmantel der „Nähe zum Kinder“ diese Verbrechen, von
denen sich die einstige Vorzeigeschule nie wieder erholen sollte. 132 Fälle
aus den Jahren 1971 bis 1985 sind bislang dokumentiert. Vierzehn Jahre, in
denen die systematische sexuelle Ausbeutung von Schutzbefohlenen
stattfinden konnte, ohne dass etwas nach außen drang.
Nach dem ersten Hilfeschrei Betroffener vergingen noch einmal unfassbare 11
Jahre, bis der Skandal öffentlich wurde. Immer wieder versuchten die privat
finanzierte Schule und ihr mächtiger Trägerverein, die Aufklärung zu
behindern und Opfer einzuschüchtern. Das gelang irgendwann nicht mehr. Die
Aufarbeitung war unvermeidlich. Der Ausmaß des Missbrauchs und die
Vernetzung der Täter, die zwei unabhängige Juristinnen aufdeckten,
schockierten die Öffentlichkeit.
Die OSO – und mit ihr ein Großteil der reformpädagogischen Zunft – haben …
versäumt, die Verbrechen an der Odenwaldschule zum Anlass für eine
gründliche Hinterfragung der eigenen Prinzipien und Strukturen zu nehmen.
Zwar unterzog man sich einem „Schulentwicklungsprozess“, erarbeitete ein
Präventionskonzept, installierte Ombudsleute. Aber immer schnellere Wechsel
in Schulleitung und Vorstand zeigten, dass die Schule den erlittenen
Vertrauensverlust nicht mehr wettmachen konnte: Die Anmeldezahlen sanken
stetig.
## Bewegung lebt weiter
Als dann letztes Jahr ein Lehrer wegen Besitzes von Kinderpornografie
entlassen werden musste, drohte die hessische Schulaufsicht mit dem Entzug
der Betriebserlaubnis, der Opferverein forderte die Schließung.
Mit der Odenwaldschule wäre zwar ein Aushängeschild der deutschen
Reformpädagogik am Ende, nicht aber die ganze Bewegung: Die Bielefelder
Laborschule, die nach dem Jenaplan-Prinzip des Pädagogen Peter Petersen
arbeitenden Schulen … an Alternativen zum konventionellen Schulbetrieb
herrscht kein Mangel.
An der OSO selbst glauben viele, dass die Schule nur eine Chance braucht,
um zu beweisen, dass sich viel geändert hat. „Dieses ganze Präventionszeug
nervt fast, so viel ist das seit dem Skandal“, findet Schüler Brendan.
Jedes Internatshaus habe heute eine eigene schulfremde Ombudsperson, deren
Nummer präsent in jedem Flur hinge. Und seine Mitschülerin Charlotte nickt:
„Wir wollen nur eine Chance, von dem altem Image wegzukommen und zu zeigen,
dass sich hier alles verändert hat.“
„Die Eltern stehen in den Startlöchern. Die wollen ihre Kinder anmelden“,
sagt Gabriele Magsam, die Vorsitzende des Elternbeirats. „Aber die
Anmeldungen kommen nur, wenn der Schulbetrieb fürs Erste gesichert ist.
Dafür brauchen wir jetzt einen Geldgeber.“
2 May 2015
## AUTOREN
Alina Leimbach
Nina Apin
## TAGS
Reformpädagogik
Sexuelle Gewalt
Odenwaldschule
Lesestück Recherche und Reportage
Odenwaldschule
Odenwaldschule
sexueller Missbrauch
Missbrauch
Odenwaldschule
Odenwaldschule
sexueller Missbrauch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sexuelle Gewalt an Schülern: Buchhalter des Missbrauchs
Jahrzehntelang missbrauchte ein hessischer Lehrer seine Schüler. Ein
Bericht belegt, wie die Behörden dabei versagten, die Kinder zu schützen.
Kommentar Odenwaldschule: Neugründung verpasst
Die Reformschule hätte sich viel eher radikal reformieren und neu gründen
müssen. Zum ihrem Aus gibt es keine Alternative.
Umstrittenes Internat: Odenwaldschule meldet Insolvenz an
Vor kurzem schien die Finanzierung noch gesichert, jetzt steht das
Privatinternat vor dem Aus. 2010 war ein Missbrauchsskandal öffentlich
geworden.
Odenwaldschule bleibt geöffnet: Schulbetrieb für drei Jahre gesichert
Schüler und Eltern sind erleichtert: Durch Spenden konnten genug Mittel
eingeworben werden, um die Schule vorläufig zu retten.
Odenwaldschule schließt: Kein Kredit mehr
Über Jahre kämpfte die Odenwaldschule mit der Verarbeitung eines
Missbrauchsskandals. Jetzt muss die Einrichtung aus finanziellen Gründen
schließen.
Film über Odenwaldschule: Pädagogischer Eros im Bademantel
Der ARD-Film „Die Auserwählten“ zeigt den Missbrauch an der Odenwaldschule
wohl zu konkret. Zwei Ex-Schüler wollten die Ausstrahlung verhindern.
Odenwaldschule mit neuem Konzept: Altschüler sollen den Ruf retten
Die Odenwaldschule hat ihr Wohnkonzept überarbeitet und plant eine neue
Rechtsform. Ehemalige sollen Anteile zeichnen und die Existenz sichern.
Regisseurin über die Odenwaldschule: „Becker hat mich regelrecht verfolgt“
Als Odenwaldschülerin stritt sich Elfe Brandenburger mit dem pädophilen
Schulleiter Gerold Becker um Jungs. Jetzt verarbeitet sie ihre Erinnerungen
in einem Film.
Neuer Bericht zur Odenwaldschule: Missbrauch mit System
Ein Bericht schildert anhand von Einzelschicksalen die institutionelle
Gewalt an der Odenwaldschule. Bei den mehr als 130 Fällen von Missbrauch
waren besonders Jungs betroffen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.