Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Missbrauchsbeziehung mit dem Lehrer: Schweigen heißt Ja
> Als Teenager geht Marina ein Verhältnis mit ihrem Lehrer ein. Jahre
> später wird ihr klar: Es war Missbrauch, sie nicht sein einziges Opfer.
Dass meine erste Beziehung ein Missbrauch war, habe ich erst nach 12 Jahren
verstanden. Es war keine plötzliche Erkenntnis, sondern eine langsame,
eine, die einsickerte, immer wieder aufgehalten durch Zweifel, meistens an
meiner eigenen Urteilskraft. Doch an den Moment, in dem das Bild meiner
Beziehung zu meinem Schullehrer Risse bekam, erinnere ich mich genau.
Es ist ein Tag im September 2011, ich schreibe Alina*, eine seiner
Schülerinnen, eine Nachricht: Wie gut versteht sie sich mit ihm? Ich bin
aus der Schule raus, studiere seit Kurzem, habe keinen Kontakt mehr zu ihm,
aber in meinem Kopf ist er noch immer und es geht mir nicht gut. „Wir sind
zusammen“, schreibt Alina zurück, „seit einem halben Jahr“.
Ich rechne nach – sie war noch keine 14 Jahre alt, als das, was Alina als
Beziehung bezeichnet, begonnen hat. Nun ist klar, was ich ahnte, und wovor
ich mich so gefürchtet hatte: Alina ist sein neues Opfer. Von meinem
Gesicht rinnen Tränen auf die Tastatur meines Computers. Ich tippe eine
Antwort: „Wir müssen uns dringend treffen“.
An diesem Tag, vor fast 12 Jahren, beginnt die Aufarbeitung jener
Ereignisse in meiner Jugend, für die ich mir lange Zeit selbst die Schuld
gab. Eine Jugend, in der meine Grenzen von einem erwachsenen Mann in einer
Machtposition so verschoben wurden, dass [1][ich darin keinen Missbrauch
erkannte]. Eine, meine Geschichte, über die ich lange schwieg und die ich
jetzt bereit bin zu erzählen, um jenes Schweigen zu brechen, das Täter
schützt und Betroffene sich selbst überlässt.
Dieser Text beruht überwiegend auf Erinnerungen. Aus Schmerz und
Selbstschutz habe ich vor einigen Jahren alle Chat-Nachrichten und SMS
zwischen mir und meinem Lehrer gelöscht. Es gibt jedoch Belege für [2][sein
sexualisierendes und manipulatives Verhalten] gegenüber Mitschülerinnen in
Postings und Online-Kommentaren, Fotos, die eine ungewöhnliche körperliche
Nähe zu mir und anderen Schülerinnen zeigen, sowie Zeugnisse weiterer
Betroffener, die die taz geprüft hat.
Zu ihrem Schutz und meinem sind alle Namen in diesem Text anonymisiert,
auch meiner und der des Lehrers. Die wahren Namen sind der Redaktion
bekannt, ihre Identität wurde verifiziert. Die taz hat den Lehrer mit den
Vorwürfen, die ich ihm gegenüber erhebe, konfrontiert.
## Der neue Lehrer
Meine Geschichte beginnt in Belarus, dort komme ich her. Der Ort spielt
hier jedoch keine Rolle, denn Missbrauch kennt keine geografischen Grenzen.
Als ich 2010 die 11. Klasse besuche, kommt er an unsere Schule: der neue
Deutschlehrer.
Ich bin 16 Jahre alt, eine Außenseiterin mit guten Noten, oft fühle ich
mich einsam. Trotzdem bekomme auch ich mit, dass alle über ihn reden, den
27-jährigen Herrn Kirill Danilow. Mittelgroß, Brille, ein Anzug mit zu
breiten Hosenbeinen und einem zu kurzen Kragen. Er scheint immer in Eile zu
sein, Stirn nach vorne, kleine, schnelle Schritte.
Wenige Wochen später sitze ich mit ein paar anderen zusammen in einer Art
Spezialunterricht. Wir bereiten uns auf den nationalen Deutschwettbewerb
vor. Herr Danilow ist unser Lehrer. Er wirkt nun entspannter, trägt
lässig-sportliche Kleidung, macht Witze und spricht akzentfrei Deutsch.
Sein Unterricht ist anders als alles, was wir bisher kannten. Er bringt uns
Umgangssprache bei, verliert kein Wort über Schiller und Goethe. Wir lachen
viel, wir mögen ihn.
Eines Tages spricht er mich nach dem Unterricht an. Wir bleiben allein im
Raum, er gibt mir Tipps, wie ich mich besser auf den Wettbewerb vorbereiten
kann, macht Witze und berührt mich dabei gelegentlich. Es sind keine
flüchtigen Berührungen, die irritieren. Hier ein fester ermutigender Griff
an die Schultern, da ein beruhigendes Tätscheln auf den Rücken, alles bloß
etwas zu lang und zu oft. Ich nehme das wahr, mache mir aber nichts daraus.
Er ist eben kein gewöhnlicher Lehrer, er spricht mit uns auf Augenhöhe.
Am selben Abend bekomme ich eine Freundschaftsanfrage von ihm im Sozialen
Netzwerk Vkontakte, einer russischen Alternative zu Facebook. Das
schmeichelt mir, ich akzeptiere die Anfrage. Sofort bekomme ich eine
Chat-Nachricht. Er witzelt herum, zieht mich auf, ich necke zurück. Viele
unserer zukünftigen Gespräche werden dieser Dynamik folgen. Und in vielen
kokettiert er mit unserem Altersunterschied.
Täglich verbringe ich mehrere Stunden online. Auch in der Schule suchen wir
häufiger Kontakt zueinander, in den Pausen, nach dem Unterricht. Er schlägt
vor, dass wir uns duzen. Ich weiß, das gilt nur, wenn wir allein sind.
Irgendwann ruft er mich nach der Schule an, von da an telefonieren wir
beinahe jeden Tag. Ab und zu hört er am Telefon, wie meine Eltern im
Hintergrund streiten. Dann lege ich auf. Er bekommt mit, dass ich meinen
Vater selten nüchtern sehe, dass meine Eltern seit Jahren geschieden sind,
aber es sich nicht leisten können, auseinander zu ziehen. Dass ich gerne
länger in der Schule bleibe, weil es dort ruhiger ist als in der
Zwei-Zimmer-Wohnung, in der wir zu viert wohnen. Kurz: Dass ich verletzlich
bin.
Ich erzähle und er hört zu, und andersherum, auf Augenhöhe, so fühlt es
sich an. Noch nie hat mir ein Mann so viel Aufmerksamkeit geschenkt und
sich so geöffnet, geschweige denn ein Lehrer. Ich fühle mich besonders.
Immer wieder sagt er, ich sei viel zu klug für eine 16-Jährige. Von
Erwachsenen höre ich das nicht zum ersten Mal, doch zum ersten Mal ist der
Erwachsene – mein Freund. Zum ersten Mal macht mich das Klugsein nicht zum
Out-, sondern zum Insider.
Um mehr über typische Verhaltensmuster von Tätern und Betroffenen von
Missbrauch zu erfahren, habe ich Jahre später mit der Psychotherapeutin und
Sexologin Jewgenija Smolenskaja gesprochen, die mit beiden Gruppen
arbeitet.
Sie sagt, in der Psychologie bezeichnet man im Bereich der Pädokriminalität
den engen Kontakt, der damals zwischen mir und meinem Lehrer entsteht, als
Grooming. Das englische Wort bedeutet wörtlich übersetzt „Pflegen“ und wi…
im Zusammenhang mit Tieren oder Nutzgegenständen benutzt. Im Kontext von
Missbrauch meint er jedoch das langsame Sich-Annähern eines Erwachsenen an
ein Kind oder an Jugendliche, das gezielte Aufbauen einer vertraulichen
Beziehung, um sie so zu sexuellen Handlungen zu bringen.
„Es ist relativ einfach, Kinder und Jugendliche zu beeindrucken“, sagt
Smolenskaja, „deswegen bekommen die Täter ziemlich schnell eine emotionale
Antwort von ihnen.“ Zu erkennen, ab wann es zum offensichtlichen Missbrauch
kommt, sei schwer, weil insbesondere Jugendliche sich verlieben und ab
einem gewissen Zeitpunkt diesen Kontakt selbst suchen können.
Damals habe ich keine Ahnung, was [3][Grooming] bedeutet, aber in jedem
unserer Gespräche spüre ich eine Doppeldeutigkeit, die mich in Verlegenheit
bringt. Sätze wie „Niemand liebt mich“ und „Ich bin ja nur ein Lehrer f�…
dich“, nach denen er stumm wird und ich das Gefühl habe, ihm zu
widersprechen, gut zureden, ihn auffangen zu müssen. Ich bin verunsichert.
In meinen Antworten weiche ich meistens irgendwie aus oder mache alles zum
Witz: „Kein Wunder, so eine Nervensäge wie dich kann man nur schwer lieben,
Grinse-Smiley“.
So ungefähr geht dieses Ping-Pong weiter, bis ich eines Tages eine
Nachricht bekomme, die alles verändert: „Ich liebe dich.“
Ich sitze zu Hause in der Küche und starre auf die drei Wörter auf dem
kleinen Bildschirm meines Handys. Ich klappe es zusammen und auf, zusammen
und auf. Ich gucke aus dem Fenster, es schneit. Ich antworte nicht und lege
das Handy weg.
## Die Entscheidung
Später am Abend ruft er mich an, sagt, ich solle mich nicht unter Druck
gesetzt fühlen. Er werde bald fast einen Monat lang auf einer
Schulexkursion sein, und ich hätte Zeit, eine „Entscheidung“ zu treffen.
Was er damit meint, eine Entscheidung treffen, führt er nicht aus. Nur
soviel: Wenn er zurückkomme, würde ich nichts sagen müssen. Ich solle ihm
einfach in die Augen sehen – er werde dann alles verstehen. Ich bin 16, ich
finde das romantisch.
Doch der Kontakt bricht während dieser Zeit nicht ab. Wir telefonieren,
jeden Tag, manchmal stundenlang. Nur eins scheint meinem Leben noch
Struktur zu geben – der Klingelton meines Handys. Wir reden viel über meine
Familie. Er beruhigt mich, wenn es zu Hause mal wieder kracht, und sagt, es
sei nicht meine Schuld. Er hört zu – und immer öfter bin ich es nun, die
ihn anruft.
Irgendwann sagt er fast beiläufig, dass er während unserer Gespräche
manchmal masturbiere. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich bin
angewidert, aber ich will auch nicht kindisch oder unerfahren wirken, also
schweige ich. Wie genau die Unterhaltung weitergeht, erinnere ich nicht
mehr.
Über Sex wird in meiner Familie nur eins gesagt: dass er in der Ehe
stattfinden soll. [4][In der Schule beschränkt sich die Sexualaufklärung]
auf Horror-Geschichten über Geschlechtskrankheiten. Persönlich habe ich
zwei oder drei Pornofilme gesehen, das war's. Erst durch ihn verstehe ich,
dass das, was ich manchmal mit meinem Körper mache und wofür ich – einmal
von meiner Mutter erwischt – gerügt wurde, Selbstbefriedigung ist. Von ihm
zu hören, dass das völlig okay ist, fühlt sich befreiend an.
Er füttert mich mit Wissen, das ich aufsauge wie ein Schwamm und nicht
hinterfrage. Ich lerne das Wort frigide und dass es ganz schlimm sei, wenn
eine Frau so ist. Er doziert, dass Frauen im Intimbereich glatt rasiert
sein müssten, denn es gebe nichts Ekligeres als Haare dort.
Welche Unterwäsche ich gerade anhabe, fragt er mich einmal. Ich gucke in
meine Hose – pastellfarben, Baumwolle, loser Faden – und antworte: schwarz,
Spitze. Es ist mir unangenehm, aber ich will nicht das frigide Mädchen
sein, nicht für ihn.
Als er von der Reise zurückkommt, weiß ich immer noch nicht, was ich ihm
auf seine Liebesbekundung antworten soll. Einerseits macht mir die
Vorstellung von einem Leben ohne unsere Gespräche Angst. Gleichzeitig fühlt
es sich nicht gut an, immer wieder von ihm an meine persönlichen Grenzen
getrieben zu werden und darüber hinaus. Als wir uns wieder im Schulkorridor
treffen, schaue ich ihm schweigend in die Augen. Er nickt, kaum bemerkbar.
Schweigen heißt ja.
Damit beginnt der Abschnitt, den ich auch viele Jahre nach seinem Ende noch
als Beziehung bezeichnen werde. Diese Beziehung in Anführungsstrichen
entwickelt sich hauptsächlich innerhalb der Schule. Wir verbringen immer
mehr Zeit miteinander. Wenn ich schon Schul-Aus habe, sitze ich bei ihm im
Klassenzimmer, auch wenn er gerade noch andere Klassen unterrichtet. Seine
Schüler*innen stellen keine Fragen, genauso wenig wie die Lehrer*innen,
die ab und zu reinkommen.
War es mein Ruf der Schulbesten, der sie ablenkte, die Angst vor der
Erkenntnis, vor dem Tabubruch, der sie zu unbequemem Handeln gezwungen
hätte, oder war es Gleichgültigkeit, die die Lehrer*innen schweigen
ließ? Bis heute habe ich darauf keine Antwort.
Woche für Woche reizt er die Verbotenheit unseres Verhältnisses weiter aus,
küsst mich unerwartet in einem leeren Flur, streichelt beim Vorbeigehen
flüchtig meinen Nacken, ruft mich im Unterricht zu seinem Tisch und greift
mir darunter zwischen die Beine. Jedes Mal falle ich vor Angst fast um, und
genieße es.
## Höhen und Tiefen
Nach drei Monaten verändert sich etwas. Er kommt verkatert in den
Unterricht. Ich kenne diesen Geruch gut, dezent säuerlich und bitter. Als
der Unterricht beginnt, gibt er mir Aufgaben, die ich nicht lösen kann. Er
sagt nur „Schlecht“ und fragt die anderen etwas Leichtes. „Was ist nur mit
ihm los?“, höre ich hinter mir jemanden flüstern. Am Ende schreibt er ein
Sprichwort auf die Tafel, das wir lernen sollen: „Verbotene Früchte sind
süß“. Er dreht sich um und schaut mich an, ich senke den Blick.
In den nächsten Tagen ist er wortkarg und formell mit mir, aber gesellig
mit den anderen Mädchen. Was mache ich falsch? Meine Unsicherheit wächst.
In diesen Tagen sehe ich oft eine Achtklässlerin sein Klassenzimmer
verlassen, in den Pausen quatschen sie, ich sehe mich selbst in diesem
Mädchen. Mir wird mulmig. Am Telefon spreche ich ihn darauf an, und bereue
es sofort: Er wird laut, sagt, ich verhalte mich kindisch, und legt auf.
In den nächsten Tagen kann ich ihn nicht erreichen. Ich habe Angst, ihn zu
verlieren und mache mir Vorwürfe: Wie konnte ich nur denken, dass zwischen
ihnen etwas ist? Sie ist ja noch ein Kind. Sie ist 13, ihr Name ist Alina.
Sie ist das Mädchen, das ich etwa ein halbes Jahr später anschreiben werde.
Das, was zwischen mir und dem Lehrer ist, fühlt sich nun an wie eine
Achterbahnfahrt: in einem Moment kitzelt es angenehm im Bauch, im nächsten
kotzt man. Wir streiten öfter, danach ignoriert er mich. Ich fühle mich
bestraft und suche den Fehler bei mir, bis da wieder Nähe ist zwischen uns
und die Fahrt von vorne beginnt.
An einem frühlingshaften Abend besuche ich meine Oma auf dem Land. Er ruft
mich an. Von dem folgenden Gespräch habe ich kein klares Bild mehr, es ist
überbelichtet, durch einen Satz, der wie ein Blitz einschlägt: „Ich stehe
auf dem Dach eines Hochhauses – wenn du nicht sofort kommst, springe ich
herunter.“ Ich rede auf ihn ein, dass ich nicht in der Stadt bin, dass der
nächste Bus erst am nächsten Morgen fährt, flehe ihn an, vom Dach
herunterzukommen.
Irgendwann sagt er, er sei zu Hause. Ich verspreche, morgen zu ihm zu
kommen. Wir legen auf. Ich bin außer mir. Warum tut er das?
Als wir uns am nächsten Tag treffen, nimmt er mich mit auf eine Party bei
Freunden. Sie sind alle um die 30. Er schenkt mir einen Wodka ein, ich soll
mich ein bisschen entspannen. Ich lehne ab. Später sind wir in einem leeren
Zimmer – nur er, ich und der starke säuerlich-bittere Geruch. Als er mir
seine Hand in die Unterhose schiebt, löse ich mich von ihm und springe zur
Tür. Er lässt mich gehen. In den nächsten Tagen ignoriert er mich wieder.
Und dann steht er plötzlich vor meiner Wohnungstür, ein blauer Luftballon
in der Hand – er weiß, dass ich übers Wochenende allein zu Hause bin. Ich
lasse ihn rein. Er redet viel, von unserer gemeinsamen Zukunft und davon,
wie sehr er mich liebt. Doch er macht nichts, er küsst mich nicht einmal.
Ich bin erschöpft, denke: Nochmal so einen Achterbahnlooping schaffe ich
nicht mehr. Aber ich habe Angst, wieder tagelang ignoriert zu werden, und
sage: „Ich will, dass du mein Erster bist.“
Er geht duschen. Danach sagt er, er wolle keinen penetrativen Sex, das
überrascht mich. Es kommt zum Oralsex, zu dem ich mich noch weniger bereit
fühle. Währenddessen liege ich auf der Couch, bin froh, dass das Licht aus
ist und weine still.
Als er am nächsten Morgen gehen will, dämmert es noch. Er zieht sich
schnell an, lehnt einen Kaffee ab und guckt durch den schmalen Türspalt,
bevor er die Wohnung verlässt. Ich spüre: Die erste gemeinsame Nacht hat
die Achterbahnfahrt nicht enden lassen.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie oft er noch verschwand und wieder
auftauchte, mich zu sich rief und dann abwies. Aber gegen Ende des
Schuljahres ist es vorbei. Der Deutschwettbewerb liegt hinter uns, ich habe
keinen Unterricht mehr bei ihm. Die heimlichen Treffen, die Anrufe, die
Liebeserklärungen – alles nimmt ein Ende. In den Schulkorridoren macht er
kehrt, wenn er mich sieht. Er beantwortet meine Anrufe nicht mehr, ein
klärendes Gespräch bleibt aus. Alles endet im Schweigen, so wie es auch
begonnen hat.
Seine Gleichgültigkeit tut weh. Er hat in mir das Gefühl gesät, wertvoll zu
sein, ließ es wachsen und nun, als es anfing zu blühen, reißt er es an der
Wurzel aus. Ich fühle mich benutzt und weggeschmissen.
## Blick in den Abgrund
In der Schule hat sich über die Zeit die Erzählung verbreitet, ich hätte
mich in den Deutschlehrer verliebt, unerwidert natürlich. Jahre später höre
ich von jemandem, auch er selbst hätte das herum erzählt. Schlaue Taktik,
denke ich.
Damals bin ich nicht fähig zu definieren, was ich spüre. Wut, Enttäuschung,
Trauer? Es ist ein diffuser wiederkehrender Schmerz, der meine Brust packt
und mich nicht atmen lässt. Ich weine viel.
Einmal nehme ich die Rasierklinge und führe sie ans Handgelenk. Ich fühle
mich wie ein Luftballon, der kurz vor dem Platzen ist. Ich will das Platzen
beschleunigen, will verschwinden, unbemerkt, als hätte es mich nie gegeben.
Ich stelle mir das Danach vor – den Schmerz meiner Eltern, das
Kopfschütteln der Lehrer, die Erzählungen, ich hätte das wegen der
unerwiderten Liebe zum Lehrer gemacht. Das will ich nicht.
Dann bekomme ich die ersten Fressanfälle. Ich stopfe mich voll, meistens
mit Süßigkeiten, und fühle mich wieder gut, fast glücklich, für einen
kurzen Moment. Danach überwältigt mich die Scham und die Angst, dick zu
werden. Also beuge ich mich über die Kloschüssel, stecke mir zwei Finger
tief in die Kehle. Ich finde darin einen Weg, mit dem Trauma umzugehen.
Dass dieser Weg gefährlich ist, ist mir nicht bewusst. Von Bulimie habe ich
nie gehört.
Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu, im Juni 2011 mache ich mein Abitur
und ziehe zum Studieren weg. Im September haben er und ich nochmal Kontakt.
Danach scanne ich stundenlang sein Onlineprofil. Fast ausschließlich
Schülerinnen kommentieren seine Posts und Bilder.
Alina, die jetzt in der neunten Klasse und 14 Jahre alt ist, fällt mir
besonders auf. Es ist jener Moment, in dem sich der Verdacht verfestigt,
dass ich nicht die einzige Schülerin im Leben meines Deutschlehrers bin.
Ein Wendepunkt, der Keim einer Erkenntnis. Ich schreibe Alina an, sie sagt,
sie und der Lehrer seien in einer Beziehung. Wir verabreden uns. Das
Treffen läuft nicht so wie erwartet.
Alina wirkt überrascht, sogar misstrauisch, als ich ihr erzähle, was ich
mit ihm hatte. Sie sagt etwas wie: „Mit mir ist alles anders, mit mir meint
er es ernst.“ Sie spricht offen über ihre sexuellen Erfahrungen mit ihm und
wirkt stolz. Ich hatte gedacht, ich würde sie warnen, und komme mir dumm
vor. Nach dem Gespräch drehen meine Gedanken Kreise: Hat sie Recht? War ich
einfach nicht gut genug für ihn? Schließlich hat er keine von uns zu etwas
gezwungen…
Meine Fressanfälle werden wieder mehr. Heute weiß ich, warum. Ich fühlte
mich nicht ernst genommen, und zwar von der Person, die – wie ich dachte –
mich am allerbesten verstehen würde: einer Betroffenen. Klar, sie war noch
ein Kind und, wie sie behauptete, verliebt. Etwas später werde ich als
Erwachsene ähnlich reagieren.
Als im Jahr 2017 die MeToo-Bewegung entsteht, bin ich skeptisch gegenüber
den lauten Frauen. Ich frage mich, warum sie so lange geschwiegen haben,
und statt zu erkennen, dass ich eine von ihnen bin, dass auch ich
[5][missbraucht worden] war und schwieg, reagiere ich mit Ablehnung und
Misstrauen, ein Akt der Selbstsabotage.
Ab wann ist ein Opfer ein Opfer? Erst wenn es sich selbst als solches
sieht? Die Psychotherapeutin und Sexologin Jewgenia Smolenskaja sagt, ein
Missbrauch müsse nicht immer traumatisch enden. Doch das bedeute nicht,
dass es keiner war.
Etwa ein Jahr nach dem Gespräch mit Alina lösche ich alles, was mich an ihn
erinnert: den Chatverlauf, die SMS, seine Handynummer. Nur an einem halte
ich fest, dem Glauben, eine echte, erwachsene Beziehung gehabt zu haben,
mit meinem Lehrer. Langsam fühle ich mich besser, die Bulimie geht zurück,
die Suizidgedanken bleiben aus.
Nur manchmal schaue ich mir noch seine Social Media-Profile an, die Bilder
von ihm mit jungen Schülerinnen und das gegenseitige Necken in den
Kommentaren. Immer wieder legt er neue Accounts an. Ich finde das
auffällig. Aber mehr weiß ich nicht damit anzufangen.
Mit 21 treffe ich eine alte Bekannte aus der Schule. Wir denken an unsere
Schulzeit zurück. Sein Name fällt, in welchem Zusammenhang erinnere ich
nicht mehr. Sie erzählt, auch sie und unser Lehrer hätten mal geknutscht,
zu mehr sei es nicht gekommen. Die Gedanken kehren zurück, an die
Schülerinnen, die er gerade unterrichtet, alle gerade mal 14. Zum ersten
Mal lasse ich die Frage zu: Was wäre, wenn das Schweigen ein Ende hätte?
Ich entscheide mich, zur Polizei zu gehen. Doch davor will ich mit meiner
Mutter reden.
## Die Aufarbeitung
Bei einem Besuch sitze ich bei ihr in der Küche – Mama hobelt den Weißkohl.
Als ich ihr sage, dass dieser Freund damals, den ich in der 11. Klasse
hatte, mein Lehrer war, hört sie auf zu hobeln und alles ist ganz still.
Ich habe sie auf dieses Gespräch nicht vorbereitet. Ich will ihr alles
erzählen, bis zum letzten Detail. Ich will, dass sie mich danach umarmt und
wir zusammen weinen. Doch sogleich schäme ich mich, habe Angst, sie zu
enttäuschen, nicht mehr die brave Tochter zu sein. „Keine Sorge, wir hatten
nichts“, füge ich hastig hinzu.
Sie atmet auf und wendet sich wieder dem Kochtopf zu, als gäbe es nun
nichts mehr zu besprechen. Ich fasse Mut und setze nochmal an: „Ich will
aber zur Polizei gehen.“ Meine Mutter schaut mich erschrocken an. „Bitte,
mach das nicht, denk an dich selbst. Wozu brauchst du zermürbende
Vernehmungen, lange Gerichtsverhandlungen und böses Gerede?“
Im Nachhinein wundert es mich nicht. Auch meine Mutter hat als Kind Gewalt
erfahren, so wie auch ihre Mutter, es zog sich durch die Familie. Nur
selten sprachen sie darüber. Das Gespräch mit meiner Mutter endet, bevor
das Essen fertig gekocht ist. Am nächsten Morgen fahre ich wieder zurück in
die Stadt, in der ich studiere. Zur Polizei bin ich nie gegangen.
Heute kann ich nichts mehr tun, mein Fall ist verjährt. Doch auch damals
hätte eine Anzeige vermutlich nicht zum Erfolg geführt. Sexuelle Handlungen
mit Kindern unter 16 Jahren gelten in Belarus als Missbrauch und sind
strafbar. Ich war bereits 16 und galt somit in Fragen des Sexuallebens als
Erwachsene. Dass er mein Lehrer war, spielt keine Rolle. Moralisch sei das
zwar fraglich, aber nicht gesetzeswidrig, da der Kontakt einvernehmlich
gewesen sei, sagt mir ein belarussischer Jurist, den ich während der
Entstehung dieses Textes um eine Einschätzung gebeten habe.
Die Psychotherapeutin Jewgenia Smolenskaja wiederum sagt, man könne hier
nicht von Einvernehmlichkeit sprechen, weil sich Schüler*innen immer in
einem Machtungleichverhältnis zu ihrer Lehrkraft befänden. „Der Lehrer
trägt die Verantwortung, keine Grenzen zu überschreiten. Die Schülerin kann
diese Verantwortung nicht tragen.“
## Endlich reden
Im Herbst 2022, sieben Jahre nach dem Gespräch mit meiner Mutter, habe ich
einen Videocall mit meinen Freundinnen. Wir reden sechs Stunden, bis in die
Nacht hinein. Zum ersten Mal erzähle ich von der Sache mit meinem Lehrer,
von Anfang bis Ende. Und das löst in mir etwas aus.
In den letzten sieben Jahren habe ich [6][viel über sexualisierte Gewalt
gelesen] und Geschichten wie meine gehört. Ich lernte meinen Mann kennen
und erfuhr, was eine gesunde Beziehung ist. Meine Selbstwahrnehmung hat
sich verändert, und ich habe keinen Zweifel mehr: Mein Deutschlehrer hat
mich manipuliert und missbraucht. Und das war nicht meine Schuld. Noch
immer sind da diese Fragen, nur lauter: Wie viele Mädchen wie mich gab es
noch? Und wie kamen sie damit zurecht?Kamen sie zurecht?
Ich beschließe, sie zu suchen und zu kontaktieren.
Zuerst erstelle ich eine Liste von Mädchen, heute jungen Frauen, von denen
ich glaube, sie könnten auch betroffen sein. Weil ich mich an Situationen
in der Schule erinnere oder irgendwann einmal Bilder von ihnen auf seinen
Social-Media-Profilen gesehen habe. Dann suche ich. Stundenlang scanne ich
die alten und neuen Accounts meines Lehrers, durchforste die Profile seiner
Schülerinnen.
Irgendwann stoße ich auf ein Mädchen von damals, Katja, fünf Jahre jünger
als ich. Ich erkenne ihr Gesicht auf einem Bild, diesen melancholischen
Ausdruck. Ich habe es öfter auf seinen Profilen gesehen. Sie ist auf meiner
Liste. Tagelang überlege ich, wie ich sie anschreiben soll, wie ich sie,
die mich nicht kennt, fragen kann, ob sie das [7][Opfer eines Missbrauchs]
ist. Überschreite ich da nicht eine Grenze? Schließlich überwinde ich mich
und schicke ihr eine Nachricht: „Hallo Katja. Es könnte sein, dass du mich
für verrückt hältst, wenn du diese Nachricht gelesen hast…“.
Mir wird kalt, ich zittere. Ein Teil von mir wünscht sich, dass ich mich
geirrt habe, der andere hat genau davor Angst. Zwei Tage später antwortet
sie: „Ich halte dich nicht für verrückt und es tut mir sehr leid, dass du
auch davon betroffen warst“. Ich bin erleichtert und dankbar für ihr
Vertrauen, gleichzeitig wütend und traurig. Wir verabreden uns im Februar
2023 an ihrem Wohnort, auch sie lebt nicht mehr in Belarus. Am Bahnhof
umarmt sie mich, meine Aufregung verschwindet.
„Er stahl drei Jahre meiner Jugend“, sagt sie, als wir in einem Restaurant
sitzen. Ich rechne nach: Es begann mit Katja, als es mit Alina noch nicht
vorbei war. Es begann mit Alina, als es mit mir noch dauerte. Immer eine
Überlappung, immer ein abruptes Ende mit dem Schulabschluss.
Trotz vieler Ähnlichkeiten mit meiner Geschichte fällt mir eine Entwicklung
auf. Er wurde älter, seine Opfer blieben aber zwischen 14 und 16. Der
wachsende Altersunterschied machte es schwerer für ihn, das Verhältnis zu
seinen Schülerinnen ihnen gegenüber als Liebesbeziehung zu verkaufen.
Katja bestätigt das, für sie sei es das nie gewesen. Wenn sie zu sexuellem
Kontakt Nein sagte, sei er kalt geworden, habe damit gedroht, Drogen zu
nehmen oder zu trinken, und sie gab nach. „Ich habe mich für sein Leben
verantwortlich gefühlt. Deswegen ließ ich es mit mir machen. Mir ging es
schlecht danach, aber ich versuchte, nicht weiter daran zu denken“, erzählt
sie.
Über die Art des sexuellen Kontakts will Katja nicht reden. Sie ist noch in
Therapie. Es gehe ihr viel besser, aber die Erinnerungen seien schmerzhaft.
Sie habe vor allen verheimlicht, was sie erlebt habe. „Er hat mir die
schönsten Lebensjahre versaut, ich will ihm nicht noch mehr davon geben“,
sagt sie.
Als ich mir auf der Rückfahrt im Zug Notizen zu unserem Treffen mache, wird
mir übel. Ich renne aufs Klo und übergebe mich. Auch zu Hause, beim
Schreiben dieses Textes, passiert mir das einmal. Ich kenne diese Reaktion
meines Körpers auf Stress und bindennoch überrascht. Ich habe das Trauma
verarbeitet, es definiert mich nicht mehr. Aber beim Schreiben wird mir
klar, dass ich damit wahrscheinlich nie wirklich Frieden finden kann.
Nach dem Treffen mit Katja habe ich weitere Frauen kontaktiert. Neben
meinem Fall sind mir fünf weitere Missbrauchsfälle bekannt.
In unserer Schule arbeitet er nicht mehr. Soweit ich weiß, gibt er
Privatunterricht bei sich zu Hause, und das alarmiert mich noch mehr. Jedes
Mal, wenn in Belarus Männer verhaftet werden, die Missbrauch an
Schülerinnen begangen haben sollen, vergleiche ich die in den
Nachrichten angegebenen Personendaten und stelle fest: Er ist es nicht.
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von
Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe.
Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner,
anonym. Rufnummern: (0800)1110111 und (0800) 1110222.
21 Nov 2023
## LINKS
[1] /Machtmissbrauch/!5957529
[2] /Sexualisierte-Gewalt-vor-Gericht/!5968412
[3] /Cyber-Grooming-im-Netz/!5852788
[4] /Koerpererkundung-von-Kindern/!5945737
[5] /Aufklaerung-sexuellen-Missbrauchs/!5016458
[6] /Opfer-von-Gewalt-im-Kirchen-Internat/!5972112
[7] /Trotz-sexueller-Uebergriffe/!5962543
## AUTOREN
Marina Akulich
## TAGS
sexueller Missbrauch
Lehrer
Schule
Soziale Medien
Macht
GNS
Sexuelle Übergriffe
sexuelle Belästigung
sexueller Missbrauch
Schule
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sexuelle Übergriffe verjähren nicht: Alles hat seine Zeit
Die Vorwürfe gegen den US-Schauspieler Vin Diesel zeigen: Was Menschen
brauchen, die Opfer von Gewalt wurden, ist Geduld, Ermutigung und Gesetze.
Trotz sexueller Übergriffe: Grabbel-Prof darf bleiben
Die Uni Göttingen wird einen Forstwissenschafts-Professor nicht los. Dabei
sieht das Gericht als erwiesen an, dass er mehrfach übergriffig wurde.
Kindesmissbrauch in Institutionen: Aus dem Leben gekippt
Magnus Meier und Koljar Wlazik wurden als Kinder von ihren Lehrern
missbraucht. Heute kämpfen sie um Entschädigung. Kann es die geben?
Aufklärung sexuellen Missbrauchs: Verlorene Jungs
Ein Lehrer missbraucht an einer hessischen Schule über Jahrzehnte mehr als
hundert Schüler. Die Behörden sehen weg. Mittwoch soll sich das ändern.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.