# taz.de -- Opfer von Gewalt im Kirchen-Internat: Zufrieden, trotz allem | |
> Heiner Windelband wurde im Internat Sankt Christophorus in Werne | |
> misshandelt und vergewaltigt. Er kämpft mit dem Trauma und um | |
> Entschädigung. | |
Bild: Kontrabässe, die Heiner Windelband baut, repariert und restauriert, werd… | |
OSNABRÜCK taz | Heiner Windelband wohnt in einer Idylle. Wer so lebt, | |
könnte man denken, ist ein glücklicher Mensch. Windelbands [1][Zuhause ist | |
das ehemalige Benediktinerinnen-Kloster Malgarten bei Bramsche] in | |
Niedersachsen, malerisch und weltfern still. Seit 1803 säkularisiert, ist | |
es umgeben von Wald, Wiesen und Teichen, einem Fluss; seine Geschichte | |
reicht bis zurück zu einer mittelalterlichen Burg. Hier baut, restauriert | |
und repariert Windelband Kontrabässe, in seiner „Sünnenblick | |
Musikwerkstatt“. Sein Ruf reicht weit über die Region hinaus. | |
Zu Glück hat Windelband nie gefunden. Windelband ist Betroffener von | |
Misshandlung und mehrfacher Vergewaltigung. Bei den [2][Arnsteiner Patres] | |
wurde ihm das angetan, als Schüler, im [3][Gymnasial-Internat Sankt | |
Christophorus in Werne]. Windelband war dort von 1968 bis 1973. | |
Das Internat existiert heute nicht mehr. Pater Heinrich Steinbach, der | |
Täter, ist tot. Lebte er noch, wären seine Taten verjährt. Aber was damals | |
geschah, prägt Heiner Windelband bis heute. „Damals ist in mir ein | |
Grundvertrauen zerbrochen“, sagt er der taz. | |
Als sein Leiden beginnt, ist Windelband 11 Jahre alt. Pater Heinrich ist | |
zuständig für alles Medizinische im Internat. „Egal welche Beschwerden | |
man hatte, man musste die Hose runterlassen. Weil sich angeblich an den | |
Hoden ertasten lässt, was los ist. Dann wurde Fieber gemessen, | |
grundsätzlich rektal.“ | |
## Viele Wunden | |
Eines Tages liegt Windelband mit hohem Fieber im Krankenzimmer. „Pater | |
Heinrich kam herein“, erinnert er sich. „Und dann hat er mir etwas in den | |
Hintern gesteckt, und ein Fieberthermometer war das nicht! Ich war in einem | |
sehr merkwürdigen Zustand, fast ohnmachtsähnlich. Ob er mich zusätzlich | |
unter Drogen gesetzt hat, weiß ich nicht.“ | |
Windelband war nicht der einzige Schüler, dem es in Werne so erging, Pater | |
Heinrich nicht der einzige Täter. „Da wurde einfach weggesehen“, empört | |
sich Windelband. „Das war institutionalisierte, organisierte Kriminalität, | |
von oben gedeckt.“ | |
Um die Übergriffe auszuhalten, greifen viele Schüler zu Alkohol. Sexuelle | |
Selbstbestimmung ist durch die von den Patres vergiftete Atmosphäre ein | |
Fremdwort im Internat: Eines Tages wird Windelband Zeuge einer | |
Massenvergewaltigung unter Schülern. | |
Mit 14, als Heiner Windelband erneut im Krankenzimmer die Hose runterlassen | |
soll, sagt er: Nein! Pater Heinrich erkennt, dass es zu Ende ist. Später | |
betreibt er Windelbands Schulverweis. Manche Patres haben Schüler | |
geschlagen, sagt Windelband. Manche haben Sexualkontakte zu Mädchen mit | |
kalten Duschen und Ermüdungssport bestraft. | |
Gesagt hat Heiner Windelband damals niemandem etwas, obwohl seine Tante | |
Lehrerin seiner Schule war. Heute spricht er darüber: „Einige Mitschüler | |
sind bei harten Drogen gelandet, andere haben sich das Leben genommen, das | |
blieb mir erspart. Aber losgelassen hat mich all das nie. Das ist mitunter, | |
als ob du in ein schwarzes Loch fällst.“ | |
## In Kontakt, um aufzuklären, was geschehen ist | |
Sein Trauma hat zu zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit geführt, zu | |
Beziehungsproblemen. Und zu psychosomatischen Wunden: Jahrzehntelang | |
brechen sie immer wieder auf, oft viele gleichzeitig, an den Beinen, auf | |
dem Rücken, am Gesäß, im Gesicht. Sie eitern, sie bluten, sie schmerzen. | |
Auftritte als Musiker sind oft nicht möglich. Manche der Narben sieht man | |
noch heute. „Ich sah oft aus wie ein Folteropfer.“ | |
Um aufzuklären, was im Internat geschehen ist, auch um eine Entschädigung | |
zu erwirken, steht Windelband seit Anfang 2010 wieder in Kontakt zu den | |
Arnsteiner Patres, die auf ihrer Website ihren „Auftrag“ so beschreiben: | |
„die in Jesus Fleisch gewordene Liebe Gottes zu betrachten, zu leben und | |
der Welt zu verkünden“. | |
Ordensprovinzial Heinz Josef Catrein schreibt Windelband in einem | |
Briefwechsel, er sei „tief beschämt über das, was vorgefallen ist“. Viele | |
der Vorwürfe seien „sehr konkret“, räumt Catrein in einer Mail an | |
Windelband die Schuld des Ordens ein, „und da sie von unterschiedlichen | |
Personen kommen und weitestgehend übereinstimmen, habe ich keinen Grund, an | |
der Wahrhaftigkeit zu zweifeln“. | |
Im Falle Steinbach müsse er „feststellen, dass die Übergriffe über eine | |
lange Zeit stattfanden und der Konvent dies nicht wahrgenommen hat oder | |
wahrnehmen wollte“. Dies sei „zumindest ein schmerzhaftes Versagen“. Er | |
hoffe, „dass das Aufdecken der Schandtaten und das Sprechen darüber eine | |
gewisse Befreiung bringen und nicht zuletzt auch dazu beitragen, dass | |
anderen Kindern und Jugendlichen Ähnliches erspart bleibt“. „Entsetzt“ �… | |
das Ausmaß der Übergriffe bittet Catrein Windelband um „Vergebung“. | |
## Kampf um Entschädigung | |
Ordensbrüder werden befragt, der Bischof von Münster wird informiert, der | |
für Werne zuständig ist. Es kommt zu kirchen- und strafrechtlichen | |
Ermittlungen gegen mehrere Beschuldigte, auch zu einer Amtsenthebung. | |
Aber auf Windelband wartet eine weitere Verletzung – bei der Entschädigung. | |
Bis heute kämpft Windelband um diese „Anerkennung des Leids“, wie die | |
Kirche es nennt. 2011 hat er 5.000 Euro Schmerzensgeld erhalten. Insgesamt | |
30.000 Euro spricht ihm die [4][Unabhängige Kommission für | |
Anerkennungsleistungen (UKA) der Deutschen Bischofskonferenz (DBK)] zu, die | |
bundesweit alle Entschädigungen koordiniert. Fast 2.500 Anträge sind bei | |
ihr bisher eingegangen; die Zahl der Widersprüche liegt bei über 560. | |
Auch Windelband hat Widerspruch eingelegt. Ihn empört die Entscheidung der | |
UKA. „Das ist unverständlich, einfach lächerlich!“, sagt er. Er beantragt | |
Akteneinsicht, um zu verstehen, wie die Kommission die geringe Summe | |
begründet. Als er die dünne Akte schließlich in den Händen hält, ist er | |
konsterniert: Sie enthält fast nur seine eigenen Schreiben; eine Begründung | |
fehlt. | |
## Forderung nach Schmerzensgeld | |
Stefan Vesper, Geschäftsstelle der UKA, Bonn, von der taz um Aufklärung | |
gebeten, beruft sich auf eine „umfassende Schweigepflicht“. Aber er | |
schreibt der taz: „Die Verfahrensordnung sieht eine Begründung der | |
Entscheidungen nicht vor. Aus diesem Grund findet man natürlich auch bei | |
einem Auskunftsersuchen keine Begründung vor.“ „Man kommt sich verhöhnt | |
vor“, sagt Windelband. | |
Die Arnsteiner, von der taz um Kommentierung gebeten, schweigen gänzlich. | |
In Windelbands Korrespondenz mit ihnen finden sich bittere, harte, | |
enttäuschte Sätze. Sätze wie: „Euer Gott ist ein lauter Nichts, den kümme… | |
nicht hier und nun.“ | |
Dieser Tage geht Windelbands Kampf gegen das System Kirche in die nächste | |
Runde. Ende Oktober haben seine Anwälte den Arnsteiner Patres eine | |
Schmerzensgeldforderung geschickt: 300.000 Euro – so viel, wie Mitte 2023 | |
ein Missbrauchsopfer aus dem Erzbistum Köln vom Kölner Landgericht | |
zugesprochen bekam. | |
Der Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz hatte dieses | |
Urteil begrüßt: Er habe „immer wieder das intransparente Verfahren und die | |
deutlich zu niedrigen Zahlungen kritisiert“, schreibt er in einer Erklärung | |
Mitte 2023. Orientiere sich die UKA an den Leistungshöhen vergleichbarer | |
Urteile weltlicher Gerichte, sei „die Zeit der Almosen nun endlich vorbei“. | |
## Kunstprotest, wenn sich die Kirche querstellt | |
Bei Windelband ist das noch nicht sicher. Er strebt eine außergerichtliche | |
Klärung an. Stellt sich die Kirche quer, kündigt er kreative Gegenwehr an. | |
„Ich bin Performancekünstler“, sagt er und lächelt sarkastisch. „Und ich | |
kenne andere Performancekünstler. Da fällt uns schon was ein! Und warum | |
nicht mal im Dom?“ An Catrein, mittlerweile verstorben, hat Windelband | |
schon vor Jahren geschrieben, auch Demonstrationen seien denkbar, er könne | |
„Hundert(e) Kontrabassisten“ mobilisieren: „Die Posaunen von Jericho werd… | |
ein leises Gesäusel dagegen gewesen sein.“ | |
Aber vielleicht ist das ja gar nicht nötig. Der von der DBK beschlossene | |
Zahlungsrahmen der UKA orientiere sich „am oberen Bereich der durch | |
staatliche Gerichte in vergleichbaren Fällen zuerkannten Schmerzensgelder“, | |
steht in der „Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids“ der DBK. | |
Noch sieht dieser Rahmen Leistungen bis 50.000 Euro vor. Aber er ist schon | |
öfter überschritten worden. Vielleicht geschieht das ja auch bei | |
Windelband. | |
Windelband hat das „beste mir Mögliche“ aus seinem Leben gemacht, sieht | |
seinen Beruf als Berufung, ist stolz, dass seine Bässe in halb Europa und | |
den USA gespielt werden. Er ist nicht glücklich. Aber er ist zufrieden. | |
12 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Reichsbuerger-im-Nordwesten/!5877366 | |
[2] https://arnsteiner-patres.de/ | |
[3] https://www.gsc-werne.de/ | |
[4] /!5963139/ | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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