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# taz.de -- Kindesmissbrauch in Institutionen: Aus dem Leben gekippt
> Magnus Meier und Koljar Wlazik wurden als Kinder von ihren Lehrern
> missbraucht. Heute kämpfen sie um Entschädigung. Kann es die geben?
Bild: Die ehemalige Vorschule der Domspatzen in Pielenhofen. Dort wurden jahrel…
Pielenhofen/Kerpen taz | Magnus Meier ist stets in Kampfstellung, auch
jetzt am Regensburger Hauptbahnhof, an der Bushaltestelle der Linie 12.
Gesenkte Stirn, der Nacken fest, die Augen immer in Bewegung. Diese
Busfahrt ist für Meier keine leichte: Die Linie 12 bringt den 45-Jährigen
zurück an den Ort, der ihn für immer geschädigt hat.
Meier, ein großer, massiger Mann mit blond gelocktem Haar, fummelt seinen
Behindertenausweis aus der Klarsichthülle, auf dem die Zahl 50 vermerkt
ist. Ab einem Behinderungsgrad von 50 Prozent gelten Menschen als
schwerbehindert und dürfen umsonst fahren, mit einer Begleitperson. Er
dreht und wendet das Dokument – darf er wirklich? Weiß der Busfahrer das
auch? Braucht er da noch eine extra Wertmarke? –, steckt den Ausweis dann
wieder weg und zückt seine Geldbörse. „Wissen Sie was“, sagt er müde, �…
zahlen einfach beide, ich hab keine Lust, immer um jede Kleinigkeit zu
kämpfen.“
Magnus Meier war Anfang der 1980er Vorschüler der Regensburger Domspatzen,
des weltberühmten katholischen Jungenchors. Als Zehnjähriger kam der
Oberpfälzer ins Domspatzen-Internat nach Pielenhofen bei Regensburg, wo
insgesamt 80 Schüler im Alter von zehn bis zwölf auf eine Karriere als
Sängerknaben vorbereitet werden sollten.
„Das war keine Schule, sondern die Hölle. Ein Kinder-KZ“, sagt Meier. Der
sadistisch und pädophil veranlagte Präfekt Johann Meier, ein ehemaliger
Wehrmachtsoffizier, quälte die Kinder mit militärischem Drill,
Prügelritualen und sexueller Gewalt, die bis zur Vergewaltigung ging. Die
Kinder waren im System gefangen, hatten kaum Kontakt zur Außenwelt, unter
den Schülern herrschte eine brutale Hackordnung. „Wir waren verroht wie die
Tiere“, sagt Magnus Meier.
Von 1945 bis in die 1990er Jahre haben laut einem von der katholischen
Kirche beauftragten Sonderermittler mindestens 547 Schüler bei den
Domspatzen sexuelle und körperliche Gewalt erlebt. Als mutmaßliche Täter
wurden bislang 49 Personen ermittelt. Besonders in der Vorschule seien die
Übergriffe „umfassend“ gewesen.
## Was heißt Gerechtigkeit?
Magnus Meier verbrachte zwei Jahre an diesem Ort. Zwei Jahre voller
Schläge, Angst und sexueller Übergriffe, die das Kind zum Opfer, den
späteren Erwachsenen zum Kämpfer in eigener Sache machten.
„Wiedergutmachung kann es für einen wie mich nicht geben“, sagt er und
deutet auf den Behindertenausweis. „Aber Gerechtigkeit darf ich doch wohl
erwarten.“
Was heißt Gerechtigkeit, nicht nur für Magnus Meier, sondern die vielen
anderen, die in der Kindheit sexuelle Gewalt erfahren mussten? Weil die
Gesellschaft sie sicher wähnte in Schulen, kirchlichen Internaten oder dem
Sportverein. Was heißt Gerechtigkeit, wenn ein Mann wie der
„Prügel-Präfekt“ Johann Meier in Ehren in den Ruhestand verabschiedet wir…
vom Bruder des Ex-Papstes gewürdigt für seine „selbstlose Tätigkeit“ –
während die geschundenen Kinder von damals darum ringen, dass man sie hört
und ihnen glaubt? Was ist das für eine Gesellschaft, in der man sein
Opferdasein immer wieder schmerzhaft nachweisen muss?
Gerechtigkeit, für Magnus Meier heißt das vor allem: gesehen werden. Er
will, dass sich der Staat und die Gesellschaft mit ihm als Überlebendem
beschäftigen.
Das Dorf Pielenhofen ist ein postkartenschönes Fleckchen Oberpfalz. Am Ufer
der Naab steht das barocke Kloster mit Zwiebeltürmchen, Klostergarten und
Kapelle. Meier wird immer kurzatmiger, je näher er der Anlage kommt. Die
ehemals verranzte Klosterschänke, in der sich der Präfekt abends betrank,
bevor er in die Schlafsäle der Jungen ging, ist heute hübsch saniert. Seit
2013 beherbergt das Gebäude eine private Schule, die mit den Domspatzen
nichts zu tun hat.
## „Ich erinnere mich noch an ihre Handcreme“
„Drinnen aber sieht es noch aus wie früher“, sagt Meier, als er die breiten
Treppen hinaufsteigt. Vor dem dunkel getäfelten Direktorenzimmer, in das
der Präfekt zur gefürchteten Einzelsprechstunde rief, bleibt Meier stehen
und starrt auf die bräunliche Blümchentapete: „Wenn ich das Muster sehe,
könnte ich kotzen“, sagt er und geht schnell weiter, vorbei am kleinen
Schwesternzimmer, in dem die Kinder manchmal Trost und Zusatzrationen zum
kargen Essen bekamen. Die Schwestern, das seien die Guten gewesen. Der
Klavierraum am Ende des Gangs mit den großen Fenstern zum Fluss – ein Ort
der Angst. „Wir hatten alles, super Konzertflügel, die beste Akustik –
leider war das Personal scheiße.“ Meier lacht bitter.
Aufgewühlt erzählt er von der besonders sadistischen Klavierlehrerin. Sie
schlug die Kinder mit ihren schweren Siegelringen auf den nackten Hintern,
bis Blut floss. Und „tröstete“ sie dann mit Küssen und Fummeleien. „Ich
erinnere mich immer noch an ihre Handcreme.“ Meiers Augen sind wässrig, er
schwitzt, doch er will noch ganz hinauf unters Dach, wo die Schlafkammern
waren. Zwei Zimmer mit Dachschräge für je vier Kinder. Die Spinde auf dem
Gang, der Waschraum mit dem langen Becken – alles noch original. Meier
lehnt sich an die gekachelte Wand. „Es ist alles wieder da, hier drin“, er
klopft auf seine Stirn. „Und es geht nicht weg.“
Wer in seiner Kindheit sexuell missbraucht wurde, ist oft fürs Leben
gezeichnet. Die Spätfolgen des Traumas wirken bis ins Erwachsenenalter
fort, manchmal treten sie erst dann zutage. Betroffene können wie aus dem
Nichts eine posttraumatische Störung entwickeln oder sie leiden an
Folgesymptomen wie Sucht, Angststörungen, Depression. Experten schätzen,
dass es sieben bis acht Millionen Deutschen so geht. Sie sind Überlebende.
Für das, was ihnen von Erwachsenen angetan wurde, können sie nichts.
„Eigentlich hat der Staat eine Verantwortung für das Kindeswohl – auch
rückwirkend“, sagt Angelika Oetken am Telefon. „Leider wird das in der
Praxis aber nicht so gehandhabt.“ Die Berlinerin hat als Kind sexuelle
Gewalt in der Familie erfahren und berät jetzt ehrenamtlich Betroffene. In
der Clearingstelle des Fonds Sexueller Missbrauch hat Oetken bisher
ungefähr 550 Anträge gesichtet. Ihr Fazit: „Wer in Deutschland als Opfer
sexueller Gewalt zu seinem Recht kommen will, braucht leider gute Nerven
und viel Glück.“
Hilfe und Unterstützung zu finden, das ist für Betroffene ein mühsamer und
oft langwieriger Prozess. Unklare Anlaufstellen, große bürokratische
Hürden, eine komplizierte Beweislage – wie soll man das schaffen, wenn es
einem nicht gut geht?
## Drei Wege zur Gerechtigkeit
Magnus Meier hat auf der Busfahrt nach Pielenhofen die Institutionen
aufgezählt, mit denen er in den letzten Jahren gekämpft hat. Das Bistum und
die Diözese Regensburg: gewonnen, sie zahlten. Das bayerische
Landesversorgungsamt, das Ansprüche auf Kassenleistungen prüft: verloren,
Meier zeigt einen Widerspruchsbescheid, das Ergebnis eines Monate währenden
Streits. Das Amt findet: Die Krankenkasse muss Meier keine Bäderkur an der
Ostsee bezahlen, eine ambulante Therapie „mit Verbleib im bisherigen
sozialen Umfeld“ sei ausreichend. „Was wissen die von meinem sozialen
Umfeld?“, fragt Meier. Die Kasse sei einfach zu geizig, deshalb einen
kranken Versicherten zu terrorisieren, das findet er schäbig. Jetzt will er
vor Gericht. Weiterkämpfen.
Menschen, die sexuell missbraucht wurden, stehen in Deutschland drei Wege
zur Gerechtigkeit offen. Die erste Möglichkeit: vor Gericht klagen, um eine
Strafe für den Täter und eine Entschädigungszahlung für sich selbst zu
erwirken. Doch die Hürden sind hoch, die Erfolgsaussichten zweifelhaft.
Weit zurückliegende Taten sind oft verjährt und schwer zu beweisen, die
Täter sind unter Umständen schon tot. Zudem kann die direkte Konfrontation
im Gerichtssaal belastend sein. Nur wenige tun sich das an.
Der zweite Weg ist, eine Zahlung durch die Institution einzufordern, in der
der Missbrauch stattgefunden hat. Die katholische und evangelische Kirche
und andere Organisationen haben dafür spezielle Fonds. Bei der Deutschen
Bischofskonferenz sind bislang 1.750 Anträge auf materielle Anerkennung
erlittenen Leids eingegangen und bearbeitet worden. Dass es solche
Zahlungen überhaupt gibt, ist vor allem Betroffenen zu verdanken, die
jahrelang gegen Vertuschung und Unwillen angekämpft haben. Initiativen wie
der „Eckige Tisch“ sorgten dafür, dass das Thema Entschädigung in der
Öffentlichkeit blieb und zwangen die Kirchen zur Kooperation.
Magnus Meier hatte es dann vergleichsweise leicht, als er 2011, mit
Unterstützung eines Anwalts, ein Formular ausfüllte, 2.500 Euro bekam und
später noch einmal 12.500 Euro, dazu ein Entschuldigungsschreiben des
amtierenden Bischofs. 15.000 Euro, das ist viel Geld, deutlich mehr als die
von der Deutschen Bischofskonferenz ausgegebene Empfehlung von 5.000 Euro
pro Opfer. Reicht es aus, um für die Tat und das daraus entstandene Leid zu
entschädigen?
„Um Entschädigung oder Schmerzensgeld im juristischen Sinne geht es hier
nicht“, sagt Angelika Oetken. „Das deutsche Recht sieht keine
institutionelle Haftung für Schäden vor, die durch Missbrauchskriminalität
entstanden sind.“ Deshalb verwendeten die verantwortlichen Organisationen
den Begriff nicht, und sprächen lieber von „Anerkennungszahlungen“. Doch
wer oder was soll hier anerkannt werden? Erkennt die katholische Kirche
ihre moralische Schuld am Leid an, das Kindern wie Magnus Meier zugefügt
wurde? Oder soll Meier sich von der Gesellschaft anerkannt fühlen in seinem
Leiden, wie ein Kriegsveteran?
## Wie lassen sich Übergriffe in der Kindheit beweisen?
Für Meier sind das Spitzfindigkeiten. Er will einfach so wenige Hürden wie
möglich in den Weg gelegt bekommen. Was das angeht, ist er zufrieden mit
der Kirche, die sich „ordentlich verhalten“ habe – wenigstens heute.
Die Betroffenenvertreterin Oetken findet, die Anerkennungszahlungen sind
ein „doppeltes Spiel zur Täuschung der Öffentlichkeit“. Durch Vermeidung
des Begriffs „Entschädigung“ entstünde der Eindruck, die freiwilligen
Zahlungen der Täterorganisationen seien alles, was den Opfern sexueller
Gewalt zustünde. Dabei haben sie sehr wohl das Recht auf „echte“
Entschädigung – nach dem Opferentschädigungsgesetz. Die 1985 in Kraft
getretene Regelung bietet Menschen, die irgendeine Form von Gewalt erfahren
haben, Entschädigung. Für bleibende körperliche Einschränkungen, aber auch
für entgangene Chancen im Leben: Berufsabschlüsse, ein Leben ohne
Traumafolgen.
Allerdings stellt dieser dritte Weg für Betroffene eine riesige Hürde dar,
oft eine unüberwindbare. Wer einen Antrag stellt, muss seine Verletzungen
dokumentieren, Folgeschädigungen nachweisen und bestenfalls einen Zeugen
beibringen. Bei sexuellen Übergriffen, die in der Kindheit passiert sind,
ist der Beweis quasi unmöglich.
Koljar Wlazik hofft, dass er bald so weit ist, zu kämpfen. Seit vielen
Jahren ist der 50-Jährige vor allem mit Überleben beschäftigt. Als Junge
wurde Wlazik von seinem Lehrer an der staatlichen
Elly-Heuss-Knapp-Grundschule in Darmstadt missbraucht, genauso wie mehr als
hundert andere Schüler. Erst 2005, rund dreißig Jahre später, kam der Täter
vor Gericht. Davor ignorierten Eltern, Kollegen und die zuständigen
Schulbehörden immer wieder Hinweise auf serielle sexuelle Gewalt.
## Ein Artikel in der taz löste das Trauma aus
Andere Betroffene aus seiner Grundschule streiten seit Jahren mit Hilfe von
Anwälten und der Presse um Anerkennung, Geld und Informationen. Koljar
Wlazik wusste lange gar nicht, dass auch er missbraucht wurde. 2015 las er
einen [1][Artikel in der taz] und sah ein Foto vom Schlafzimmer des Täters.
Es löste das Trauma in ihm aus: Flashbacks, Panikattacken, Schlafstörungen,
Depression. Der Lkw-Fahrer und Familienvater war plötzlich nervlich am
Ende.
„Da denkst du, du stehst mitten im Leben. Und dann zack! – arbeitsunfähig
und arbeitslos.“ Wlazik streicht sich übers kurze Haar, haut dann mit der
Handfläche auf den hölzernen Küchentisch in seinem Reihenhaus in Kerpen, in
der Nähe von Köln. Draußen ist alles wohlgeordnet, drinnen sind die Möbel
bunt zusammengewürfelt. Neben Wlazik sitzt seine Frau Andrea, in ihrem Arm
eine Katze, auf dem Tisch Tee und Apfelkuchen.
Wlazik bekam von seinem Chef eine Abfindung, das Land Hessen zahlte ihm und
34 anderen Betroffenen je 10.000 Euro. Wlazik hat zwei Kinder und einen
Hauskredit abzuzahlen. Der Familie ging schnell das Geld aus, niemand half
im Ringen mit Versicherungen, Krankenkassen und Behörden. Auf dem Höhepunkt
seiner Verzweiflung drohte Koljar Wlazik einer Sachbearbeiterin, sich vor
dem Arbeitsamt anzuketten, weil es so lange dauerte, bis es zahlte. „Ich
fühlte mich wie aus dem Leben gekippt“, sagt er über diese Zeit. „Wir
hatten schon Kontakt zu unseren Freunden im Hambacher Forst aufgenommen,
die wissen, wie man sich professionell ankettet“, sagt Andrea Wlazik und
lacht kurz.
Ihren Mann beschreibt sie als harmoniebedürftigen, robusten Menschen – oder
zumindest sei er das früher gewesen. Das Trauma habe ihn verletzlich und
hilflos gemacht. „Betroffene kriegen zu wenig praktische Unterstützung“,
sagt sie. „Man speist sie mit Geld ab, aber lässt sie mit ihren Problemen
in der Luft hängen.“ Therapien beantragen, mit dem Chef kämpfen, das
Weiterleben managen? Die Wlaziks wussten nicht, an wen sie sich wenden
sollten.
## Will der Staat Opfer mit Bürokratie abwimmeln?
Vorerst können sie ihr Haus behalten. Koljar Wlazik macht eine Umschulung
zum Schreiner, in einer Einrichtung für psychisch Kranke. Bald, wenn er
wieder in einer Traumaklinik ist, kann ihm eine Sozialarbeiterin vielleicht
dabei helfen, den Antrag auf Opferentschädigung zu stellen. Einmal hat er
das schon versucht und bei der örtlichen Filiale des Weißen Rings um Hilfe
gebeten, ein Verein, der Gewaltopfern hilft. Nachdem niemand zurückgerufen
hatte, fehlte Wlazik die Kraft für einen weiteren Anlauf.
Eine Ausgleichszahlung für den Lohn, der ihm entgangen ist, stehe ihm zu,
sagt er. Letztlich sei der Staat schuld, dass Wlazik in dieser Situation
sei: Hätten die Schul- und Strafverfolgungsbehörden jenen pädophilen Lehrer
nicht jahrzehntelang unbehelligt gelassen – „dann wäre mir das nicht
passiert und ich könnte jetzt ein normales Leben führen“.
Entgangenen Lebenschancen nachtrauern – manchmal erlaubt sich Wlazik das.
Aber eigentlich will er sich nicht von negativen Gefühlen leiten lassen.
„Ich habe entschieden, mich dem Hass nicht hinzugeben“, sagt er. „Aber
dieser Antrag, ich glaube, das wird ein ziemlicher Kampf.“
Da ist es wieder, das Wort Kampf, das auch Magnus Meier so oft benutzt.
Warum müssen Menschen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden, eigentlich
so viel kämpfen? Wo es doch inzwischen genug Informationen über die
Mechanismen sexueller Gewalt, ihr Vorkommen, ihre Folgen gibt? Warum
versucht der Staat, diese Menschen mit Bürokratie abzuwehren und behandelt
sie nicht wie Bürger mit legitimen Ansprüchen?
## „Das Opferentschädigungsgesetz ist eine Zumutung“
Johannes-Wilhelm Rörig ist seit 2011 so etwas wie der oberste
Interessenvertreter der Betroffenen. Der „Unabhängige Beauftragte für
Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“, so sein etwas sperriger Titel, hat
sein Büro unweit des Berliner Hauptbahnhofs. Das nüchterne Arbeitszimmer,
aufgelockert durch gelbes Mobiliar, passt zu diesem Mann, der am
Schreibtisch sitzend die Korrektheit eines Beamten ausstrahlt, aber auch
etwas Warmes, Verbindliches.
Eingerichtet wurde das Amt des Unabhängigen Beauftragten 2010, als die
vielen Fälle von Kindesmissbrauch in kirchlichen Einrichtungen,
Landschulheimen wie der Odenwaldschule und Kinderheimen bekannt wurden.
Rörig kennt die Bedürfnisse der Opfer gut. Er sagt: „Für diese Menschen ist
unser bestehendes Hilfesystem überhaupt nicht geeignet. Besonders das
Opferentschädigungsgesetz ist eine Zumutung.“ Das größte Problem sei es,
eine Kausalität zwischen dem Erlebten und dem heutigen Gesundheitszustand
nachzuweisen.
Wie soll man auch beweisen, dass die Depression oder der Alkoholismus
Folgeerscheinungen von genau diesen Kindheitserlebnissen sind? 60 Prozent
aller Antragsteller, schätzt Rörig, schaffen das nicht. Die übrigen müssen
peinliche Befragungen durch Amtsärzte erdulden, die oft unerfahren sind im
Umgang mit Opfern sexueller Gewalt. Es drohe eine Retraumatisierung: Dass
ihnen die Übergriffe nicht geglaubt werden, ist eine erneute
Ohnmachtserfahrung.
Rörig kämpft dafür, dass die Prüfer in den Versorgungsämtern entsprechend
geschult werden und die Nachweispflicht gelockert wird. Außerdem müssten
die Verfahren beschleunigt werden, weil sie labile Menschen sonst an den
Rand der Verzweiflung trieben.Politische Unterstützung hat Rörig bislang
wenig bekommen – trotz vieler Bekenntnisse von Union und SPD. „Es gab in
den letzten vier Jahren einen regelrechten Unwillen in der Großen
Koalition, irgendwas zu ändern“, sagt er. Unter Andrea Nahles als
Sozialministerin sei das Thema zum „Ladenhüter“ verkommen. Es wurde immer
wieder betont, wie wichtig eine Reform des Opferentschädigungsgesetzes sei,
wichtig genug, um sie auch durchzuziehen, war sie offenbar nicht. Rörig
setzt nun Hoffnungen in die kommende Regierung: „Wer auch immer
Arbeitsminister wird, hat mich sofort an der Backe. Und ich bin
hartnäckig!“
## „Wir sollen das Geld nehmen und die Schnauze halten“
Auch Magnus Meier ist hartnäckig. Er hat es vor vier Jahren geschafft, den
Antrag auf Opferentschädigung auszufüllen. Der nächste Schritt war eine
ärztliche Untersuchung: Fünf Stunden lang hat ihn ein Amtsarzt in einem
abgedunkelten Raum geprüft und bis ins letzte Detail befragt. Völlig
unempathisch sei der Arzt gewesen, sagt Meier, und habe erst von ihm
abgelassen, als Meier weinend zusammenbrach. Der Arzt bescheinigte Meier
einen Schädigungsgrad von 50 Prozent, genug für einen
Schwerbehindertenausweis und einen Berufsschadensausgleich von 800 Euro im
Monat, zusätzlich zur Grundrente von 255 Euro. Also Schlacht gewonnen?
Meier ist nicht zufrieden, er will mehr. Man hat ihn als gelernten
Elektriker eingestuft, weil er in dem Beruf zuletzt gearbeitet hatte, dabei
hätte er vielleicht studiert – wären da nicht die gesundheitlichen Folgen
der Misshandlung. Jetzt will er klagen, um höher eingestuft zu werden. Sein
Anwalt aber sei zögerlich, sagt Meier und vermutet: „Der ist müde
geworden.“
„Viele Opfer sind anfangs erstaunlich geduldig“, sagt die
Betroffenenvertreterin Angelika Oetken. Aber nach langwierigen
Verhandlungen mit Behörden fühlten sie sich ins Unrecht gesetzt. Dieses
Gefühl verfestige sich irgendwann zu einer Grundeinstellung – und die
Betroffenen verstrickten sich in aussichtslosen Kleinkriegen. „Manche
stehen sich selbst im Weg.“ Betroffene brauchen natürlich Geld, sagt
Angelika Oetken. „Es ist Heuchelei, wenn immer so getan wird, als käme es
nicht aufs Geld an. Viele brauchen das zum Überleben.“ Aber mindestens
genauso wichtig sei ein einfaches menschliches Signal: „Dir geht es nicht
gut, wir sehen das und helfen dir.“ Das fehle in unserer Gesellschaft.
Koljar Wlazik drückt es so aus: „Dass meine Existenz gesichert ist, das ist
das Mindeste. Aber ich will auch, dass die Scheiße, die mir passiert ist,
nicht ganz umsonst passiert ist. Dass die Gesellschaft etwas lernt daraus.“
Wlazik und andere missbrauchte Schüler der Elly-Heuss-Knapp-Grundschule in
Darmstadt wollen, dass ihre Geschichte auf der Homepage der Schule
öffentlich gemacht wird. Sie wollen die Schulräume zur Traumabewältigung
nachmittags betreten dürfen. Und sie wollen mit Behörden, Lehrern und
Schülern von heute reden. Darüber, wie man Schule gestalten kann, dass sie
Kindern Schutz bietet.
„Überall wimmelt man uns ab, wir sollen das Geld nehmen und die Schnauze
halten“, sagt Koljar Wlazik und klingt genauso bitter wie Magnus Meier, der
sagt: „Die Gesellschaft will von unserem Leiden möglichst wenig hören – u…
schon gar nichts lernen. Man tut lieber, als könnte so etwas heutzutage
nicht mehr passieren.“
10 Jan 2018
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Nina Apin
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