# taz.de -- Kindesmissbrauch in Institutionen: Aus dem Leben gekippt | |
> Magnus Meier und Koljar Wlazik wurden als Kinder von ihren Lehrern | |
> missbraucht. Heute kämpfen sie um Entschädigung. Kann es die geben? | |
Bild: Die ehemalige Vorschule der Domspatzen in Pielenhofen. Dort wurden jahrel… | |
Pielenhofen/Kerpen taz | Magnus Meier ist stets in Kampfstellung, auch | |
jetzt am Regensburger Hauptbahnhof, an der Bushaltestelle der Linie 12. | |
Gesenkte Stirn, der Nacken fest, die Augen immer in Bewegung. Diese | |
Busfahrt ist für Meier keine leichte: Die Linie 12 bringt den 45-Jährigen | |
zurück an den Ort, der ihn für immer geschädigt hat. | |
Meier, ein großer, massiger Mann mit blond gelocktem Haar, fummelt seinen | |
Behindertenausweis aus der Klarsichthülle, auf dem die Zahl 50 vermerkt | |
ist. Ab einem Behinderungsgrad von 50 Prozent gelten Menschen als | |
schwerbehindert und dürfen umsonst fahren, mit einer Begleitperson. Er | |
dreht und wendet das Dokument – darf er wirklich? Weiß der Busfahrer das | |
auch? Braucht er da noch eine extra Wertmarke? –, steckt den Ausweis dann | |
wieder weg und zückt seine Geldbörse. „Wissen Sie was“, sagt er müde, �… | |
zahlen einfach beide, ich hab keine Lust, immer um jede Kleinigkeit zu | |
kämpfen.“ | |
Magnus Meier war Anfang der 1980er Vorschüler der Regensburger Domspatzen, | |
des weltberühmten katholischen Jungenchors. Als Zehnjähriger kam der | |
Oberpfälzer ins Domspatzen-Internat nach Pielenhofen bei Regensburg, wo | |
insgesamt 80 Schüler im Alter von zehn bis zwölf auf eine Karriere als | |
Sängerknaben vorbereitet werden sollten. | |
„Das war keine Schule, sondern die Hölle. Ein Kinder-KZ“, sagt Meier. Der | |
sadistisch und pädophil veranlagte Präfekt Johann Meier, ein ehemaliger | |
Wehrmachtsoffizier, quälte die Kinder mit militärischem Drill, | |
Prügelritualen und sexueller Gewalt, die bis zur Vergewaltigung ging. Die | |
Kinder waren im System gefangen, hatten kaum Kontakt zur Außenwelt, unter | |
den Schülern herrschte eine brutale Hackordnung. „Wir waren verroht wie die | |
Tiere“, sagt Magnus Meier. | |
Von 1945 bis in die 1990er Jahre haben laut einem von der katholischen | |
Kirche beauftragten Sonderermittler mindestens 547 Schüler bei den | |
Domspatzen sexuelle und körperliche Gewalt erlebt. Als mutmaßliche Täter | |
wurden bislang 49 Personen ermittelt. Besonders in der Vorschule seien die | |
Übergriffe „umfassend“ gewesen. | |
## Was heißt Gerechtigkeit? | |
Magnus Meier verbrachte zwei Jahre an diesem Ort. Zwei Jahre voller | |
Schläge, Angst und sexueller Übergriffe, die das Kind zum Opfer, den | |
späteren Erwachsenen zum Kämpfer in eigener Sache machten. | |
„Wiedergutmachung kann es für einen wie mich nicht geben“, sagt er und | |
deutet auf den Behindertenausweis. „Aber Gerechtigkeit darf ich doch wohl | |
erwarten.“ | |
Was heißt Gerechtigkeit, nicht nur für Magnus Meier, sondern die vielen | |
anderen, die in der Kindheit sexuelle Gewalt erfahren mussten? Weil die | |
Gesellschaft sie sicher wähnte in Schulen, kirchlichen Internaten oder dem | |
Sportverein. Was heißt Gerechtigkeit, wenn ein Mann wie der | |
„Prügel-Präfekt“ Johann Meier in Ehren in den Ruhestand verabschiedet wir… | |
vom Bruder des Ex-Papstes gewürdigt für seine „selbstlose Tätigkeit“ – | |
während die geschundenen Kinder von damals darum ringen, dass man sie hört | |
und ihnen glaubt? Was ist das für eine Gesellschaft, in der man sein | |
Opferdasein immer wieder schmerzhaft nachweisen muss? | |
Gerechtigkeit, für Magnus Meier heißt das vor allem: gesehen werden. Er | |
will, dass sich der Staat und die Gesellschaft mit ihm als Überlebendem | |
beschäftigen. | |
Das Dorf Pielenhofen ist ein postkartenschönes Fleckchen Oberpfalz. Am Ufer | |
der Naab steht das barocke Kloster mit Zwiebeltürmchen, Klostergarten und | |
Kapelle. Meier wird immer kurzatmiger, je näher er der Anlage kommt. Die | |
ehemals verranzte Klosterschänke, in der sich der Präfekt abends betrank, | |
bevor er in die Schlafsäle der Jungen ging, ist heute hübsch saniert. Seit | |
2013 beherbergt das Gebäude eine private Schule, die mit den Domspatzen | |
nichts zu tun hat. | |
## „Ich erinnere mich noch an ihre Handcreme“ | |
„Drinnen aber sieht es noch aus wie früher“, sagt Meier, als er die breiten | |
Treppen hinaufsteigt. Vor dem dunkel getäfelten Direktorenzimmer, in das | |
der Präfekt zur gefürchteten Einzelsprechstunde rief, bleibt Meier stehen | |
und starrt auf die bräunliche Blümchentapete: „Wenn ich das Muster sehe, | |
könnte ich kotzen“, sagt er und geht schnell weiter, vorbei am kleinen | |
Schwesternzimmer, in dem die Kinder manchmal Trost und Zusatzrationen zum | |
kargen Essen bekamen. Die Schwestern, das seien die Guten gewesen. Der | |
Klavierraum am Ende des Gangs mit den großen Fenstern zum Fluss – ein Ort | |
der Angst. „Wir hatten alles, super Konzertflügel, die beste Akustik – | |
leider war das Personal scheiße.“ Meier lacht bitter. | |
Aufgewühlt erzählt er von der besonders sadistischen Klavierlehrerin. Sie | |
schlug die Kinder mit ihren schweren Siegelringen auf den nackten Hintern, | |
bis Blut floss. Und „tröstete“ sie dann mit Küssen und Fummeleien. „Ich | |
erinnere mich immer noch an ihre Handcreme.“ Meiers Augen sind wässrig, er | |
schwitzt, doch er will noch ganz hinauf unters Dach, wo die Schlafkammern | |
waren. Zwei Zimmer mit Dachschräge für je vier Kinder. Die Spinde auf dem | |
Gang, der Waschraum mit dem langen Becken – alles noch original. Meier | |
lehnt sich an die gekachelte Wand. „Es ist alles wieder da, hier drin“, er | |
klopft auf seine Stirn. „Und es geht nicht weg.“ | |
Wer in seiner Kindheit sexuell missbraucht wurde, ist oft fürs Leben | |
gezeichnet. Die Spätfolgen des Traumas wirken bis ins Erwachsenenalter | |
fort, manchmal treten sie erst dann zutage. Betroffene können wie aus dem | |
Nichts eine posttraumatische Störung entwickeln oder sie leiden an | |
Folgesymptomen wie Sucht, Angststörungen, Depression. Experten schätzen, | |
dass es sieben bis acht Millionen Deutschen so geht. Sie sind Überlebende. | |
Für das, was ihnen von Erwachsenen angetan wurde, können sie nichts. | |
„Eigentlich hat der Staat eine Verantwortung für das Kindeswohl – auch | |
rückwirkend“, sagt Angelika Oetken am Telefon. „Leider wird das in der | |
Praxis aber nicht so gehandhabt.“ Die Berlinerin hat als Kind sexuelle | |
Gewalt in der Familie erfahren und berät jetzt ehrenamtlich Betroffene. In | |
der Clearingstelle des Fonds Sexueller Missbrauch hat Oetken bisher | |
ungefähr 550 Anträge gesichtet. Ihr Fazit: „Wer in Deutschland als Opfer | |
sexueller Gewalt zu seinem Recht kommen will, braucht leider gute Nerven | |
und viel Glück.“ | |
Hilfe und Unterstützung zu finden, das ist für Betroffene ein mühsamer und | |
oft langwieriger Prozess. Unklare Anlaufstellen, große bürokratische | |
Hürden, eine komplizierte Beweislage – wie soll man das schaffen, wenn es | |
einem nicht gut geht? | |
## Drei Wege zur Gerechtigkeit | |
Magnus Meier hat auf der Busfahrt nach Pielenhofen die Institutionen | |
aufgezählt, mit denen er in den letzten Jahren gekämpft hat. Das Bistum und | |
die Diözese Regensburg: gewonnen, sie zahlten. Das bayerische | |
Landesversorgungsamt, das Ansprüche auf Kassenleistungen prüft: verloren, | |
Meier zeigt einen Widerspruchsbescheid, das Ergebnis eines Monate währenden | |
Streits. Das Amt findet: Die Krankenkasse muss Meier keine Bäderkur an der | |
Ostsee bezahlen, eine ambulante Therapie „mit Verbleib im bisherigen | |
sozialen Umfeld“ sei ausreichend. „Was wissen die von meinem sozialen | |
Umfeld?“, fragt Meier. Die Kasse sei einfach zu geizig, deshalb einen | |
kranken Versicherten zu terrorisieren, das findet er schäbig. Jetzt will er | |
vor Gericht. Weiterkämpfen. | |
Menschen, die sexuell missbraucht wurden, stehen in Deutschland drei Wege | |
zur Gerechtigkeit offen. Die erste Möglichkeit: vor Gericht klagen, um eine | |
Strafe für den Täter und eine Entschädigungszahlung für sich selbst zu | |
erwirken. Doch die Hürden sind hoch, die Erfolgsaussichten zweifelhaft. | |
Weit zurückliegende Taten sind oft verjährt und schwer zu beweisen, die | |
Täter sind unter Umständen schon tot. Zudem kann die direkte Konfrontation | |
im Gerichtssaal belastend sein. Nur wenige tun sich das an. | |
Der zweite Weg ist, eine Zahlung durch die Institution einzufordern, in der | |
der Missbrauch stattgefunden hat. Die katholische und evangelische Kirche | |
und andere Organisationen haben dafür spezielle Fonds. Bei der Deutschen | |
Bischofskonferenz sind bislang 1.750 Anträge auf materielle Anerkennung | |
erlittenen Leids eingegangen und bearbeitet worden. Dass es solche | |
Zahlungen überhaupt gibt, ist vor allem Betroffenen zu verdanken, die | |
jahrelang gegen Vertuschung und Unwillen angekämpft haben. Initiativen wie | |
der „Eckige Tisch“ sorgten dafür, dass das Thema Entschädigung in der | |
Öffentlichkeit blieb und zwangen die Kirchen zur Kooperation. | |
Magnus Meier hatte es dann vergleichsweise leicht, als er 2011, mit | |
Unterstützung eines Anwalts, ein Formular ausfüllte, 2.500 Euro bekam und | |
später noch einmal 12.500 Euro, dazu ein Entschuldigungsschreiben des | |
amtierenden Bischofs. 15.000 Euro, das ist viel Geld, deutlich mehr als die | |
von der Deutschen Bischofskonferenz ausgegebene Empfehlung von 5.000 Euro | |
pro Opfer. Reicht es aus, um für die Tat und das daraus entstandene Leid zu | |
entschädigen? | |
„Um Entschädigung oder Schmerzensgeld im juristischen Sinne geht es hier | |
nicht“, sagt Angelika Oetken. „Das deutsche Recht sieht keine | |
institutionelle Haftung für Schäden vor, die durch Missbrauchskriminalität | |
entstanden sind.“ Deshalb verwendeten die verantwortlichen Organisationen | |
den Begriff nicht, und sprächen lieber von „Anerkennungszahlungen“. Doch | |
wer oder was soll hier anerkannt werden? Erkennt die katholische Kirche | |
ihre moralische Schuld am Leid an, das Kindern wie Magnus Meier zugefügt | |
wurde? Oder soll Meier sich von der Gesellschaft anerkannt fühlen in seinem | |
Leiden, wie ein Kriegsveteran? | |
## Wie lassen sich Übergriffe in der Kindheit beweisen? | |
Für Meier sind das Spitzfindigkeiten. Er will einfach so wenige Hürden wie | |
möglich in den Weg gelegt bekommen. Was das angeht, ist er zufrieden mit | |
der Kirche, die sich „ordentlich verhalten“ habe – wenigstens heute. | |
Die Betroffenenvertreterin Oetken findet, die Anerkennungszahlungen sind | |
ein „doppeltes Spiel zur Täuschung der Öffentlichkeit“. Durch Vermeidung | |
des Begriffs „Entschädigung“ entstünde der Eindruck, die freiwilligen | |
Zahlungen der Täterorganisationen seien alles, was den Opfern sexueller | |
Gewalt zustünde. Dabei haben sie sehr wohl das Recht auf „echte“ | |
Entschädigung – nach dem Opferentschädigungsgesetz. Die 1985 in Kraft | |
getretene Regelung bietet Menschen, die irgendeine Form von Gewalt erfahren | |
haben, Entschädigung. Für bleibende körperliche Einschränkungen, aber auch | |
für entgangene Chancen im Leben: Berufsabschlüsse, ein Leben ohne | |
Traumafolgen. | |
Allerdings stellt dieser dritte Weg für Betroffene eine riesige Hürde dar, | |
oft eine unüberwindbare. Wer einen Antrag stellt, muss seine Verletzungen | |
dokumentieren, Folgeschädigungen nachweisen und bestenfalls einen Zeugen | |
beibringen. Bei sexuellen Übergriffen, die in der Kindheit passiert sind, | |
ist der Beweis quasi unmöglich. | |
Koljar Wlazik hofft, dass er bald so weit ist, zu kämpfen. Seit vielen | |
Jahren ist der 50-Jährige vor allem mit Überleben beschäftigt. Als Junge | |
wurde Wlazik von seinem Lehrer an der staatlichen | |
Elly-Heuss-Knapp-Grundschule in Darmstadt missbraucht, genauso wie mehr als | |
hundert andere Schüler. Erst 2005, rund dreißig Jahre später, kam der Täter | |
vor Gericht. Davor ignorierten Eltern, Kollegen und die zuständigen | |
Schulbehörden immer wieder Hinweise auf serielle sexuelle Gewalt. | |
## Ein Artikel in der taz löste das Trauma aus | |
Andere Betroffene aus seiner Grundschule streiten seit Jahren mit Hilfe von | |
Anwälten und der Presse um Anerkennung, Geld und Informationen. Koljar | |
Wlazik wusste lange gar nicht, dass auch er missbraucht wurde. 2015 las er | |
einen [1][Artikel in der taz] und sah ein Foto vom Schlafzimmer des Täters. | |
Es löste das Trauma in ihm aus: Flashbacks, Panikattacken, Schlafstörungen, | |
Depression. Der Lkw-Fahrer und Familienvater war plötzlich nervlich am | |
Ende. | |
„Da denkst du, du stehst mitten im Leben. Und dann zack! – arbeitsunfähig | |
und arbeitslos.“ Wlazik streicht sich übers kurze Haar, haut dann mit der | |
Handfläche auf den hölzernen Küchentisch in seinem Reihenhaus in Kerpen, in | |
der Nähe von Köln. Draußen ist alles wohlgeordnet, drinnen sind die Möbel | |
bunt zusammengewürfelt. Neben Wlazik sitzt seine Frau Andrea, in ihrem Arm | |
eine Katze, auf dem Tisch Tee und Apfelkuchen. | |
Wlazik bekam von seinem Chef eine Abfindung, das Land Hessen zahlte ihm und | |
34 anderen Betroffenen je 10.000 Euro. Wlazik hat zwei Kinder und einen | |
Hauskredit abzuzahlen. Der Familie ging schnell das Geld aus, niemand half | |
im Ringen mit Versicherungen, Krankenkassen und Behörden. Auf dem Höhepunkt | |
seiner Verzweiflung drohte Koljar Wlazik einer Sachbearbeiterin, sich vor | |
dem Arbeitsamt anzuketten, weil es so lange dauerte, bis es zahlte. „Ich | |
fühlte mich wie aus dem Leben gekippt“, sagt er über diese Zeit. „Wir | |
hatten schon Kontakt zu unseren Freunden im Hambacher Forst aufgenommen, | |
die wissen, wie man sich professionell ankettet“, sagt Andrea Wlazik und | |
lacht kurz. | |
Ihren Mann beschreibt sie als harmoniebedürftigen, robusten Menschen – oder | |
zumindest sei er das früher gewesen. Das Trauma habe ihn verletzlich und | |
hilflos gemacht. „Betroffene kriegen zu wenig praktische Unterstützung“, | |
sagt sie. „Man speist sie mit Geld ab, aber lässt sie mit ihren Problemen | |
in der Luft hängen.“ Therapien beantragen, mit dem Chef kämpfen, das | |
Weiterleben managen? Die Wlaziks wussten nicht, an wen sie sich wenden | |
sollten. | |
## Will der Staat Opfer mit Bürokratie abwimmeln? | |
Vorerst können sie ihr Haus behalten. Koljar Wlazik macht eine Umschulung | |
zum Schreiner, in einer Einrichtung für psychisch Kranke. Bald, wenn er | |
wieder in einer Traumaklinik ist, kann ihm eine Sozialarbeiterin vielleicht | |
dabei helfen, den Antrag auf Opferentschädigung zu stellen. Einmal hat er | |
das schon versucht und bei der örtlichen Filiale des Weißen Rings um Hilfe | |
gebeten, ein Verein, der Gewaltopfern hilft. Nachdem niemand zurückgerufen | |
hatte, fehlte Wlazik die Kraft für einen weiteren Anlauf. | |
Eine Ausgleichszahlung für den Lohn, der ihm entgangen ist, stehe ihm zu, | |
sagt er. Letztlich sei der Staat schuld, dass Wlazik in dieser Situation | |
sei: Hätten die Schul- und Strafverfolgungsbehörden jenen pädophilen Lehrer | |
nicht jahrzehntelang unbehelligt gelassen – „dann wäre mir das nicht | |
passiert und ich könnte jetzt ein normales Leben führen“. | |
Entgangenen Lebenschancen nachtrauern – manchmal erlaubt sich Wlazik das. | |
Aber eigentlich will er sich nicht von negativen Gefühlen leiten lassen. | |
„Ich habe entschieden, mich dem Hass nicht hinzugeben“, sagt er. „Aber | |
dieser Antrag, ich glaube, das wird ein ziemlicher Kampf.“ | |
Da ist es wieder, das Wort Kampf, das auch Magnus Meier so oft benutzt. | |
Warum müssen Menschen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden, eigentlich | |
so viel kämpfen? Wo es doch inzwischen genug Informationen über die | |
Mechanismen sexueller Gewalt, ihr Vorkommen, ihre Folgen gibt? Warum | |
versucht der Staat, diese Menschen mit Bürokratie abzuwehren und behandelt | |
sie nicht wie Bürger mit legitimen Ansprüchen? | |
## „Das Opferentschädigungsgesetz ist eine Zumutung“ | |
Johannes-Wilhelm Rörig ist seit 2011 so etwas wie der oberste | |
Interessenvertreter der Betroffenen. Der „Unabhängige Beauftragte für | |
Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“, so sein etwas sperriger Titel, hat | |
sein Büro unweit des Berliner Hauptbahnhofs. Das nüchterne Arbeitszimmer, | |
aufgelockert durch gelbes Mobiliar, passt zu diesem Mann, der am | |
Schreibtisch sitzend die Korrektheit eines Beamten ausstrahlt, aber auch | |
etwas Warmes, Verbindliches. | |
Eingerichtet wurde das Amt des Unabhängigen Beauftragten 2010, als die | |
vielen Fälle von Kindesmissbrauch in kirchlichen Einrichtungen, | |
Landschulheimen wie der Odenwaldschule und Kinderheimen bekannt wurden. | |
Rörig kennt die Bedürfnisse der Opfer gut. Er sagt: „Für diese Menschen ist | |
unser bestehendes Hilfesystem überhaupt nicht geeignet. Besonders das | |
Opferentschädigungsgesetz ist eine Zumutung.“ Das größte Problem sei es, | |
eine Kausalität zwischen dem Erlebten und dem heutigen Gesundheitszustand | |
nachzuweisen. | |
Wie soll man auch beweisen, dass die Depression oder der Alkoholismus | |
Folgeerscheinungen von genau diesen Kindheitserlebnissen sind? 60 Prozent | |
aller Antragsteller, schätzt Rörig, schaffen das nicht. Die übrigen müssen | |
peinliche Befragungen durch Amtsärzte erdulden, die oft unerfahren sind im | |
Umgang mit Opfern sexueller Gewalt. Es drohe eine Retraumatisierung: Dass | |
ihnen die Übergriffe nicht geglaubt werden, ist eine erneute | |
Ohnmachtserfahrung. | |
Rörig kämpft dafür, dass die Prüfer in den Versorgungsämtern entsprechend | |
geschult werden und die Nachweispflicht gelockert wird. Außerdem müssten | |
die Verfahren beschleunigt werden, weil sie labile Menschen sonst an den | |
Rand der Verzweiflung trieben.Politische Unterstützung hat Rörig bislang | |
wenig bekommen – trotz vieler Bekenntnisse von Union und SPD. „Es gab in | |
den letzten vier Jahren einen regelrechten Unwillen in der Großen | |
Koalition, irgendwas zu ändern“, sagt er. Unter Andrea Nahles als | |
Sozialministerin sei das Thema zum „Ladenhüter“ verkommen. Es wurde immer | |
wieder betont, wie wichtig eine Reform des Opferentschädigungsgesetzes sei, | |
wichtig genug, um sie auch durchzuziehen, war sie offenbar nicht. Rörig | |
setzt nun Hoffnungen in die kommende Regierung: „Wer auch immer | |
Arbeitsminister wird, hat mich sofort an der Backe. Und ich bin | |
hartnäckig!“ | |
## „Wir sollen das Geld nehmen und die Schnauze halten“ | |
Auch Magnus Meier ist hartnäckig. Er hat es vor vier Jahren geschafft, den | |
Antrag auf Opferentschädigung auszufüllen. Der nächste Schritt war eine | |
ärztliche Untersuchung: Fünf Stunden lang hat ihn ein Amtsarzt in einem | |
abgedunkelten Raum geprüft und bis ins letzte Detail befragt. Völlig | |
unempathisch sei der Arzt gewesen, sagt Meier, und habe erst von ihm | |
abgelassen, als Meier weinend zusammenbrach. Der Arzt bescheinigte Meier | |
einen Schädigungsgrad von 50 Prozent, genug für einen | |
Schwerbehindertenausweis und einen Berufsschadensausgleich von 800 Euro im | |
Monat, zusätzlich zur Grundrente von 255 Euro. Also Schlacht gewonnen? | |
Meier ist nicht zufrieden, er will mehr. Man hat ihn als gelernten | |
Elektriker eingestuft, weil er in dem Beruf zuletzt gearbeitet hatte, dabei | |
hätte er vielleicht studiert – wären da nicht die gesundheitlichen Folgen | |
der Misshandlung. Jetzt will er klagen, um höher eingestuft zu werden. Sein | |
Anwalt aber sei zögerlich, sagt Meier und vermutet: „Der ist müde | |
geworden.“ | |
„Viele Opfer sind anfangs erstaunlich geduldig“, sagt die | |
Betroffenenvertreterin Angelika Oetken. Aber nach langwierigen | |
Verhandlungen mit Behörden fühlten sie sich ins Unrecht gesetzt. Dieses | |
Gefühl verfestige sich irgendwann zu einer Grundeinstellung – und die | |
Betroffenen verstrickten sich in aussichtslosen Kleinkriegen. „Manche | |
stehen sich selbst im Weg.“ Betroffene brauchen natürlich Geld, sagt | |
Angelika Oetken. „Es ist Heuchelei, wenn immer so getan wird, als käme es | |
nicht aufs Geld an. Viele brauchen das zum Überleben.“ Aber mindestens | |
genauso wichtig sei ein einfaches menschliches Signal: „Dir geht es nicht | |
gut, wir sehen das und helfen dir.“ Das fehle in unserer Gesellschaft. | |
Koljar Wlazik drückt es so aus: „Dass meine Existenz gesichert ist, das ist | |
das Mindeste. Aber ich will auch, dass die Scheiße, die mir passiert ist, | |
nicht ganz umsonst passiert ist. Dass die Gesellschaft etwas lernt daraus.“ | |
Wlazik und andere missbrauchte Schüler der Elly-Heuss-Knapp-Grundschule in | |
Darmstadt wollen, dass ihre Geschichte auf der Homepage der Schule | |
öffentlich gemacht wird. Sie wollen die Schulräume zur Traumabewältigung | |
nachmittags betreten dürfen. Und sie wollen mit Behörden, Lehrern und | |
Schülern von heute reden. Darüber, wie man Schule gestalten kann, dass sie | |
Kindern Schutz bietet. | |
„Überall wimmelt man uns ab, wir sollen das Geld nehmen und die Schnauze | |
halten“, sagt Koljar Wlazik und klingt genauso bitter wie Magnus Meier, der | |
sagt: „Die Gesellschaft will von unserem Leiden möglichst wenig hören – u… | |
schon gar nichts lernen. Man tut lieber, als könnte so etwas heutzutage | |
nicht mehr passieren.“ | |
10 Jan 2018 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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